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Geisteswissenschaften: Michael Pauen kritisiert die Geisteswissenschaften

Michael Pauen kritisiert die Geisteswis-senschaften

Die gegenwärtige Krise der Geisteswissen-schaften hat nichts damit zu tun, dass ihrer Forschung Substanz und Sinn fehle Es sind die Geisteswissenschaften selber, die sich in die prekäre Situation manövriert haben, in der sich sie befinden Diese These verteidigt Michael Pauen in seinem Aufsatz

Pauen, Michael: Gott schütze mich vor meinen Freunden oder: Der größte Feind der Geisteswissenschaften sind die Geistes-wissenschaften selbst, in: Heidbrink, L / Welzer, H (Hrsg): Das Ende der Beschei-denheit Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften, 12 S, kt, € 1190, 2007, beck’sche reihe 1747, CH Beck, München

Im 19 Jahrhundert hatten die Naturwissen-schaften vor allem in Deutschland beeindru-ckende Erfolge erzielt Es sah so aus, als lie-ßen sich deren Methoden auch auf die tradi-tionellen geisteswissenschaftlichen Themen anwenden Pauen nennt verschiedene derar-tige Versuche: Taines Milieutheorie, Fech-ners Versuch einer experimentellen Ästhetik oder Lipps’ Idee, die Logik sei eine psycho-logische Disziplin Solche Versuche diskre-ditierten sich oft selbst Die experimentelle Ästhetik etwa förderte so bahnbrechende Er-kenntnisse zutage wie die, dass Reime für den Abschluss von Versen bedeutsam sind oder komische Darstellungen bei wiederhol-ter Präsentation ihren Effekt verlieren We-nige Jahrzehnte später schwang das Pendel deshalb zurück, und es bildete sich ein Be-wusstsein für die Eigenständigkeit geistes-wissenschaftlicher Methoden Insgesamt, so Pauen, haben sich diese als erfolgreich er-wiesen, und zu Beginn des 20 Jahrhunderts war eine weitgehende Anerkennung von Me-thode und Sprache dieser Wissenschaften er-reicht

Diese Anerkennung hatte ihre Schattensei-ten, begünstigte sie doch längerfristig eine Tendenz zur gegenseitigen Abschottung von Geistes- und Naturwissenschaften Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Kultur- und Wissenschaftskritik des späten 19 und 20 Jahrhunderts, die einen ersten Höhepunkt in Nietzsches Geburt der Tragödie erreichte und sich dann in der konservativen Kultur-kritik, bei Heidegger und in der Kritischen Theorie fortsetzte Häufig ist dabei die Ten-denz zu beobachten, die Rationalität der Na-turwissenschaften in Frage zu stellen Als Beispiele nennt Pauen Heideggers Behaup-tung, die Wissenschaft denke nicht oder Adornos Protest gegen die „instrumentelle Rationalität“, der sich bis zur Kritik am Satz vom Widerspruch versteigt

Pauen zufolge sind die Gräben, die damit aufgerissen wurden, bis heute erhalten ge¬blieben und dies wohl auch deshalb, weil sich damit ganz gut leben ließ: wurde einem doch damit die Auseinandersetzung mit Er-kenntnissen und Methoden der jeweils ande-ren Seite erspart Diese Parzellierung setzte sich auch in den Geisteswissenschaften fort Deutliches Zeichen hierfür ist die Vielzahl unterschiedlicher Jargons: die Adorno-, Ben-jamin-, Heidegger- oder Foucault-Philologie liefert hierfür Belege in Fülle Diese Privat-sprachen hielten die breite interessierte Öf-fentlichkeit auf Distanz

Pauen hält es vor diesem Hintergrund für er-staunlich, dass die Geisteswissenschaften bis weit in die siebziger Jahre des 20 Jahrhun-derts hinein eine wichtige Rolle in der öf-
fentlichen Auseinandersetzung bewahren konnten Doch der idiosynkratische Jargon, die Auseinandersetzung verfeindeter Schulen und schließlich die Distanz zu empirischen Wissenschaften trugen dazu bei, dass dieser Kredit nach und nach verspielt wurde Gleichzeitig wurden Fragen nach Bedeutung oder Funktion der Geisteswissenschaften lange Zeit nicht ernst genommen Wenn sie nicht generell als Sakrileg galten, dann wur-de mit einfallslosen Allgemeinplätzen ge-antwortet wie etwa mit der Berufung auf das besondere Reflexionspotential der Geistes-wissenschaften – Pauen erinnert an die For-mel von der „Inkompetenzkompensations-kompetenz“ der Philosophie und hält es für schwer vorstellbar, dass dies etwa bei den Naturwissenschaftlern den Eindruck erwe-cken konnte, dass es in den Geisteswissen-schaften wirklich etwas zu erfahren gebe, nach dem zu fragen sich lohnen könnte

Worin besteht denn nun die Bedeutung der Geisteswissenschaften? Pauen greift dazu auf das Beispiel der gegenwärtigen Debatte über die Konsequenzen der Hirnforschung zurück, an der er beteiligt ist Initiiert wurde sie von Neurowissenschaftlern Diese erweckten den Eindruck, dass Probleme, die bislang in end-losen geisteswissenschaftlichen Debatten zerredet wurden, sich nunmehr mit neuro-wissenschaftlichen Methoden endgültig lö-sen ließen Das stellte sich jedoch als Illusion heraus, und es zeigte sich, dass die Verstän-digung über unser Menschenbild eine gei¬steswissenschaftliche, vor allem aber eine philosophische Sprache braucht Aber auch die Frage nach den ethischen Konsequenzen, die sich aus den Anwendungen naturwissen-schaftlicher Forschungsergebnisse ergeben, ist eine geisteswissenschaftliche Frage