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Hermeneutik: Hans Krämer kritisiert Gadamers "Antirealismus"

HERMENEUTIK

 

Hans Krämer kritisiert Gadamers „Antirealismus“

 

Hans-Georg Gadamer hat, angeregt von Heidegger und Bultmann und im Gegenzug zum objektivierenden Historismus, den Hermeneutikbegriff so verändert, dass er nur noch antirealistisch verstanden wird. In seiner Metatheorie der hermeneutischen Wissenschaften wird der Bedeutungsrahmen jeweils aus dem Fortgang der Wirkungsgeschichte neu erzeugt. Hans Krämer, emeritierter Philosophieprofessor in Tübingen, geht mit seinem neuen Buch

 

Krämer, Hans: Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus. 254 S., kt., € 24.90, 2007, C.H. Beck, München

 

mit Gadamer und seinen interpretationstheoretischen Nachfolgern scharf ins Gericht. Zwar bleibe dabei die Objektivität der Wissenschaft gewahrt, der Wahrheits- und Sinnanspruch sei aber an ein entsprechend aufgeladenes „Verstehen“ geschichtlicher Art      übergegangen. Die ältere Hermeneutik hatte noch am Realismus geisteswissenschaftlichen Erkennens auch in der Metatheorie festgehalten, Gadamers Übergang zu einem Antirealismus ist in der Geschichte der Hermeneutik neuartig.

 

Für Gadamer ist jedes Verstehen mit der Anwendung (Applikation) auf die eigene Situation verbunden. Sinn erzeugt sich für ihn immer wieder neu und anders aus der Wirkungsgeschichte. Der Preis dieser dauernden Relevanz von Geschichte ist die Relativierung von Sinn und Wahrheit – Gadamers Antirealismus. Dabei versteht Gadamer die Interpretation nicht als Auslegung der Sachen selbst, sondern der vorangegangenen Interpretation von Texten, die jeweils neu zu deuten und verstehen sind. Gadamer ist es aber nicht möglich, so die Kritik Krämers, seinen Antirealismus zu beweisen ohne wenigstens einige realistische Annahmen vorauszusetzen. So kann man nicht überzeugend von einem Pluralismus von Standpunkten aus argumentieren, wenn es einen solchen Pluralismus nicht wirklich gibt. Kann man jedoch den hermeneutischen Antirealismus nicht beweisen, bleibt er eine Annahme unter anderen und ist nicht verbindlich zu machen. Für Krämer wäre es dann richtiger, sich des Urteils grundsätzlich zu enthalten. Krämer geht aber noch weiter: Interpretativität kann nicht von der Ich- oder Wir-Perspektive in Anspruch genommen werden, weil wir die zugehörigen Zusammenhänge zwischen Interpretandum und Interpretativität nicht überblicken. In der Perspektive der ersten Person ist daher über skeptische Urteile nicht hinauszukommen. Dagegen kann in der Perspektive der zweiten oder dritten Person durchaus affirmativ von Interpretativität die Rede sein. Das ist darin begründet, dass ich/wir die Interpretation Anderer und Dritter sehr wohl überblicken und durchschauen kann/können, und zwar gerade in der ihnen selbst unbewussten Zuordnung von Interpretandum und Interpretament. Das heißt: Die Relation von Interpretandum und Interpretament wird von „außen“ gesehen und dadurch objektiv und realistisch betrachtet. Eine solche Interpretativität ist also systematisch nicht etwa antirealistisch einzuordnen, sondern gerade als ins Bewusstsein gehobene dem Realismus zuzuschlagen.

 

Gadamer hat die pietistische Dreiteilung der Hermeneutik in Verstehen, Explizieren und Applizieren übernommen, aber dabei eigenwillige Akzente gesetzt. Zunächst hat er, Schleiermacher folgend, die Unterscheidung zwischen Verstehen und Explizieren soweit abgeschwächt, dass das Verstehen die Interpretation voll vertritt. Die Applikation, das neuartige Moment des Gegenwartsbezuges, schreibt er anders als die Pietisten dem Verstehen selbst zu, für ihn reicht Applikation vom Akt des Lesens bis hin zur Darstellung und Inszenierung. Verstehen heißt nun bei Gadamer Applizieren; insofern Verstehen immer perspektivistisch oder wirkungsgeschichtlich bedingt ist, ist es notwendig mit Anwendung verbunden. Applikation steigt damit bei Gadamer zum zentralen Konzept der Hermeneutik auf: es bestimmt das Verstehen so maßgebend, dass es davon nicht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

mehr abgetrennt werden kann. Damit aber gehen diejenigen Momente der traditionellen Applikation verloren, die über die Verstehensprozesse hinaus den Bezug zur Wirklichkeit und Praxis herstellen. Für Krämer ist Gadamers Begriff hermeneutischer Erfahrung sowohl zu komplementieren als auch in seiner Tragweite einzuschränken.

 

Da der eigene Standort prinzipiell nie verlassen werden kann, vermag sich, so Krämers Kritik, der Interpret immer nur selbst wiederzuerkennen. Jedes Interpretandum lässt von einem gegebenen Standort aus im Prinzip jede Interpretation zu. Alle Interpretanda lassen von einem gegebenen Standpunkt aus jede Interpretation zu, deshalb gibt es auch keine Irrtümer und Falsifikationen. Daraus folgt, dass alle Interpretationen gleichwertig sind, da sich keine überstandpunktlichen Kriterien ausmachen lassen, die eine Interpretation vor der anderen auszeichnen könnten.

 

Es sind also zwei Dilemmata, vor denen Gadamers Hermeneutik steht: das Beweisdilemma, das den Antirealismus in der Schwebe lässt und das Pluralismus-Dilemma. Dazu kommt aber noch mehr. Gadamer unterscheidet weder zwischen historischen und systematischen Wissenschaften noch thematisiert er eine systematische Instanz. Damit überbordet er die Historie mit vielfach unlösbaren Aufgaben.

 

Das Kühne und Provozierende der Konzeption Gadamers liegt darin, dass er den Gesichtspunkt der Anwendung über den näheren Kontext hinaus auf Fremdkulturelles – früheres und gleichzeitiges – erweitert. Aber, so wendet Krämer ein, Anwendung ist prinzipiell nur in der Gegenwart möglich, nämlich innerhalb eines geltenden „Systems“. Sie darf nicht ohne weiteres auf vergangene Sy­steme und überhaupt auf die Vergangenheit übertragen werden. In dem Maße wie eine Regel, ein Theorem oder ein Kunstwerk an Aktualität verliert, ist es nur noch historisch zu erfassen, d.h. es scheidet aus dem Kreis der Anwendungskandidaten aus. Der Historiker analysiert vergangene „Anwendungen“, die als solche keine aktuellen Anwendungen mehr sein können und sich darin von allen gegenwartsbestimmten Anwendungen unterscheiden. Geltung und Historisches verhalten sich deshalb komplementär und gegenläufig zueinander. Gadamers Überbelichtung der Historie hat zur Folge, dass gerade die „normale“ Anwendung unterbestimmt bleibt. Sie setzt zudem das Subjekt des Anwenders an den falschen Platz: in die Historie selbst und nicht in den systematischen Disziplinen und ihren lebensweltlichen Analoga. Auch verkennt Gadamer, dass die Texte oft instrumentell eingesetzt werden, um zur Sache selbst hinzuführen. Er erklärt demgegenüber jeden Text zum Selbstzweck. Der literarisch stilisierte Text rückt damit an die Seite des Kunstwerkes, während die Information als Hauptzweck des Textes vernachlässigt wird. Gadamer stellt das hermeneutische Tun insgesamt als ein „Sein zum Texte“ dar, der undifferenziert mit ontologischen Qualitäten ausgestattet und dadurch aufgewertet wird.

 

Neben Gadamer vertreten auch G. Abel, H. Lenk und J. Simon eine Interpretationsphilosophie. Diese Autoren sind sich einig, dass auch die Wahrnehmung – die Hauptquelle der Erkenntnis – interpretativ ist. Auch hier setzt Krämer sein kritisches Messer an: Die Wahrnehmung mag zwar im Einzelfall interpretativ sein; dies aber im einzelnen und generell nachzuweisen, setzt einen Rückgang zum Interpretandum der Wahrnehmung voraus, der entweder zur Realität oder zur Skepsis führt (letzteres dann, wenn der Rückgang misslingt). Die Interpretation in der Wahrnehmung kann demnach aufgedeckt und da-


durch neutralisiert werden oder die Behauptung der Interpretativität bleibt unverbindlich. Die Auffassung Abels, dass alles nur interpretiert sei, lässt nur eine skeptische Version zu. Einer solchen Skepsis unterliegt aber auch das Graduierungsprinzip: Es kann interpretativ, aber auch richtig sein, ohne dass eine begründete Entscheidung möglich wäre. Und wenn die Interpretationsphilosophie annimmt, dass die aufgedeckten Verhältnisse selbst noch einmal interpretiert werden, wird sich das Problemfeld vollends undurchsichtig.

 

Demgegenüber betont Krämer den Vorteil der Durchsichtigkeit und Kontrollierbarkeit der realistischen Fallibilität. Beide, Gadamers Hermeneutik und die Interpretationsphilosophen bekämpfen hingegen die Idee einer realen Annäherung an das Erkenntnisziel. Denn da im Interpretationismus alle Interpretationen als solche gleichwertig sind, ist eine Approximation an ein Ansichseiendes nicht mehr diskutabel, sondern lediglich eine interne, der Interpretation immanente Art des Fortschreitens von nur subjektiver Geltung. Der interpretationistische Ansatz sinkt damit zum Status einer Vermutung herab. Für Krämer kann hingegen die Intuition einer Approximation als Fortschritt und als Näherung an den Gegenstand nicht verabschiedet werden. Insbesondere müsse man von Vorstellungen Abstand zu nehmen, es gebe Bedingtheiten, die für immer undurchschaubar bleiben.

 

Konkretisiert wird der Konflikt zwischen Realismus und (antirealistischem) Interpretationismus auf der linguistischen Ebene durch das Problem der Übersetzbarkeit: Dass nicht alle Übersetzungen „gleich gut“ sind, ist eine triviale Erfahrung.

 

Krämer schreibt der Interpretationsphilosophie insgesamt einen defizitären Theoriestatus zu: Nicht nur fehlt die eigentliche Beweistheorie, sondern auch eine Selbstbegründung idealistischen Typus, die den eigenen Standpunkt hinreichend reflektiert. Bei Abel sieht er dies in der Weigerung, die Gesamttheorie noch einmal zum Thema zu machen.