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DISKUSSION

Ansgar Beckermann:
Philosophie des Geistes: Es gibt kein Ich, es gibt nur mich

aus Heft 1/2012

„In der klassischen antiken und mittelalterlichen Philosophie ist der philosophische Begriff des Ich kaum vorhanden […].“ (HWPh, Bd. 4, 1) Mit dieser ebenso lapidaren wie zutreffenden Bemerkung beginnt der Artikel „Ich, Abschn. I“ von H. Herring im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Erst in der Neuzeit beginnt die Rede von dem Ich und dem Selbst erst zögernd, dann aber rasant um sich zu greifen. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass auf diese Weise dem eher unschuldigen Personalpronomen ,ich‘ und der ebenso unschuldigen Partikel ,selbst‘ erhebliche Gewalt angetan wird. Was ist der Grund für diese Entwicklung? Herring deutet an, dass die für Menschen charakteristische Fähigkeit der reflexiven Selbsterkenntnis, des Selbstbewusstseins eine entscheidende Rolle gespielt hat. Besonders deutlich wird das bei Locke, der den Ausdruck ,Selbst‘ so einführt:

Self is that conscious thinking thing, (whatever Substance made up of whether Spiritual or Material, Simple or Compounded, it matters not), which is sensible, or conscious of Pleasure and Pain, capable of Happiness or Misery, and so is concernd for it self, as far as that consciousness extends (Locke, Essay, II, xxvii, §17).

Für Locke ist ein Selbst also einfach ein bewusstes denkendes Wesen, das Lust und Schmerz fühlen sowie glücklich und unglücklich sein kann und das sich deshalb um sich selbst sorgt. Ein Selbst oder Ich scheint somit ein Wesen zu sein, das zu reflexiver Erkenntnis und Selbstbewusstsein fähig ist und das sich deshalb über sich selbst Gedanken machen kann – Gedanken, die es sprachlich unter Verwendung des Wortes ,ich‘ ausdrückt. So ähnlich sieht es auch E. J. Lowe, der im Oxford Companion to Philosophy, 1995, schreibt:
self The term ‘self’ is often used interchangeably with ‘person’, though usually with more emphasis on the ‘inner’, or psychological, dimension of personality than on outward bodily form. Thus a self is conceived to be a subject of consciousness, a being capable of thought and experience and able to engage in deliberative action. More crucially, a self must have a capacity for self-consciousness, which partly explains the aptness of the term ‘self’. Thus a self is a being that is able to entertain first-person thoughts (816f.)

Locke lässt bewusst offen, ob es sich bei einem Selbst um ein geistiges oder ein körperliches Wesen handelt. Und auch Lowe äußert sich in dem zitierten Artikel nicht zu dieser Frage. Von sehr vielen wird die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis aber allein der Seele zugesprochen. Leibniz spricht sie sogar nur den Seelen vernünftiger Lebewesen zu, den von ihm so genannten ,Geistern‘:

[M]ais ceux [animaux], qui connoissent ces verités necessaires, sont proprement ceux qu’on appelle Animaux Raisonnables, et leurs ames sont appellées Esprits. Ces Ames sont capables de faire des Actes reflexifs, et de considerer ce qu’on appelle Moy, Substance, Ame, Esprit […]. (Principes de la nature et de la grâce, in : Monadologie und andere metaphysische Schriften, Meiner 2002, 158)

So ist es kein Wunder, dass es neben der Auffassung von Locke und Rowe auch noch einen engeren Begriff von Ich und Selbst gibt, der inzwischen vielleicht sogar der Mehrheitsmeinung entspricht. R. W. Henke etwa charakterisiert den Begriff des Selbst im Handwörterbuch Philosophie, 2003:

Selbst Bezeichnung für den innersten Wesenskern der Persönlichkeit (→Ich), der auf der Möglichkeit, sich seiner selbst bewusst zu werden [...], beruht. Insofern kennzeichnet der Begriff in religiöser Hinsicht auch den wahren, alle wechselnden Lebenserscheinungen überdauernden Kern des Menschen – als atman oder →Seele. (609f.)


Entsprechend schreibt Thomas Blume in demselben Lexikon zum Begriff des Ich:

Ich [...] An der Auffassung einer allen Bewusstseinszuständen zugrunde liegenden Seelensubstanz, welche mit dem Ich identifiziert wird, entzündet sich die Kritik →Humes. (394)

Blume und Henke zufolge bezeichnen ,Ich‘ und ,Selbst‘ also nicht einfach zur Selbsterkenntnis fähige Wesen, sondern den seelischen Wesenskern solcher Wesen, wobei offenbar wie bei Leibniz vorausgesetzt wird, dass es dieser Wesenskern ist, der ein reflexives sich auf sich selbst Beziehen überhaupt erst möglich macht.

Dass sich in der Neuzeit die Rede von dem Ich und dem Selbst erstaunlich schnell verbreitet, bedeutete zunächst einmal einen erheblichen Eingriff in die bestehenden Umgangssprachen. Das Personalpronomen ,ich‘ hatte und hat eine klare und eingespielte Rolle im Deutschen (ebenso wie die entsprechenden Ausdrücke ,ego‘, ,I‘, ,je‘ bzw. ,moi‘ im Lateinischen, Englischen und Französischen); dasselbe gilt für die Partikel ,selbst‘, die zwar nur ein synkategorematischer Ausdruck ist, aber als Fokuspartikel, Pronomen und Adverb ebenfalls klar umrissene semantische Funktionen besitzt (vgl. Beckermann 2008, 61). Das Wort ,ich‘ ist als Personalpronomen (a) ein singulärer Ausdruck, der sich auf Einzelgegenstände (Personen) bezieht; es ist (b) ein indexikalischer Ausdruck, dessen Bezug sich je nach Äußerungskontext ändert, und es bezieht sich (c) immer auf den, der diesen Ausdruck äußert bzw. einen entsprechenden Gedanken fasst. Mit der Rede von dem Ich und dem Selbst bekommen die Ausdrücke ,ich‘ und ,selbst‘ jedoch eine neue Bedeutung – und das heißt auch: Sie werden mehrdeutig. Wenn man beginnt, ,ich‘ und ,selbst‘ mit bestimmten und unbestimmten Artikeln sowie mit Demonstrativ- und Possessivpronomina zu verbinden, heißt das, dass man sie als Artbegriffe verwendet – wie ,Hund‘, ,Haus‘ oder ,Buch‘. Erst dadurch werden Sätze möglich wie „Welche Wesen haben ein Selbst?“, „Jeder Mensch hat ein Ich“, „Können Computer ein Ich ausbilden?“ usw. Und genau so hatte Locke ja ‚self‘ auch eingeführt als einen Ausdruck, der eine bestimmte Art von Wesen bezeichnet.

Nun könnte man – gegen orthodoxe Vertreter der ordinary language Philosophie – ins Feld führen, dass Veränderungen und Weiterentwicklungen der Sprache natürlich nicht verboten sind. Aber so einfach ist die Sache nicht. Erstens: Es geht hier nicht um eine der üblichen Weiterentwicklungen der Umgangssprache, wie wir sie auch heute tagtäglich beobachten können. Diese werden in aller Regel von den normalen Sprechern vorangetrieben. (Man denke an ,simsen‘ oder ,abhängen‘.) Bei der Rede von dem Ich und dem Selbst handelt es sich dagegen um die Einführung einer neuen philosophischen Fachterminologie, die allerdings zugegebenermaßen sehr schnell in die Umgangssprache übernommen wurde. Bei einer solchen fachterminologischen Neuerung kann man aber sehr wohl nach ihrer Berechtigung fragen. Welche Funktion haben die neuen Ausdrücke? Gibt es Probleme oder Sachverhalte, die sich einzig – oder wenigstens deutlich besser – mit Hilfe der neuen Termini darstellen oder analysieren lassen?

Hier muss man, denke ich, erhebliche Zweifel haben. Warum reichen die Begriffe ,Person‘ und eventuell auch ,Seele‘ nicht aus? Warum redet man nicht einfach wie bisher von Wesen mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis oder mit der Fähigkeit, Überzeugungen über sich selbst, die eigenen Gedanken und Gefühle zu haben? Das Fehlen einer befriedigenden Antwort auf diese Fragen wiegt umso schwerer, als, zweitens, allgemein gilt: Es ist immer äußerst riskant, schon vorhandene Wörter mit einer eingespielten Grammatik und Semantik zusätzlich mit einer neuen Grammatik und Semantik zu versehen. Unklarheiten und Missverständnisse sind geradezu vorprogrammiert. Wenn Descartes schreibt „Sum res cogitans“, was bedeutet dieser Satz? Ich (Descartes) bin ein denkendes Ding; oder: Mein Ich (meine Seele) ist ein denkendes Ding? Wenn George Berkeley schreibt, „What I am myself – that which I denote by the term I – is the same with what is meant by soul or spiritual substance“ (Principles, sec. 139), bedeutet das: Wenn George Berkeley sagt „Ich bin George Berkeley“, bezeichnet das Wort ,ich‘ in dieser Äußerung eine Seele bzw. eine geistige Substanz? Oder: Das, was ich mit dem Wort ,ich‘ bezeichne, nämlich meine Seele, ist eine geistige Substanz? Wenn jemand sagt „Es gibt kein Ich“, was will er damit ausdrücken? Es gibt keine Wesen, die zu Gedanken über sich selbst fähig sind; oder: Menschen haben keinen immateriellen Wesenskern; oder: Es gibt mich nicht?

Besonders kritisch wird die Situation, wenn die Wörter ,ich‘ und ,selbst‘ in einem Satz sowohl in der alten als auch in der neuen Bedeutung vorkommen. Lockes Definition ist ein schönes Beispiel dafür. Denn dort heißt es gegen Ende ja „is concern’d for it self“ und nicht „is concern’d for its self“ (was auch ganz unsinnig wäre). Auch „Das Ich ist eine Illusion, die ich jederzeit selbst hervorrufe“ gehört in diese Reihe. Und wie ist es schließlich mit dem Satz „Ich bin niemand“? Soll das wirklich heißen, dass ich nicht existiere, oder dass ich mich mit dem Wort ,ich‘ nicht auf mich beziehen kann, oder dass ich keine auf mich selbst bezogenen Gedanken haben kann, oder nur, dass ich keinen immateriellen Wesenskern besitze? Mit einem Wort: Wenn wir zusätzlich zu der herkömmlichen Verwendung der Wörter ,ich‘ und ,selbst‘ die Rede von dem Ich und dem Selbst einführen, handeln wir uns eine Unmenge selbst gemachter Probleme ein, die allesamt durch einen Verzicht auf das groß geschriebene ,Ich‘ und das groß geschriebene ,Selbst‘ vermieden werden könnten. Die Rede von dem Ich und dem Selbst hat keinen erkennbaren Nutzen; sie schafft nur Probleme, die wir ohne sie nicht hätten. Geben wir dem Wort ‚ich‘ seine ursprüngliche Bedeutung als Personalpronomen zurück. Dann wird auch niemand mehr auf die Idee kommen, so offensichtlich unsinnige Aussagen wie „Es gibt mich nicht“ oder „Ich bin niemand“ in die Welt zu setzen (vgl. Beckermann 2008, Abs. 2.5).

Hinzu kommt, dass sich manche philosophischen Probleme nur angemessen verstehen lassen, wenn man sich über die Bedeutung von ‚ich‘ im Klaren ist. In den freiheitsskeptischen Überlegungen mancher Naturwissenschaftler gibt es den immer wiederkehrenden Topos: Nicht ich entscheide, mein Gehirn entscheidet. Diese These setzt offenbar voraus, dass es eine Konkurrenz zwischen mir und meinem Gehirn gibt: Was ich entscheide, wird nicht von meinem Gehirn entschieden, und was von meinem Gehirn entschieden wird, wird nicht von mir entschieden. Diese Konkurrenzannahme ist ihrerseits aber nur verständlich, wenn man annimmt, ‚ich‘ bezöge sich auf einen immateriellen Wesenskern. Wenn man dagegen richtiger Weise davon ausgeht, dass sich ‚ich‘ auf mich bezieht – auf Ansgar Beckermann, das Lebewesen, das ich tatsächlich bin –, dann wirkt die Konkurrenzannahme völlig unbegründet. Denn was spricht gegen die Annahme, dass ich mit Hilfe meines Gehirns entscheide – so wie ich mit Hilfe meiner Augen sehe, mit Hilfe meiner Lunge atme und mit Hilfe meiner Beine gehe?

Texte von Ansgar Beckermann zum Thema:

(2008): Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften und Menschenbild.
Paderborn: mentis
(2009) „Es gibt kein Ich, doch es gibt mich.“ In: M. Fürst, W. Gombocz und C. Hiebaum (Hg.) Gehirne und Personen. Frankfurt/M.: ontos Verlag, 1-17
((2011): „Die Rede von dem Ich und dem Selbst. Sprachwidrig und philosophisch höchst problematisch (Version 2)“.
http://phillister.ub.uni-bielefeld.de/publication/121


Kritik

Michael-Thomas Liske:

Im Griechischen kann man den Artikel Neutrum ‚to‘ (‚das‘) mit jedem Wort (ja sogar Satzteil) verbinden, wenn es darum geht, dieses Wort nicht bloß in einem Satzzusammenhang zu gebrauchen (to use), sondern wenn die Aufmerksamkeit darauf gerichtet und es eigens zum Gegenstand der Erörterung gemacht werden soll (to mention). Das aber ist gerade beim Personalpronomen ‚ich‘ erforderlich. Denn es ist keineswegs eindeutig, worauf ich mich mit ‚ich‘ beziehe, wenn ich es etwa als Subjekt einer mentalen Bestimmung gebrauche wie in ‚ich zweifle‘. Referiere ich auf eine geistige Substanz als den Kern, den ich mit ‚ich‘ eigentlich meine? Oder geht es um eine geistbegabte Person, d. h. ein grundständig körperliches Lebewesen, das zu irreduzibel mentalen Tätigkeiten disponiert ist (animal rationale). Oder spreche ich über einen Körper, der so komplex organisiert ist, dass gewisse seiner Funktionen angemessen in einer mentalen Sprache zu beschreiben sind? Mag die Rede von dem Ich oder dem Selbst auch häufig zu Missverständnissen führen, so kann man den bestimmten Artikel vor ‚ich‘ nicht bloß (wie am Griechischen aufgewiesen) unverfänglich verstehen, sondern angesichts der gerade dargestellten Situation ist durchaus sinnvoll zu fragen: Was ist das Ich? d. h. Worauf beziehe ich mich eigentlich, wenn ich ‚ich‘ sage?



Jürgen Stolzenberg:
Wenn es mich gibt, dann gibt es auch das Ich.
Auf Ansgar Beckermanns Plädoyer, auf die Rede von dem Ich zu verzichten, ist mit Fichte und Robert Nozick zu antworten. Beide haben darauf aufmerksam gemacht, dass eine Person nur dann weiß, dass sich der Ausdruck ‚ich‘ auf sie selbst bezieht, wenn sie weiß, dass sie selbst diesen Ausdruck erzeugt hat. Über dieses Wissen verfügt eine Person aber nicht allein kraft der Verwendungsregel des Ausdrucks ‚ich‘. Diese Regel besagt nur, dass der Ausdruck ‚ich‘ sich auf denjenigen Sprecher bezieht, der den Ausdruck verwendet. Dass ich selbst derjenige Sprecher bin, der den Ausdruck ‚ich‘ verwendet, ist damit nicht gesagt. Anders gesagt: Die Verwendungsregel des Ausdrucks ‚ich‘ stellt mir nicht das Wissen zur Verfügung, dass ich selbst es bin, der den Ausdruck ‚ich‘ verwendet. Dieses Wissen ist vielmehr bei der Verwendung des Ausdrucks ‚ich‘ vorausgesetzt. Die Rede von dem Ich lässt sich daher mit Fichte und Nozick mit dem Argument begründen und gegen ihre Liquidation verteidigen, dass sie sich auf das ausgezeichnete selbstreflexive Wissen einer Person bezieht, dass sie selbst die/derjenige ist, die/der den Ausdruck ‚ich‘ verwendet. Die Rede von dem Ich drückt den Sachverhalt aus, dass es dieses selbstreflexive Wissen gibt und dass es in der Verwendungsregel des Ausdrucks ‚ich‘ allein nicht enthalten ist. Wenn Ansgar Beckermann von sich selbst sagt: ‚Es gibt mich‘, und dies auch weiß, dann gibt es auch für ihn das Ich.

Uwe Meixner:
Die von Ansgar Beckermann geforderte Tilgung von ‚(das) Ich‘ würde nichts leisten. So lassen sich die von ihm angegriffenen Propositionen: dass ich im Wesenskern immateriell bin, bzw. dass ich niemand bin, bzw. dass es mich nicht gibt, ohne ‚Ich‘ genauso gut (oder schlecht) verteidigen wie mit. Gleiches gilt von Beckermanns Proposition, dass es kein Ich gibt, aber ihn. Denn im Wortsinn verstanden ist das dieselbe Proposition wie die Proposition, dass es keine Person gibt, aber ihn – weil notwendig jede Person ein Ich ist, und jedes Ich eine Person. Der kleine, nicht nutzlose, semantische Unterschied ist nur, dass das Wort ‚Ich‘ den für Person zentralen Aspekt stärker betont als das Wort ‚Person‘ selbst. Wegen der Äquivalenz von ‚Ich‘ und ‚Person‘ spricht nichts dagegen, dass Beckermann und jedes andere menschliche Ich mithilfe seines Gehirns entscheidet – weil alles dafür spricht, dass jede menschliche Person das so macht. Die eigentliche Frage ist, ob menschliche Iche/Personen Körper sind bzw. sein müssen. Wenn die philosophische Sprache nicht nur sauber wäre, sondern für Beckermanns Bedürfnisse rein, wäre doch in dieser Frage noch nichts gewonnen.

Gianfranco Soldati:
„Die Rede von dem Ich und dem Selbst“, meint Beckermann, „schafft nur Probleme, die wir ohne sie nicht hätten“. Die in Frage gestellte Redeweise ist ungeschickt und vermutlich überflüssig. Sie steht da um uns auf ein Problem aufmerksam zu machen. Haben wir das Problem erkannt, so können wir auf die Rede von dem Ich getrost verzichten. Das Problem entsteht jedoch nicht erst durch die Redewendung; letztere ist eher eine ungeschickte Reaktion auf das Problem. Das Ausgangsproblem ist nicht ontologisch – was für ein Ding ist das Selbst? – sondern epistemisch: was heißt es zu wissen, dass ich so und so bin? Freilich: wenn ich Hans bin und Hans blond ist, dann ist die Frage nicht: was heißt es zu wissen, dass Hans blond ist, sondern: was heißt es zu wissen, dass ich (der blonde) Hans bin? Es heißt zu wissen, möchte man sagen, dass ich mit Hans identisch bin. In der Welt gibt es Hans, Suzanne und Obama; es gibt etwas blondes, etwas großes, etwas lebendiges, etwas, das denkt und fühlt, usw. Mit welchen dieser Entitäten bin ich identisch? Mit einigen bin ich identisch, mit anderen bist Du identisch. Wenn Du mit Obama identisch bist, dann würdest Du sagen ‚Ich bin Obama.‘ Dann gibt es also Hans und Obama, zwei Menschen, der eine bin ich, der andere bist Du. Wenn Du Dich meinst, dann sagst Du auch ‚ich‘, also gibt es Dein Ich, dein Selbst, und mein Ich, mein Selbst. Wir sind wohl da gelandet, wo Beckermann uns nicht haben wollte. Haben wir einen Fehler auf dem Weg dahin gemacht, so kaum durch Eingriff in die Umgangssprache. Das Missgeschick muss vorher geschehen sein. Zum Beispiel in der Idee, dass Selbstwissen auf Gründe ruht, die eine Identifikation meiner selbst mit einem Objekt in der Welt stützen. Die Umgangssprache, nicht ihr Missbrauch, verleitet uns allerdings zu dieser Annahme.

Replik von Ansgar Beckermann

In Kapitel XII seines Klassikers Die Entdeckung des Geistes (Göttingen 1975) hat Bruno Snell die These vertreten, die Tatsache, dass man im Griechischen den Artikel ‚to‘ vor fast jeden anderen sprachlichen Ausdruck setzen und damit Ausdrücke wie ‚to psychron‘ (das Kalte), ‚to ison‘ (das Gleiche) oder ‚to kalon‘ (das Schöne) bilden kann, sei eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens in Griechenland gewesen. Ich dagegen glaube, dass eben diese Tatsache das griechische Denken in die Irre geführt hat. Denn sie verleitet zu der Annahme, überall seien irgendwelche Wesenheiten zu entdecken – das Wesen des Gleichen, des Schönen, des Guten etc. Wenn man sich an die entsprechenden Adjektive und Verben gehalten hätte, wären der Philosophie und der Wissenschaft viele Sackgassen erspart geblieben. Auch heute noch haben Substantive wie ‚die Vernunft‘, ‚das Sein‘ und ‚das Bewusstsein‘ einen teilweise verheerenden Einfluss. Nichts spricht natürlich dagegen, über die jeweiligen Adjektive, Verben und Pronomina zu reden – die Wörter ‚gut‘, ‚vernünftig‘, ‚sein‘ oder ‚ich‘. Aber die genannte Eigenheit des Griechischen vernebelt den Unterschied zwischen Wort und Bedeutung eher, als dass sie ihn betont.

Ich plädiere also nach wir vor dafür, auf den Gebrauch von ‚das Ich‘ zu verzichten und es bei dem Personalpronomen ‚ich‘ zu belassen. Dadurch wird keine der Fragen, die meine Kommentatoren für wichtig halten, abgeschnitten. Aber warum sollte ich die Frage, auf was für ein Wesen ich mich unter Verwendung des Worts ‚ich‘ beziehe (was also ich für ein Wesen bin), so ausdrücken: Was ist das Ich? (Liske) Auch Stolzenberg und Soldati können, was sie sagen wollen, allein unter Verwendung des Personalpronomens ‚ich‘ ausdrücken; die dann auch noch vorkommende Rede von ‚dem Ich‘ scheint aufgepfropft und überflüssig. Auf jeden Fall trägt sie zur Klärung der Fragen nichts bei. Ich habe überhaupt nichts gegen Begriffe wie ‚Person‘ und gegen die Frage „Was sind Personen?“. Ich habe nicht einmal etwas gegen den Begriff ‚Seele‘. Aber auch Meixner sollte spüren, wie sprachwidrig es im Deutschen ist, von ‚Ichen‘ (oder gar ‚Selbsten‘) zu reden. Und was vielleicht entscheidend ist: Ich möchte, dass es endlich aufhört, dass man mit Titeln wie „Es gibt kein Ich“ oder „Ich bin niemand“ viel Geld verdienen kann.

UNSERE AUTOREN:

Ansgar Beckermann ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Bielefeld, Michael-Thomas Liske, Jürgen Stolzenberg, Uwe Meixner und Gianfranco Soldati sind Professoren für Philosophie an den Universitäten Passau, Halle, Regensburg und Fribourg.