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FORSCHUNG

Spinoza: Streit um den tugendhaften Atheismus

SPINOZA

 

Der Streit um den tugendhaften Atheismus Spinozas

 

Das Problem der Theologen

 

Kann jemand, der in seiner Lehre den tradi­tionellen Glauben an Gott, die Gnade und die


Sünde verwirft, ein tugendhaftes Leben führen? Spinoza hat dies getan und damit die Theologen des 17./18. Jahrhunderts zutiefst beunruhigt. „Zuerst wird der Mann als Atheist, und seine Meinungen als höchst verwerflich angegeben; sodann aber zugestanden, dass er ein ruhig nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen; und so schien man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“, spottet Goethe in „Dichtung und Wahrheit“.

 

Michael Czelinski-Uesbeck zeigt in seinem Buch

 

Czelinski-Uesbeck, Michael: Der tugendhafte Atheist. Studien zur Vorgeschichte der Spinoza-Renaissance in Deutschland. 244 S., kt., € 35.80, 2007, Königshausen und Neumann, Würzburg,

 

wie die Theologen verunsichert sind und wegen der Schwierigkeit, diesem Phänomen mit einer plausiblen Theorie zu begegnen, sich bemühen, die Tugendhaftigkeit Spinozas zu widerlegen bzw. zu erschüttern. Es gibt denn auch keinen Philosophen im 17./18. Jahrhundert, dessen Biographie in der Rezeption eine so wichtige Rolle spielt wie die im Falle von Spinoza. Was viele Rezipienten an ihm beeindruckt ist die exemplarische Einheit von Denken und Leben.

 

Philosophie ist für Spinoza nicht nur dem Titel seines Hauptwerkes nach vor allem Ethik, praktizierte Philosophie. Seine Theorie möchte gelingendes Leben nicht nur beschreiben und begründen, sondern vor allem auch bewirken.

 

Spinoza und Gott

 

„Tugendhaft“ zu sein bedeutet für die Theologen, ein „Gott wohlgefälliges Leben“ zu führen, und ein Atheist müsste, sollte er tugendhaft sein, sein Verhalten an diesem Kriterium messen lassen müssen. Wer aber ist ein Atheist? Die Frage wird im 17./18. Jahrhundert anders beantwortet als heute. Ein Atheist ist derjenige, der die Existenz des christlich definierten Gottes leugnet. Aber auch wer nicht der rechtgläubigen orthodoxen Fraktion angehört, wird schon als Atheist bezeichnet. Der Begriff ist also alles andere als scharf umrissen und dient eher der Polemik als der Sachdiskussion. Spinoza wiederum lehnt alle Eckdaten der christlichen Theologie seiner Zeit zum Gottesbegriff ab. Einen persönlichen Gott, den man sich mit menschlichen Eigenschaften vorstellen muss wie etwa gütig oder freundlich oder liebend oder gar hasserfüllt, einen solchen Gott gibt es für Spinoza nicht. Spinoza seinerseits wies aber den Atheismusvorwurf zurück und fühlte sich dem freigeistigen Chri­stentum auf menschlicher Ebene durchaus verbunden. Auch nimmt die Rede von Gott in seinen Werken eine zentrale Rolle ein. Er ist aber nach seiner Exkommunikation der offiziellen Bekenntniszugehörigkeit nach weder Jude noch Christ, ein für das 17. Jahrhundert einmaliges Faktum. Mit seinem pantheistischen Gottesbegriff ist der Gott der monotheistischen Religionen jedoch nicht zu vereinen. Nach dem common sense des 17. Jahrhunderts wird Spinoza also mit Recht als Atheist bezeichnet. Wie schnell sich die Einschätzung aber ändern kann, zeigt der Ausspruch Goethes in einem Brief an Jacobi: „Er beweist nicht das Dasein Gottes, Gott ist das Dasein. Und wenn andere ihn darum Atheum schelten, so möchte ich ihn theissimum, ja christianissimum nennen und preisen.“

 

„Alles aber, was nicht aus Glaube geschieht, ist Sünde“, steht in Römer 14,23. Martin Luther nimmt ähnlich wie Augustin an, dass auch die Tugenden der Heiden Sünde sind. Für die Theologen ist der Glaube an Gott  oberster Garant von Recht und Gesetz, ohne deren Annahme positive Gesetze keine Wir kung haben können. Ohne den Glauben an die Vorsehung Gottes ist für sie auch keine sinnvolle Einrichtung der Welt denkbar, die Religion ist das alle Menschen zueinander führende Bindemittel. Klassisch formuliert: Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt (Dostojewski). Die Protestanten sind überzeugt, dass der Mensch durch den Sündenfall so sehr depraviert und geschwächt ist, dass er

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

nicht von sich aus zum Guten finden kann. Alle Werke der Sünden, auch die guten, sind Todsünde; so argumentierte noch im 20. Jahrhundert der reformierte Theologe Karl Barth.

 

Der Lebenswandel Spinozas

 

Erste Details über Spinoza sind unter Deutschen, die in den Niederlanden leben, bereits 1661 bekannt. 1670 gelangen erste Informationen nach Deutschland. Die früheste Biographie Spinozas ist in den 1677 erschienenen Nachgelassenen Schriften in niederländischer Sprache enthalten. Sie stammt von dem Mennoniten Jarig Jelles und wird alsbald ins Lateinische übertragen. Dabei wird das einsame, weltabgewandte, asketische und arbeitsreiche Leben Spinozas, das ausschließlich von der Erforschung der Wahrheit geprägt ist, hervorgehoben.

Jelles schreibt, Spinoza habe sich von allen „weltlichen Müheseligkeiten und Sorgen“, die ihn an der Erforschung der Wahrheit hindern, freigemacht und deshalb auch seine Geburtsstadt Amsterdam verlassen. Dass Spinoza auch ein geselliger Mensch war, der häufig zum Essen eingeladen wird, aber auch neugierige Besucher empfängt, wird in der von Jelles eröffneten Tradition unterschlagen.

 

Pierre Bayle übernimmt die Jellessche Tradition und stellt dar, wie sehr sich Spinoza zurückzieht, um seinen Studien nachgehen zu können. Er verbindet dies aber mit dem Kommentar, dass es sich um die Beschäftigung mit „abstrusen Überlegungen“ handelt. Für Bayle ist Spinoza der „größte Atheist, den es je gab“ und „der so von gewissen Prinzipien der Philosophie überzeugt war, dass er, um besser über sie nachdenken zu können, sich gleichsam in einen Schlupfwinkel zurückzog, auf alles verzichtend, was man Vergnügen und Eitelkeiten der Welt nennt“. Sebastian Kortholt (1675-1760) trägt das von Jelles stammende Gerücht, dass Spinoza ganze Monate hindurch zu Hause sitzt, bis tief in die Nacht hinein studiert und sich tagsüber dem Umgang mit Menschen zumeist entzieht: „damit keine Stunde verdorben würde, in der er an seinem eignen und dem Verderben der andern arbeitete.“

 

1702 erweitert Bayle in der Neuauflage seines erfolgreichen Dictionnaire historique et critique seine Darstellungen zu Leben und Lehre Spinozas und nimmt über Kortholt gewonnene Erkenntnis mit auf. Dieser Artikel besitzt eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das Spinoza-Bild des 18. Jahrhunderts. Bayle beschreibt Spinoza als „Atheist dem System nach“. Obwohl Bayle seine Abneigung gegen die radikalen Denkansätze Spinozas nicht verhehlt, ist er ihm doch ein willkommenes Beispiel für die Möglichkeit autonomer Sittlichkeit. Wichtig an seiner Darstellung ist das uneingeschränkte Zugeständnis, dass diejenigen, die mit Spinoza Kontakt pflegen, im Urteil übereinkommen, „dass er ein Mensch von guten Umfangsformen, freundlich, höflich, förmlich und sehr ordentlich in seinen Sitten ist“.

 

1705 erscheint die umfangreichste Biographie Spinozas. Sie geht auf den orthodoxen Lutheraner Johannes Colerus (1647-1707) zurück, der ab 1679 in Amsterdam als Pastor wirkte. Der Wert des Textes beruht auf der Fülle des Materials, das er überliefert. Allerdings beeindruckt die Schilderung auch durch ihre Aufrichtigkeit: obwohl weltanschaulich scharfer Gegner Spinozas, kann Colerus nicht umhin, diesem ein besonders tugendhaftes Leben nachzusagen. 1733 und 1734 erscheinen deutsche Übersetzungen des

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Baruch (Benedictus) Spinoza

 

Colerus-Berichts. Für Czelinski ein Kuriosum, da es zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass dazu gibt. Der erste Übersetzer, Faccius, begründet seine Entscheidung: Erstens erkenne man „als aus einem hellen Spiegel, die Tieffe des menschlichen Verderbens“, zweitens werde deutlich, was eine unbehutsame und nachlässige Erziehung an Schaden nach sich ziehe, drittens wisse man nach der Lektüre, vor welcher Art Menschen man sich zu hüten habe, viertens sehe man, wie „die unglaubigsten Leute offt mit einem sonderbahren Schein der Tugend prangen, ein so stilles, gelassenes Leben führen, und die zeitlichen Güter so wenig achten, dass man meynen sollte, sie wären kerngesunde Chri­sten“. Fünftens wird zusammenfassend behauptet, dass und wie eine Atheistenvita in ihrer reinigenden Wirkung als Warnung und Spiegel diene, die „einem tugendhafften Gemüthe zu großem Vortheil gereichen“ könne.

 

Der zweite Übersetzer ist Wigand Kahler (1699-1747). Auch Kahler rechtfertigt seine Übersetzung. Es gebe, schreibt er, eine Art Pflicht, atheistische Lehren ans Licht zu bringen, um ihre Schwächen verdeutlichen zu können und ihnen vor allem den Reiz des Geheimnisvollen und Verbotenen zu nehmen.

 

Die Theologen greifen an

 

Im Unterschied zu den oft mit ihm genannten und verabscheuten Atheisten Epikur und Hobbes ist Spinoza als eine Mischung von Jude, Exkommuniziertem, Iberer und Atheist ein vollkommenes Exotikum. Diese Fakten werden nun von den Theologen thematisiert und zu gezielt polemischen und diffamierenden Zwecken instrumentalisiert. Gleichzeit werden damit Gerüchte über Spinoza in die Welt gesetzt. Viele sehen bereits Spinozas Gesicht als durch ein „Zeichen der Verdammnis“ geprägt. Es kommt zu Wortspielen wie „Benedictus de Spinoza, welchen man aber richtiger Maledictus nennen sollte“. Auch wird das Gerücht in die Welt gesetzt, Spinoza habe sich nach seiner Exkommunikation aus der jüdischen Gemeinde zum Christentum bekehrt.

 

Insgesamt kann man nach Czelinski von zwei Traditionslinien sprechen: eine judenfeindliche kritisiert Spinoza anhand der sich ins Christentum einschleichenden Juden und sieht in Spinoza eine „Probe der Jüdischen Verstockheit und Boßheit“. Eine andere stellt den Atheismus ins Zentrum und sieht Spinoza als jemanden, der als überzeugter Atheist heuchlerisch-tugendhaft lebt und seine Philosophie als eine Lehre ausgibt, die ebenfalls heuchlerisch Gott in den Mittelpunkt stellt und seine Gegner damit gleich doppelt empört. Sein angeblich zurückgezogenes Leben diene nur dazu, in heimlicher Stille gefährliche Lehren auszuklauben.

 

Hier ist Johannes Musäus der versierteste Spinoza-Gegner. Für ihn ließ Spinoza „keine Geisteskraft, keine List, zuletzt keine Art von Ränken unversucht, dass man mit Fug und Recht zweifeln möchte, ob wohl unter denen, die der Teufel selbst zur Vernichtung alles göttlichen und menschlichen Rechts gedrungen hat, irgendeiner zu finden ist, der bei diesem Zerstörungswerk tätiger gewesen wäre als dieser zum größten Unheil der Kirche und des Staates geborene Betrüger“.

Es gibt in dieser Zeit nur wenige Stellungnahmen, die den Berichten über Spinozas tugendhaften Lebenswandel Glauben schenken bzw. diese Tatsache unumwunden akzeptieren und nicht relativieren. In größerem Umfang geschieht das ab 1730/1740. Eine frühe, aber keine Öffentlichkeit erlangende Stellungnahme ist die von Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733). Er führt Spinozas Lebensführung als Beispiel und Vorbild des tugendhaften Atheisten an. Auch Leibniz gibt 1704 eine vorteilhafte Beurteilung Spi-

nozas, die auf seinen Besuch bei Spinoza im Jahr 1676 zurückgeht, aber sicher auch unter dem Eindruck von Berichten anderer entstanden ist. Für Leibniz stellt Spinoza ein Muster an Tugend dar. Er argumentiert in diesem Zusammenhang dafür, dass theoretische Atheisten bzw. diejenigen, die nur durch philosophische Spekulation „zu ihren Irrtümern“ gelangten, von Natur aus weit entfernt seien von den Lastern, deren „der gemeine Mann“ fähig sei. So gebe es Menschen „von vortrefflichem Charakter“, die trotz ihrer abweichenden Meinungen niemals etwas ihrer Unwürdiges tun würden, „und so kann man sagen, dass z.B. Epikur und Spinoza ein vollkommen musterhaftes Leben geführt haben“.

 

Pierre Bayle und das Paradox des tugendhaften Atheisten

 

Am Beispiel der „guten Sitten jener Menschen, die keinerlei Religion besitzen“, verfolgt Bayle eines seiner Hauptanliegen: die Trennung von Religion und Moral. Er macht in provokativer Absicht das gewollt paradoxe Bild Spinozas als des tugendhaften Nicht-Christen und dennoch „größten Atheisten, der jemals gelebt hat“, besonders stark. Spinoza avanciert in den Jahren 1682 bis 1706 zum Kronzeugen für den Nachweis, dass Atheisten tugendhafte Menschen sein können und auch eine Gesellschaft von Atheisten denkbar sei. Damit stellt er den Sinn der Verbindung von Religion und Moral in Frage. Er zerstört das traditionelle Argument der moralischen und politischen Nützlichkeit der Religion für den Bestand einer geordneten menschlichen Gesellschaft. Vom Atheismus unterscheidet Bayle den Libertinismus. Libertinismus ist sinnlich, recht verstandener Atheismus intellektuell fundiert. Der Reli­gion sind die systematischen Atheisten nicht gefährlich, da sie den Nutzen der Religion erkennen: Sie beschränken sich auf die Theorie, führen aber sonst einen ernsten, strengen und, auch nach Kategorien der Religion, tugendhaften Lebenswandel. Dagegen verleitet die egoistische Eitelkeit und Sinnlichkeitssucht der „libertins“ zur Nachahmung – und konsequent verlangt der Toleranzdenker Bayle nicht gegen Atheisten Repression, sondern gegen die „libertins“.

 

Bayle weist sogar auf einen Vorzug der Atheisten gegenüber Gläubigen hin, insbesondere den noch leichter als die Gläubigen zum Fanatismus neigenden Abergläubischen: Atheisten sind vorwiegend der Vernunft verpflichtet und nicht transrationalen Ideen. Dies bewahrt sie vor den immer wieder auftauchenden Folgeproblemen des Fanatismus in Form der Verfolgung Andersdenkender und -glaubender bis hin zur Inquisition und Tötung von „Glaubensfeinden“. Der tugendhafte Atheist avanciert bei Bayle sogar zum Musterbürger.

 

Der Kampf gegen Pierre Bayle

 

Die Diskussion der Bayle-Thesen findet im Rahmen der allgemeinen Atheismus-Dis­kussion statt. Johann Georg Prinz (1662-1732, Professor für Theologie in Greifswald) eröffnet den Kampf, indem er zeigen will, wie gefährlich der Atheismus für das menschliche Geschlecht sei. Er hat keinen Zweifel, dass dieser das festeste Band der menschlichen Gesellschaft, die Religion, zerstören wolle.

 

Ein anderer Bayle-Gegner ist Georg Abicht (1672-1740). Abicht gehört zu den „Athei­stenfressern“ (Barth) der lutherischen Orthodoxie, die polemische Rundschläge bevorzugen. Sein erstes Urteil gegen den Atheismus lautet, dieser beseitige „die schöne und süße Hoffnung“ auf ein jenseitiges Leben und damit die Wirkung zukünftiger Belohnungen und Strafen. Entfalle dies, sei die Seelenruhe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pierre Bayle

 

und in Konsequenz auch der innere Frieden im Staat gefährdet. Denn wenn die diesseitigen Strafen bzw. die Aussicht auf zukünftige Subventionen entfallen, halte sich niemand mehr an Gesetze und es drohe ein Hobbesscher Kampf aller gegen alle. Ähnlich argumentiert Zacharias Grape (1671-1713): Der Staat müsse Atheisten bestrafen, nicht nur, weil sie die Sitten verderbten, sondern auch, weil sie nicht vereidigt werden könnten. Die Tugenden der Atheisten seien nur Scheintugenden, auch der Teufel könne sich in einen leuchtenden Engel verwandeln, und deshalb überzeugten die Beispiele Bayles nicht: es handle sich dabei um ein scheinbar gutes Handeln, niemand könne das Innere eines Atheisten kennen und was diese heimlich und wirklich dächten.

 

Johann Fritz Budde (1667-1729) fasst mit seinen Schriften die Diskussion um Atheismus und Spinozismus systematisch zusammen. Er bildet den eigentlichen Höhepunkt der Debatte um den tugendhaften Atheisten. Budde, ab 1693 Professor der Moralphilosophie an der Universität Halle, ab 1705 Professor der Theologie in Jena, steht als Übergangstheologe in einem gedanklichen Dreieck zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Seine Theses theologicae de atheismo von 1716 sind das seinerzeit wirkmächtigste Kompendium zum Atheismus-Problem. Budde verfolgt damit zwei Ziele: einerseits den Atheismus der Antike und der Moderne zu untersuchen und andererseits jene philosophischen Systeme zu finden, die in Konsequenz zum Atheismus führen. Auch Budde sieht katastrophale Wirkungen des Atheismus: Das Band der bürgerlichen Gesellschaft wird aufgelöst und das Wohl der Republik über Bord geworfen.

 

Thomasius gegen Tschirnhaus

 

1688 wird im Streit zwischen Christian Thomasius (1655-1728) und Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651-1708) erstmals auf deutschem Boden mit spinozistischen Ideen auf dem Gebiet der Ethik gefochten, erstmals wird ein deutscher Gelehrter des Spinozismus beschuldigt. Mit der Auffassung, dass die Vollkommenheit unserer Natur und unseres Intellekts den Inhalt unserer Glückseligkeit bildet und zugleich das Mittel, dieses Ziel zu erreichen, kommt Tschirnhaus Spinoza nahe. Der Streit zwischen Thomasius und Tschirnhaus konzentriert sich auf die Frage nach dem Nützlichen, der Definition der Tugend und der Frage nach dem höchsten Gut. Dabei geht es konkret um die Möglichkeit einer Ethik, die nicht auf dem Boden der Offenbarung steht. Thomasius stellt als Bedingung für Toleranz auf, dass der Toleranzfordernde seinen Verstand unter die Oberherrschaft Gottes stellt.

 

Im 18. Jahrhundert setzte sich schließlich die Ansicht durch, dass Atheisten nicht notwendigerweise amoralische Menschen sind – was noch im 17. Jahrhundert allgemein angenommen wurde. Diese Einsicht machte sich an Sokrates, ganz besonders aber an Spinoza fest. Hinter Bayle und Wolff mit ihrer empirischen Falsifizierung der These, dass es ohne Religion kein respektables      Ethos geben könne, geht kaum noch jemand zurück. Der erste große Niederschlag einer Neubewertung Spinozas ist die 1783 erscheinende Spinoza-Biographie von Heinrich Friedrich Diez. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgt dann eine eigentliche Spinoza-Renaissance.