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ESSAY

Hoyningen-Huene, Paul: Systematizität als das, was Wissenschaft ausmacht

Paul Hoyningen-Huene:

Systematizität als das,

was Wissenschaft ausmacht

 

 

1. Die Frage

 

Die Frage, was die Natur der Wissenschaft ist, hat eine lange Geschichte, die – natürlich – bei den Griechen beginnt. Primär aufgrund der Wandlungen der Wissenschaft selbst, aber auch aufgrund der Wandlungen des Nachdenkens über Wissenschaft haben sich die Antworten auf diese Frage immer wieder verändert. Besonders dramatisch war zum einen die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Verabschiedung der Vorstellung, Wissenschaft könne sicheres Wissen über die Welt erzeugen. Zum anderen hat in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung aufgegeben werden müssen, wissenschaftliches Wissen erlange seinen Sonderstatus durch die Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Eine solche zeit- und kontextlose Methode scheint es nicht zu geben. Damit aber steht man aber hinsichtlich der Frage, was wissen­schaft­liches Wissen ist, gewisser­maßen mit leeren Händen da: Weder kann man es durch die Qualität, sicher zu sein, noch durch Weise seiner Generierung, nämlich durch die wissenschaftliche Methode, charakterisieren. Mit anderen Worten: Wir müssen heute die Frage, was Wissenschaft ist, neu beant­worten.

 

Die Frage, was Wissenschaft ist (also alle Wissenschaften, nicht primär die Natur- und Ingenieurwissenschaften) verstehe ich hier nicht als eine Frage, die Wissenschaft von Pseudowissenschaft oder ‚Metaphysik‘ abgrenzen will. So wurde die Frage im 20. Jahrhundert jedenfalls in der Philosophie meist verstanden, wahrscheinlich unter dem Einfluss Poppers. Mich leitet ein anderer Kontrast, nämlich der von Wis­senschaft und Alltagswissen, im Hintergrund auch der von Wissenschaft und dem Wissen anderer Kulturen, der ‚traditional knowledge‘. Keinesfalls meint dies aber, die Frage nach einem Abgrenzungskriterium von Wissenschaft und Pseudowissenschaft sei unbedeutend. Aber die Suche nach einem universellen Abgrenzungskriterium war nicht erfolgreich, so dass sich ein anderer Zugang aufdrängt.

 

2. Die These

 

Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten, besonders dem Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität.

 

Diese These ist deskriptiv: sie betrifft die real existierende Wissenschaft. Sie ist komparativ: sie behauptet nicht, dass andere Wissensarten unsystematisch sind, sondern nur, dass wissenschaftliches Wissen syste­ma­ti­scher ist als sie. Der „höhere Grad an Systematizität“ bezieht sich auf Wissen über den gleichen Gegen­stands­bereich. Beispiels­weise behaup­tet die These also einen höheren Systemati­zi­täts­grad des wissen­schaft­lichen Wissens über Personen im Vergleich zum Alltagswissen über Personen. Die These ist also mit der Existenz von nicht-wis­senschaftlichem Wissen kompa­tibel, das systematischer ist als das Wissen mancher ‚lockerer‘ Forschungsbereiche. Nicht unmittelbar anwendbar ist die These auf Bereiche, über die es ausschließlich wissenschaftliches Wissen gibt, z.B. über schwarze Löcher. Aber sie lässt sich für solche Fälle verallgemeinern.

 

Zu klären ist natürlich, was ‚Systematizität‘ bedeutet. Der Systematizitätsbegriff ist ziemlich vage und entsprechend präzisie­rungs- und konkretisierungsbe­dürftig. Ich will dies in zwei Schritte tun, nämlich einmal in einer Präzisierung (die leider nicht sonderlich weit führen wird) und in einer Konkretisierung:

 

¢ Präzisierung. Gegenbegriffe zu ‚syste­ma­tisch‘, die dem Begriff eine gewisse Kontur geben, sind etwa ‚rein zufällig‘, ‚be­liebig‘, ‚unmethodisch‘, ‚planlos‘, ‚ungeordnet‘, ‚irgendwie gemacht oder entstanden‘. Weit führen diese Gegenbegriffe nicht, aber mehr lässt sich auf dieser abstrakten Ebene über die Bedeutung von ‚systematisch‘ nicht sagen. Eine konkretere, vor allem positive Bestimmung von ‚sy­stematisch‘ bedarf der Angabe eines Kontexts, in dem ‚syste­matisch‘ verwendet werden soll.

 

¢ Die Konkretisierung des Systematizitätsbegriffs erfolgt in neun Kontexten oder Dimensionen. Dabei erhalten wir konkretere Systematizitätsbegriffe, und die ur­sprüng­liche These differenziert sich in neun Unterthesen. In den folgenden neun Dimensionen ist wissenschaftliches Wissen syste­ma­ti­scher als andere Wissensarten:

 

                     Beschreibungen

                     Erklärungen

                     Vorhersagen

                     Verteidigung von Wissensansprüchen

                     Kritischer Diskurs

                     Epistemische Vernetztheit

                     Ideal der Vollständigkeit

                     Vermehrung von Wissen

                     Strukturierung und Darstellung von

          Wissen.

 

Konkret heißt das: Wissenschaftliche Beschreibungen sind gemäß der These systematischer als Alltagsbeschreibungen, wissenschaftliche Er­­klärungen systematischer als Alltagserklärungen, etc.

 

Hierzu sind einige Bemerkungen zu machen. Erstens sind nicht wirklich alle neun Dimensionen für alle Wissenschaften einschlägig. Beispielsweise machen durchaus nicht alle Wissenschaften Vorhersagen, darunter auch die historischen Naturwissenschaften. Zweitens weisen die in den neun Dimensionen konkretisierten Systematizitätsbegriffe untereinander nur Familienähnlichkeiten auf; es gibt keine gemeinsamen notwendigen und hinreichenden Bedingungen (sonst würde man diese Bedingungen auch auf der ab-strakten Ebene finden und könnte den Be­griff schon dort genauer charakterisieren). Drittens gibt es auch innerhalb einer Dimension verschiedene Systematizitätsbegriffe, bedingt durch die Verschiedenheiten der Disziplinen und sogar der Subdisziplinen. Beispielsweise bedeutet die Systematizität eine Beschreibung in der Botanik etwas anderes als in der Geschichte, innerhalb der Geschichte die Systematizität einer wirtschaftsgeschichtlichen Beschreibung etwas anderes als die einer mentalitätsgeschichtlichen. Diese weiter differenzierten Systematizitätsbegriffe sind ebenfalls nur durch Familienähnlichkeiten verbunden. Viertens variieren die konkreten Systematizitätsbegriffe aufgrund der historischen Veränderung wissen­schaftlicher Gebiete in der Zeit. Fünftens behauptet Systematizität als Charakteristikum von Wissenschaft damit keine rigide, einheitliche Struktur der Wissenschaften. Vielmehr hängen alle Disziplinen und Subdisziplinen über ein komplexes Netz von Familienähnlichkeiten zusammen.

 

3. Die Begründung der These

 

Die weitere Erläuterung und Begründung der These müsste nun für alle wissenschaftlichen Subdisziplinen in den neun Dimensionen die jeweilige Bedeutung von ‚systematisch‘ ex­plizieren und zeigen, dass das entsprechende wissenschaftliche Wissen in den neun Aspekten systematischer ist als korrespondierendes Alltagswissen. Dies erfordert einen kompletten Überblick über die Wissenschaften. Aber diesen Überblick gibt es nicht einmal bezüglich der Zahl der Disziplinen bzw. der Subdisziplinen. Es lässt sich lediglich sagen, dass es einige hundert wissenschaftliche Disziplinen und mehrere tausend Subdisziplinen gibt. Ins­gesamt müssten also mehrere zehntausend Thesen begründet werden. Es bleibt also nichts anderes übrig, als die neun Aspekte der höheren Systematizität wissenschaftlichen Wissens an einzelnen Beispielen aus verschiedenen Wissenschaften bzw. Wis­senschaftsgruppen zu illustrieren. Leider kann also die Begründung der Systematizitätsthese nicht so systematisch erfolgen, wie man es aufgrund der These selbst vielleicht erwarten würde. Der zur Verfügung stehende beschränkte Platz erhöht den Grad der Skizzenhaftigkeit meiner Darstellung zusätzlich.

 

3.1. Beschreibungen

 

In den (klassischen) Formalwissenschaften wird eine unüberbietbar systematische Beschreibung der jeweiligen Gegenstände angestrebt: ihre Axiomatisierung. Alle relevanten Eigenschaften der betrachteten Objekte werden in wenigen, logisch voneinander un­abhängigen Axiomen festgehalten. Implizit ist in ihnen das gesamte Wissen über diese Objekte so vollständig wie möglich festgehalten.

 

Viele Wissenschaften benutzen als ein immens systematisches Beschreibungsinstrument die Klassifikation bzw. Taxonomie (hierarchisch angeordnete Klassifikationen). So werden beispielsweise mathematische Ob­jekte, biologische Arten, Mineralien, chemische Elemente und Verbindungen, Sprachen, Staatsformen und literarische Genres klassifiziert. Das zeitliche Pendant von Klassifikationen sind Periodisierungen, die in den historischen Wissenschaften sowie in Wissenschaften, die sich mit wiederholt vorkommenden Abläufen beschäftigen, verwendet werden. Sowohl Klassifikationen als auch Periodisierungen werden auch im Alltag verwendet, allerdings auf wesentlich weniger systematische Weise als in den Wissenschaften.

 

Für die historischen Wissenschaften ist die narrative Darstellung von individuellen Er­eig­nisabfolgen charakteristisch. Auch im All­tag erzählen wir solche Geschichten, allerdings in vielen Hinsichten weniger systematisch als die Historiker. In den nicht-historischen natur- und sozialwissenschaftlichen Beschreibungen tritt das Individuelle meist zugunsten einer Verallgemeinerung zurück: Hier werden typischerweise Phänomenklassen mittels empirischer Regularitäten beschrieben. Die Möglichkeit solcher verallgemeinernder Beschreibung setzt eine angemessene Klassifikation der relevanten Phänomene voraus, also ein weiteres Element von Systematizität. Wieder gilt, dass wir auch im Alltag mit Verallgemeinerungen operieren, allerdings in viel lascherer Weise als die Wissenschaften. Schließlich ist ein in vielen Wissenschaften verwendetes Mittel der Erhöhung der Systematizität von Beschreibungen die Quantifizierung. Die erfolg­reiche (!) Quantifizierung von Eigenschaften ermöglicht eine viel differenziertere und genauere Beschreibung der entsprechenden Phänomene als eine bloß qualitative; man denke nur an den Unterschied von qualitativen und quantitativen Beschreibungen der Außentemperatur.

 

3.2. Erklärungen


Für die historischen Wissenschaften sind narrative Erklärungen charakteristisch. Ihre Struktur ist im Wesentlichen identisch mit der Struktur unserer alltäglichen narrativen Erklärungen, aber sie sind in vielen Hinsichten systematischer. Nicht-historische empirische Wissenschaften erklären vielfach mittels Theorien: sie nutzen deren vereinheitlichende, prognostische und erklärende Kraft. Wissenschaften, die mit Erklärungen individueller Handlungen beschäftigt sind, rekurrieren typischerweise auf die Intentionen und die Situationseinschätzungen der Akteure. Das tun wir im Alltag auch, allerdings in der Regel sehr skizzenhaft. In den Erklärungs- bzw. Verstehensprozessen in den Geisteswissenschaften geht es meist um das Erschließen einer Sinndimension, bei dem der sog. hermeneutische Zirkel eine Rolle spielt. Auch hier gibt es klare Parallelen zum Alltag, wenn auch dort der Grad der systematischen Reflexion, der diese Erschließungsprozesse begleitet, typischerweise wesentlich niedriger ist als in den Geisteswissenschaften. Schließlich sind noch die sog. reduktionistischen Erklärungen zu nennen, bei denen das Verhalten eines komplexen Gegenstands durch Rekurs auf seine Teile und ihre Eigenschaften erklärt wird. Diesen Erklärungstyp findet man in fast allen Wissenschaftsbereichen, aber auch im Alltag, allerdings – wen wundert’s – in viel weniger systematischer Form.

 

3.3. Vorhersagen

 

Vorhersagen werden nicht in allen Wissenschaften gemacht, auch nicht in allen Naturwissenschaften – was deren Wissenschafts­cha­rakter aber keinerlei Abbruch tut. Es gibt sehr verschiedene, z.T. außerordentlich ausgeklügelte Verfahren der wissenschaftlichen Prognose, wenn auch im Bereich des Humanen, z.B. der Ökonomie, ihr Erfolg nicht konstant durchschlagend ist. Am einfachsten sind die Prognosen, die direkt auf deterministischen oder statistischen empirischen Verallgemeinerungen oder Theorien beruhen. Sie finden sich bereits in der antiken Astronomie. Komplexer und extrem vielfältig sind die indirekteren Methoden, die sich auf Modelle, Simulationen, Zeitreihen, Korrelationen unterschiedlicher Prozesse und vieles mehr stützen; sie finden sich in den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Schließ­lich sind noch die Delphi Methoden zu nennen, bei denen verschiedene Experten hinsichtlich ihrer Prognosen befragt werden und ihre Antworten der Expertenrunde wieder vorgelegt werden, um womöglich durch Korrekturen eine Konvergenz ihrer Meinungen zu erreichen. Die meisten solchen Vorhersagemethoden sind uns ihrer Struktur nach aus dem Alltag bekannt, auch wenn wir sie dort in viel unsystematischerer Weise als in den Wissenschaften verwenden.

 

3.4. Verteidigung von Wissensansprüchen

 

Die Wissenschaften zeichnen sich im Vergleich zum Alltag dadurch aus, dass sie auf viel systematischere Weise die Fehlbarkeit von Wissensansprüchen berücksichtigen; sie haben viele Methoden der systematischen Irrtumselimination entwickelt. In den Formalwissenschaften werden inhaltliche Behauptungen nur akzeptiert, wenn sie durch einen niet- und nagelfesten Beweis gestützt sind. In allen Realwissenschaften spielen empirische Daten der unterschiedlichsten Art eine herausragende Rolle für die Irrtumselimination bzw. Validierung. Die Gewinnung und weitere Verarbeitung empirischer Daten ist extrem stark davon abhängig, um welchen wissenschaftlichen Bereich es sich handelt. Die bei den Beschreibungen schon genannte Quantifizierung spielt auch bei der Verteidigung von Wissensansprüchen eine große Rolle, denn quantifizierte Aussagen gestatten strengere Überprüfungsverfahren.

 

3.5. Kritischer Diskurs

 

Die Wissenschaften gehen nicht nur auf der kognitiven Ebene systematisch hinsichtlich der Irrtumselimination vor, sondern haben auch auf der sozialen Ebene eine Reihe von Institutionen geschafften, die systematisch den kritischen Diskurs fördern. Zeitschriftenartikel und Bücher (neuerdings auch Beiträge im Internet) werden typischerweise nicht unbesehen veröffentlicht, sondern unterliegen dem ‚peer review‘, also der Begutachtung durch Fachkol­le­gInnen. Zeitschriften haben oft Diskussionssektionen, in denen die wissenschaftliche Auseinandersetzung öffentlich geführt wird. Überblicksartikel stellen nicht nur den Stand der Forschung dar, sondern identifizieren auch oft weiteren Forschungs- und Diskussionsbedarf. Buchbesprechungen unterziehen Neuerscheinungen einer kritischen Würdigung, manchmal auch durch mehrere Rezensenten. Vorträge an wissenschaftlichen Instituten oder an Kongressen haben immer einen Diskussionsteil für kritische Rückfragen. Wissenschaftliche Konferenzen sind Orte des kritischen Austauschs, dem auch die zugehörigen sozialen Anlässe dienen. Diskussionsforen im Internet haben neuerdings einen nahezu simultanen Austausch von hunderten oder sogar tausenden von Wissenschaftlern ermöglicht, die über den ganzen Erdball verteilt sind. Großforschungsprojekte haben eigene soziale Strukturen entwickelt, die die kritische Würdigung und Integration der Arbeit der kleineren Einheiten ermöglichen.

Natürlich stellen wir auch im Alltag Wissensansprüche anderen gegenüber auf die Probe. Aber dies geschieht typischerweise viel beiläufiger und ohne eigens dafür geschaffenen Institutionen, also viel weniger epistemisch.

Paul Hoyningen-Huene:

Systematizität als das,

was Wissenschaft ausmacht

 

 


1. Die Frage

 

Die Frage, was die Natur der Wissenschaft ist, hat eine lange Geschichte, die – natürlich – bei den Griechen beginnt. Primär aufgrund der Wandlungen der Wissenschaft selbst, aber auch aufgrund der Wandlungen des Nachdenkens über Wissenschaft haben sich die Antworten auf diese Frage immer wieder verändert. Besonders dramatisch war zum einen die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Verabschiedung der Vorstellung, Wissenschaft könne sicheres Wissen über die Welt erzeugen. Zum anderen hat in den letzten Jahrzehnten die Vorstellung aufgegeben werden müssen, wissenschaftliches Wissen erlange seinen Sonderstatus durch die Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Eine solche zeit- und kontextlose Methode scheint es nicht zu geben. Damit aber steht man aber hinsichtlich der Frage, was wissen­schaft­liches Wissen ist, gewisser­maßen mit leeren Händen da: Weder kann man es durch die Qualität, sicher zu sein, noch durch Weise seiner Generierung, nämlich durch die wissenschaftliche Methode, charakterisieren. Mit anderen Worten: Wir müssen heute die Frage, was Wissenschaft ist, neu beant­worten.

 

Die Frage, was Wissenschaft ist (also alle Wissenschaften, nicht primär die Natur- und Ingenieurwissenschaften) verstehe ich hier nicht als eine Frage, die Wissenschaft von Pseudowissenschaft oder ‚Metaphysik‘ abgrenzen will. So wurde die Frage im 20. Jahrhundert jedenfalls in der Philosophie meist verstanden, wahrscheinlich unter dem Einfluss Poppers. Mich leitet ein anderer Kontrast, nämlich der von Wis­senschaft und Alltagswissen, im Hintergrund auch der von Wissenschaft und dem Wissen anderer Kulturen, der ‚traditional knowledge‘. Keinesfalls meint dies aber, die Frage nach einem Abgrenzungskriterium von Wissenschaft und Pseudowissenschaft sei unbedeutend. Aber die Suche nach einem universellen Abgrenzungskriterium war nicht erfolgreich, so dass sich ein anderer Zugang aufdrängt.

 

2. Die These

 

Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich von anderen Wissensarten, besonders dem Alltagswissen, primär durch seinen höheren Grad an Systematizität.

 

Diese These ist deskriptiv: sie betrifft die real existierende Wissenschaft. Sie ist komparativ: sie behauptet nicht, dass andere Wissensarten unsystematisch sind, sondern nur, dass wissenschaftliches Wissen syste­ma­ti­scher ist als sie. Der „höhere Grad an Systematizität“ bezieht sich auf Wissen über den gleichen Gegen­stands­bereich. Beispiels­weise behaup­tet die These also einen höheren Systemati­zi­täts­grad des wissen­schaft­lichen Wissens über Personen im Vergleich zum Alltagswissen über Personen. Die These ist also mit der Existenz von nicht-wis­senschaftlichem Wissen kompa­tibel, das systematischer ist als das Wissen mancher ‚lockerer‘ Forschungsbereiche. Nicht unmittelbar anwendbar ist die These auf Bereiche, über die es ausschließlich wissenschaftliches Wissen gibt, z.B. über schwarze Löcher. Aber sie lässt sich für solche Fälle verallgemeinern.

 

Zu klären ist natürlich, was ‚Systematizität‘ bedeutet. Der Systematizitätsbegriff ist ziemlich vage und entsprechend präzisie­rungs- und konkretisierungsbe­dürftig. Ich will dies in zwei Schritte tun, nämlich einmal in einer Präzisierung (die leider nicht sonderlich weit führen wird) und in einer Konkretisierung:

 

¢ Präzisierung. Gegenbegriffe zu ‚syste­ma­tisch‘, die dem Begriff eine gewisse Kontur geben, sind etwa ‚rein zufällig‘, ‚be­liebig‘, ‚unmethodisch‘, ‚planlos‘, ‚ungeordnet‘, ‚irgendwie gemacht oder entstanden‘. Weit führen diese Gegenbegriffe nicht, aber mehr lässt sich auf dieser abstrakten Ebene über die Bedeutung von ‚systematisch‘ nicht sagen. Eine konkretere, vor allem positive Bestimmung von ‚sy­stematisch‘ bedarf der Angabe eines Kontexts, in dem ‚syste­matisch‘ verwendet werden soll.

 

¢ Die Konkretisierung des Systematizitätsbegriffs erfolgt in neun Kontexten oder Dimensionen. Dabei erhalten wir konkretere Systematizitätsbegriffe, und die ur­sprüng­liche These differenziert sich in neun Unterthesen. In den folgenden neun Dimensionen ist wissenschaftliches Wissen syste­ma­ti­scher als andere Wissensarten:

 

                     Beschreibungen

                     Erklärungen

                     Vorhersagen

                     Verteidigung von Wissensansprüchen

                     Kritischer Diskurs

                     Epistemische Vernetztheit

                     Ideal der Vollständigkeit

                     Vermehrung von Wissen

                     Strukturierung und Darstellung von

          Wissen.

 

Konkret heißt das: Wissenschaftliche Beschreibungen sind gemäß der These systematischer als Alltagsbeschreibungen, wissenschaftliche Er­­klärungen systematischer als Alltagserklärungen, etc.

 

Hierzu sind einige Bemerkungen zu machen. Erstens sind nicht wirklich alle neun Dimensionen für alle Wissenschaften einschlägig. Beispielsweise machen durchaus nicht alle Wissenschaften Vorhersagen, darunter auch die historischen Naturwissenschaften. Zweitens weisen die in den neun Dimensionen konkretisierten Systematizitätsbegriffe untereinander nur Familienähnlichkeiten auf; es gibt keine gemeinsamen notwendigen und hinreichenden Bedingungen (sonst würde man diese Bedingungen auch auf der ab-strakten Ebene finden und könnte den Be­griff schon dort genauer charakterisieren). Drittens gibt es auch innerhalb einer Dimension verschiedene Systematizitätsbegriffe, bedingt durch die Verschiedenheiten der Disziplinen und sogar der Subdisziplinen. Beispielsweise bedeutet die Systematizität eine Beschreibung in der Botanik etwas anderes als in der Geschichte, innerhalb der Geschichte die Systematizität einer wirtschaftsgeschichtlichen Beschreibung etwas anderes als die einer mentalitätsgeschichtlichen. Diese weiter differenzierten Systematizitätsbegriffe sind ebenfalls nur durch Familienähnlichkeiten verbunden. Viertens variieren die konkreten Systematizitätsbegriffe aufgrund der historischen Veränderung wissen­schaftlicher Gebiete in der Zeit. Fünftens behauptet Systematizität als Charakteristikum von Wissenschaft damit keine rigide, einheitliche Struktur der Wissenschaften. Vielmehr hängen alle Disziplinen und Subdisziplinen über ein komplexes Netz von Familienähnlichkeiten zusammen.

 

3. Die Begründung der These

 

Die weitere Erläuterung und Begründung der These müsste nun für alle wissenschaftlichen Subdisziplinen in den neun Dimensionen die jeweilige Bedeutung von ‚systematisch‘ ex­plizieren und zeigen, dass das entsprechende wissenschaftliche Wissen in den neun Aspekten systematischer ist als korrespondierendes Alltagswissen. Dies erfordert einen kompletten Überblick über die Wissenschaften. Aber diesen Überblick gibt es nicht einmal bezüglich der Zahl der Disziplinen bzw. der Subdisziplinen. Es lässt sich lediglich sagen, dass es einige hundert wissenschaftliche Disziplinen und mehrere tausend Subdisziplinen gibt. Ins­gesamt müssten also mehrere zehntausend Thesen begründet werden. Es bleibt also nichts anderes übrig, als die neun Aspekte der höheren Systematizität wissenschaftlichen Wissens an einzelnen Beispielen aus verschiedenen Wissenschaften bzw. Wis­senschaftsgruppen zu illustrieren. Leider kann also die Begründung der Systematizitätsthese nicht so systematisch erfolgen, wie man es aufgrund der These selbst vielleicht erwarten würde. Der zur Verfügung stehende beschränkte Platz erhöht den Grad der Skizzenhaftigkeit meiner Darstellung zusätzlich.

 

3.1. Beschreibungen

 

In den (klassischen) Formalwissenschaften wird eine unüberbietbar systematische Beschreibung der jeweiligen Gegenstände angestrebt: ihre Axiomatisierung. Alle relevanten Eigenschaften der betrachteten Objekte werden in wenigen, logisch voneinander un­abhängigen Axiomen festgehalten. Implizit ist in ihnen das gesamte Wissen über diese Objekte so vollständig wie möglich festgehalten.

 

Viele Wissenschaften benutzen als ein immens systematisches Beschreibungsinstrument die Klassifikation bzw. Taxonomie (hierarchisch angeordnete Klassifikationen). So werden beispielsweise mathematische Ob­jekte, biologische Arten, Mineralien, chemische Elemente und Verbindungen, Sprachen, Staatsformen und literarische Genres klassifiziert. Das zeitliche Pendant von Klassifikationen sind Periodisierungen, die in den historischen Wissenschaften sowie in Wissenschaften, die sich mit wiederholt vorkommenden Abläufen beschäftigen, verwendet werden. Sowohl Klassifikationen als auch Periodisierungen werden auch im Alltag verwendet, allerdings auf wesentlich weniger systematische Weise als in den Wissenschaften.

 

Für die historischen Wissenschaften ist die narrative Darstellung von individuellen Er­eig­nisabfolgen charakteristisch. Auch im All­tag erzählen wir solche Geschichten, allerdings in vielen Hinsichten weniger systematisch als die Historiker. In den nicht-historischen natur- und sozialwissenschaftlichen Beschreibungen tritt das Individuelle meist zugunsten einer Verallgemeinerung zurück: Hier werden typischerweise Phänomenklassen mittels empirischer Regularitäten beschrieben. Die Möglichkeit solcher verallgemeinernder Beschreibung setzt eine angemessene Klassifikation der relevanten Phänomene voraus, also ein weiteres Element von Systematizität. Wieder gilt, dass wir auch im Alltag mit Verallgemeinerungen operieren, allerdings in viel lascherer Weise als die Wissenschaften. Schließlich ist ein in vielen Wissenschaften verwendetes Mittel der Erhöhung der Systematizität von Beschreibungen die Quantifizierung. Die erfolg­reiche (!) Quantifizierung von Eigenschaften ermöglicht eine viel differenziertere und genauere Beschreibung der entsprechenden Phänomene als eine bloß qualitative; man denke nur an den Unterschied von qualitativen und quantitativen Beschreibungen der Außentemperatur.

 

3.2. Erklärungen


Für die historischen Wissenschaften sind narrative Erklärungen charakteristisch. Ihre Struktur ist im Wesentlichen identisch mit der Struktur unserer alltäglichen narrativen Erklärungen, aber sie sind in vielen Hinsichten systematischer. Nicht-historische empirische Wissenschaften erklären vielfach mittels Theorien: sie nutzen deren vereinheitlichende, prognostische und erklärende Kraft. Wissenschaften, die mit Erklärungen individueller Handlungen beschäftigt sind, rekurrieren typischerweise auf die Intentionen und die Situationseinschätzungen der Akteure. Das tun wir im Alltag auch, allerdings in der Regel sehr skizzenhaft. In den Erklärungs- bzw. Verstehensprozessen in den Geisteswissenschaften geht es meist um das Erschließen einer Sinndimension, bei dem der sog. hermeneutische Zirkel eine Rolle spielt. Auch hier gibt es klare Parallelen zum Alltag, wenn auch dort der Grad der systematischen Reflexion, der diese Erschließungsprozesse begleitet, typischerweise wesentlich niedriger ist als in den Geisteswissenschaften. Schließlich sind noch die sog. reduktionistischen Erklärungen zu nennen, bei denen das Verhalten eines komplexen Gegenstands durch Rekurs auf seine Teile und ihre Eigenschaften erklärt wird. Diesen Erklärungstyp findet man in fast allen Wissenschaftsbereichen, aber auch im Alltag, allerdings – wen wundert’s – in viel weniger systematischer Form.

 

3.3. Vorhersagen

 

Vorhersagen werden nicht in allen Wissenschaften gemacht, auch nicht in allen Naturwissenschaften – was deren Wissenschafts­cha­rakter aber keinerlei Abbruch tut. Es gibt sehr verschiedene, z.T. außerordentlich ausgeklügelte Verfahren der wissenschaftlichen Prognose, wenn auch im Bereich des Humanen, z.B. der Ökonomie, ihr Erfolg nicht konstant durchschlagend ist. Am einfachsten sind die Prognosen, die direkt auf deterministischen oder statistischen empirischen Verallgemeinerungen oder Theorien beruhen. Sie finden sich bereits in der antiken Astronomie. Komplexer und extrem vielfältig sind die indirekteren Methoden, die sich auf Modelle, Simulationen, Zeitreihen, Korrelationen unterschiedlicher Prozesse und vieles mehr stützen; sie finden sich in den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Schließ­lich sind noch die Delphi Methoden zu nennen, bei denen verschiedene Experten hinsichtlich ihrer Prognosen befragt werden und ihre Antworten der Expertenrunde wieder vorgelegt werden, um womöglich durch Korrekturen eine Konvergenz ihrer Meinungen zu erreichen. Die meisten solchen Vorhersagemethoden sind uns ihrer Struktur nach aus dem Alltag bekannt, auch wenn wir sie dort in viel unsystematischerer Weise als in den Wissenschaften verwenden.

 

3.4. Verteidigung von Wissensansprüchen

 

Die Wissenschaften zeichnen sich im Vergleich zum Alltag dadurch aus, dass sie auf viel systematischere Weise die Fehlbarkeit von Wissensansprüchen berücksichtigen; sie haben viele Methoden der systematischen Irrtumselimination entwickelt. In den Formalwissenschaften werden inhaltliche Behauptungen nur akzeptiert, wenn sie durch einen niet- und nagelfesten Beweis gestützt sind. In allen Realwissenschaften spielen empirische Daten der unterschiedlichsten Art eine herausragende Rolle für die Irrtumselimination bzw. Validierung. Die Gewinnung und weitere Verarbeitung empirischer Daten ist extrem stark davon abhängig, um welchen wissenschaftlichen Bereich es sich handelt. Die bei den Beschreibungen schon genannte Quantifizierung spielt auch bei der Verteidigung von Wissensansprüchen eine große Rolle, denn quantifizierte Aussagen gestatten strengere Überprüfungsverfahren.

 

3.5. Kritischer Diskurs

 

Die Wissenschaften gehen nicht nur auf der kognitiven Ebene systematisch hinsichtlich der Irrtumselimination vor, sondern haben auch auf der sozialen Ebene eine Reihe von Institutionen geschafften, die systematisch den kritischen Diskurs fördern. Zeitschriftenartikel und Bücher (neuerdings auch Beiträge im Internet) werden typischerweise nicht unbesehen veröffentlicht, sondern unterliegen dem ‚peer review‘, also der Begutachtung durch Fachkol­le­gInnen. Zeitschriften haben oft Diskussionssektionen, in denen die wissenschaftliche Auseinandersetzung öffentlich geführt wird. Überblicksartikel stellen nicht nur den Stand der Forschung dar, sondern identifizieren auch oft weiteren Forschungs- und Diskussionsbedarf. Buchbesprechungen unterziehen Neuerscheinungen einer kritischen Würdigung, manchmal auch durch mehrere Rezensenten. Vorträge an wissenschaftlichen Instituten oder an Kongressen haben immer einen Diskussionsteil für kritische Rückfragen. Wissenschaftliche Konferenzen sind Orte des kritischen Austauschs, dem auch die zugehörigen sozialen Anlässe dienen. Diskussionsforen im Internet haben neuerdings einen nahezu simultanen Austausch von hunderten oder sogar tausenden von Wissenschaftlern ermöglicht, die über den ganzen Erdball verteilt sind. Großforschungsprojekte haben eigene soziale Strukturen entwickelt, die die kritische Würdigung und Integration der Arbeit der kleineren Einheiten ermöglichen.

Natürlich stellen wir auch im Alltag Wissensansprüche anderen gegenüber auf die Probe. Aber dies geschieht typischerweise viel beiläufiger und ohne eigens dafür geschaffenen Institutionen, also viel weniger epistemisch.

 

 

 

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