UNTERRICHT
Werner Busch: | |
aus Heft 5/2012, S. 64-69 Curriculare Entscheidungen zwischen nationaler Selbstbestimmung und internationalen Einflüssen Kultur- und Bildungshoheit scheint ein kostbares Gut zu sein, verteidigen die einzelnen Staaten ihre diesbezügliche Souveränität gegen eine Einschränkung durch die Gesetzgebung der Europäischen Union (EU). Allerdings kann man einen merklichen Unterschied zwischen den naturwissenschaftlichen und den geisteswissenschaftlichen Fächern feststellen. Während den nationalen Behörden gar nichts anderes übrig bleibt, als international verbreitete Neuerungen technischer Art in die Curricula aufzunehmen, scheinen die geisteswissenschaftlichen Fächer Reservate nationaler Selbstverständigung zu sein. Hier schlagen sich geschichtliche Selbstinterpretationen – zum Beispiel der österreichischen, deutschen, französischen oder polnischen Identität – im Lehrplan nieder. Eine Querbewegung dazu bildet aktuell das Vordringen der englischen Sprache als Lingua franca und als global gebrauchter populärer Musikjargon. Allerdings sind die geisteswissenschaftlichen Fächer nicht ungefährdet: Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts haben die naturwissenschaftlich-technologischen Anteile des Curriculums die Tendenz, sich auszuweiten. Von ihnen erwartet man, dass sie die Innovationsfähigkeit unserer Industrien und damit unseren Wohlstand sichern. Auch hat das OECD-Programm „International Student Assessment PISA“ die bisher eher national geprägten Aufgabenkulturen in Mathematik nachhaltig verändert. Es kommt eine neue zumindest europäisch übernational wirkende Welle didaktischer Strukturierung auf die nationalen Curricula zu. Der Generalrektor für Erziehung und Kultur der EU-Kommission legte 2007 „Key Competences for Lifelong Learning – A European Framework“ vor, die dafür sorgen sollen, dass unsere europäischen Gesellschaften auf weltweiten technologischen und kulturellen Herausforderungen wirkungsvoll antworten können. Acht Schlüsselkompetenzen sollen zur Grundlage aller Lehrinstitutionen werden: Verständigung in der Muttersprache, Verständigung in Fremdsprachen, Mathematische Kompetenz und Basiskompetenz in Naturwissenschaften und Technologie, Digitale Kompetenz, Lernen zu lernen, Soziale und bürgerliche Kompetenz, Sinn für Initiative und Unternehmertum, Kulturelle Aufmerksamkeit und Ausdrucksfähigkeit. Deutschland und Österreich wehren sich wegen ihrer hohen Einschätzung formaler Kulturhoheit dagegen, dass über die genannten acht Schlüsselkompetenzen ihre Curricula internationalisiert werden. Die Frage ist allerdings, wie lange die nationalen Regierungen gegen das pädagogische Strukturierungsansinnen der EU-Kommission Widerstand leisten. Die weitere Frage muss heute sein, ob die genannten EU-Kompetenzen Philosophieunterricht nicht überflüssig machen und wohin im aufgezeigten Spannungsfeld des Technologischen und Kulturellen, des Nationalen und Internationalen im allgemeinen Curriculum überhaupt die Philosophie gehört. Die Sonderstellung der Philosophie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften Gehört der Philosophieunterricht strukturell und inhaltlich eher zur nationalen kulturellen Tradition oder muss der Philosophieunterricht der Natur der Philosophie nach als einer wesentlichen Ausdrucksform der Menschheit in Analogie zum Mathematikunterricht grundsätzlich international sein? Eine Antwort auf diese Frage sollte nicht ohne einen Blick auf die Bemühungen der UNESCO gegeben werden. Die UNESCO setzt sich nämlich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder für Philosophieunterricht in allen Schulen der Welt ein und zwar nach einem Philosophiebegriff, der mit Kritikfähigkeit und Offenheit ganz in unserer abendländischen Tradition steht. Diese Bemühungen sind umso bewundernswerter, als in der UNESCO die Vertreter aller Mitgliedsstaaten, auch der defizitären Demokratien und Diktaturen versammelt sind. Ebenso erstaunlich ist, dass man sich einen eurozentrierten Philosophiebegriff zu eigen gemacht hat, obwohl östliche Philosophien die Weisheit an die oberste Stellen setzen und damit die Rationalität stark relativieren. 2007 legte die UNESCO in Englisch und Französisch einen großen Bericht über den Philosophieunterricht in der Welt vor Philosophy – A School of Freedom – La Philosophie – une école de la liberté. Hinsichtlich der Philosophieländer Deutschland und Österreich fällt er allerdings mehr als enttäuschend aus. Deutschland wird hinsichtlich der Kinderphilosophie genannt, Österreich mit seiner Philosophielehrerausbildung. Bayern wird in einem Zug mit Botswana genannt und zwar in Hinsicht auf das Verhältnis des Ethik- zum Religionsunterricht. Die nationalen Curricula Deutschland hat ein kompliziertes Verhältnis zum Philosophieunterricht in den Schulen. Noch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts war Konsens, dass Philosophie in der Schule nicht unterrichtbar sei. Man orientierte sich an sprachlich schwer verständlichen Texten Kants und Hegels und der damit verbundenen hochkomplexen Systembildung, ohne auf Beispiele gestützte Übersetzungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zeigte es sich als erforderlich, als Alternative für den durch Art 7,3 GG garantierten Religionsunterricht einen Unterricht anzubieten, der auf Philosophie basierte. Die anhaltende Skepsis der Philosophie gegenüber beweist die Tatsache, dass die meisten Länder eben nicht Philosophie, sondern Ethik oder ähnliches einführten. Das UNESCO-Programm, in allen Schulen der Welt Philosophie zu unterrichten, bleibt damit in Deutschland erst einmal stark relativiert. In Österreich entschloss man sich im Abschlussjahr der allgemeinbildenden Schulen Philosophie in Verbindung mit Psychologie einzurichten. In Frankreich, das allein der räumlichen Identität wegen in der UNESCO stark vertreten ist, versucht man in enger Verbundenheit mit der UNESCO den Philosophieunterricht von der 10. Klasse an einzuführen und das unter interdisziplinären Aspekten. Sicherlich auch der gewohnheitsbasierten kulturellen Institutionalisierung wegen leisten die französischen Philosophielehrer erheblichen Widerstand, da ein früh einsetzender breit angelegter Philosophieunterricht vom lange eingeübten Unterricht in Begriffen Abschied nehmen muss. Wohin gehört die Philosophie im Rahmen der nationalen Curricula? Auf diese Frage finden wir nur eine diffuse Antwort. In Deutschland erscheint Philosophie an Religion gekoppelt, in Österreich scheint sie eine anthropologische Grundwissenschaft zu sein, in Frankreich zeichnet sich die Tendenz ab, Philosophie als interdisziplinäres Übersichtsfach zu etablieren. Diese wenig befriedigende Antworte bedeutet, dass Philosophieunterricht zwischen Natur- und Geisteswissenschaften in seiner Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit im Sinne der UNESCO neu bestimmt werden muss, wenn man ihn als humanes Kernfach in allen Schulen der Welt ansiedeln will. Andererseits kann man fragen, ob man nicht – eingebunden in gute nationale Traditionen – angesichts der Tatsache, dass Philosophieunterricht so schwer zu konstituieren ist, über das Ansinnen der UNESCO einfach hinwegsehen sollte. Die Empfehlungen der UNESCO 2011 • Encourage the elaboration of education policies that accord a full complete and autonomous place to philosophy in curricula at secondary and higher education; • Reaffirm that education contributes to building the intellectual autonomy of individuals and refuse to reduce the education process to training for instrumental techniques and competences; • Reaffirm the crucial importance of philosophy teaching for critical thinking and take action to strengthen it; • Work with the relevant stakeholders towards reintroducing philosophy where it has disappeared from the curricula, and strengthening it where it already exists; • Avoid subjecting philosophical work to evaluation practices and performance indicators that are not compatible with the specificity, the sense and the essence of this discipline; International cooperation in the field of philosophy teaching • Pursue its strategy in promoting and advocating philosophy teaching at all levels of formal and informal education, and in fostering intercultural dialogue in this field, notably by supporting the translation of texts from different philosophical traditions, as well as research and mobility programs in favor of researchers from different cultures and nationalities; Strategic orientations and research • While endorsing the competence-based approach to education in general, as well as to philosophy teaching when this approach is adapted to this teaching, acknowledge that education cannot be reduced to a mere training of measurable and predictable competences; Technical educational support to Member States • Advise Member States in the elaboration of national policies in favor of the introduction of philosophy in curricula and of its strengthening where it already exists; • Encourage the creation, strengthening and expansion of the UNESCO Chairs in Philosophy; Strategic orientations • Make necessary efforts to maintain spaces of dialogue and of questioning on the sense of education, and to ensure that the practical application of the competence-based approach does not feed an illusion of transparency in education and does not impede on philosophy teaching on the grounds that this discipline does not develop “key competencies”; • Give an equal place and importance to the teaching of scientific and technical disciplines on the one hand, and to that of philosophy and the humanities one the other, when elaborating European strategic orientations in education; Philosophy teachers and practitioners as well as civil society actors, to: Exploring new approaches to philosophy teaching • Develop suitable courses and philosophical fora that foster public awareness on the new social and ethical challenges for humanity while making reference to classical texts and authors belonging to various philosophical corpora; • Promote different approaches in teaching philosophy, including in a framework of progressivity in school curricula, in order to instill a view of -philosophy teaching as a continuous process from primary school to higher education; • Organize, with the support of the International Federation of Philosophical Societies (FISP), specific sessions and workshops during the World Congress of Philosophy that will be dedicated to philosophy teaching…” Nimmt man diese Empfehlungen, die einen autonomen Philosophieunterricht ohne Einschränkung meinen, ernst, müssten die meisten Bildungsverantwortlichen still und bescheiden sein. Vielleicht bilden Italien, Portugal und Finnland eine Ausnahme. Aber auch diese Länder sind weit davon entfernt, Philosophie vom Kindergarten bis zum Baccalaureat zu unterrichten. Unabhängig von diesen großen Forderungen können die Empfehlungen generell hilfreich sein, den von uns vertretenen Humanismus gegen Versuche einer technischen Orientierung des Bildungswesens zu verteidigen. Und nun zur entscheidenden Frage: Sind die Empfehlungen im Ganzen gesehen nicht illusionär, da sie sich mit ihrem Anspruch auf globale Allgemeingültigkeit des Faches Philosophie fast in Analogie zur Mathematik von jedem nationalen Curriculum weit entfernen? Ich meine nicht. Wenn es eine nachhaltige zukunftweisende Wissenschaft gibt, dann ist es die Philosophie. Die Philosophielehrer haben stets die Entwicklung von 2500 Jahren vor unseren Augen und eine Vielfalt von Gedankenformen, von denen wir wissen, dass sie auch lange nach uns wichtig sind. Wenn wir unseren Blick auf die gegenwärtigen Konflikte richten, auf die Turbulenzen im arabischen Raum, auf die gewaltsamen religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen, auf die weitverbreitete Missachtung der Menschenrechte, auf die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, auf die Unfähigkeit der Wirtschaftswissenschaften, Krisen zu bewältigen, wenn wir feststellen, welche Schwierigkeiten viele haben, friedensstiftende Lösungen zu finden, dann schleicht sich rasch der Gedanke ein, dass doch ein bisschen mehr in guter Tradition verankerte Philosophie nützlich sein könnte. Viele setzen auf mehr Religion, aber brauchen Religionen und irgendwelche Wesentlichkeitslehren nicht einen Metastandpunkt, der eben traditionell in der Philosophie zu finden ist? Wenn wir nun die Empfehlungen der UNESCO nicht für illusionär halten, was ist zu tun? Mögliche grenzüberschreitende Handlungsschritte für mehr Philosophie in den Schulen Die Kluft zwischen der akademischen Philosophie und der Philosophiedidaktik muss geschlossen werden, damit die Bildungsverantwortlichen auf eine starke – im Sinne von Hannah Arendt: mächtige – Gruppe blicken können, die man ernst nimmt. Die meisten philosophischen Aktivitäten sind noch so abgehoben, dass die Brücke zum Philosophieunterricht in der Schule kaum zu schlagen zu sein scheint. Hoffnungsvolle Ansätze finde ich im Umfeld der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie um Ekkehard Martens (Hamburg) und Johannes Rohbeck (Dresden) herum, deren Zeitschrift ausdrücklich für den ganzen deutschsprachigen Raum gegründet wurde und deren Leistungen nun auch von der UNESCO gewürdigt werden. Erfreulich ist, dass von der UNESCO der leidige Streit zwischen einem historisierenden und einem problemorientierten Philosophieunterricht zugunsten des letzteren beigelegt ist. Das bringt belebende methodische und inhaltliche Vielfalt. Ermutigen kann die Internationale Philosophie Olympiade. Sekundarschüler aus vielen Ländern treffen sich, um sich gegenseitig zu zeigen, dass Philosophieren in der Schule eine Weltkultur sein kann. Ein nicht unbedeutendes Nebenprodukt stellt die Tatsache dar, dass über die Olympioniken deren Unterrichtssysteme und Lehrkräfte zwischen akademischer Philosophie und Unterrichtskultur international evaluiert werden. Wir brauchen Spezialisten, die mit internationaler Philosophiedidaktik vertraut sind und wie in den Naturwissenschaften ganz natürlich internationale Unterrichtsmethoden kennen und transportieren, um damit die nationalen Curricula auch in Philosophie zu bereichern und zu verbessern. Ein Desiderat ist, wie die UNESCO empfiehlt, Lehrstühle für internationale Philosophiedidaktik einzurichten. 2013 findet der nächste Weltkongress der Philosophie (WCP) in Athen statt. Zum ersten Mal ist Chinesisch Konferenzsprache. Philosophieunterricht sollte in seinem Rang akademischer Philosophie gegenüber deutlich werden. In der Sektion „Philosophieunterricht“ sollte ein reger grenzüberschreitender Austausch stattfinden. Ich selbst freue mich, für die AIPPh als Co-chair dienen zu können. Ich lade alle ein, Vorträge mit unseren vielfältigen Unterrichtserfahrungen und -perspektiven einzureichen. In Hinsicht auf den Philosophieunterricht bei uns zu Hause und in der Welt kann alles nur besser werden. UNSER AUTOR: Werner Busch war bis November 2012 Präsident der Association Internationale des Professeurs de Philosophie (AIPPh) www.aipph.eu |