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FORSCHUNG

Biologie: Der neuronale Determinismus in der Kritik

NATURWISSENSCHAFTEN

 

Der „neuronale Determinismus“ in der Kritik

 

Im Rahmen der Berliner Arbeitsgruppe „Humanprojekte – Zur Stellung des Menschen in der Natur“ ist das gegenwärtig viel diskutierte Freiheitsproblem interdisziplinär behandelt und in den Kontext des Lebendigen eingeordnet worden. Die ersten Ergebnisse liegen nun in dem Buch

 

Heilinger, Jan-Christoph (Hrsg.): Naturgeschichte der Freiheit. 496 S., Ln., 2007, € 68.—, de Gruyter, Berlin

 

vor, das Beiträge von 22 Autoren aus den Naturwissenschaften und der Philosophie enthält.

 

In der bisherigen Diskussion waren es vor allem einzelne Biologen, die immer wieder argumentierten, dass neuronale Prozesse ihr Korrelat in Gehirnprozessen haben und ihrem Wesen nach determiniert ablaufen. Die Freiheit von Willensentscheidungen und Handlungsentschluss sei deshalb ein subjektiv konstruiertes Phänomen. Die Möglichkeit, Kausalketten aus dem Bewusstsein heraus in Gang zu setzen, sei ebenso illusionär wie die Vermutung, man hätte sich auch anders entscheiden können. Die zur Debatte stehenden Vorgänge laufen vielmehr im modular organisierten, informationsverarbeitenden neuronalen Netzwerk des Gehirns ab. Allerdings räumen die Biologen ein, dass diese Prozesse so komplex sind, dass es auf lange Zeit hin und vielleicht für immer unmöglich sein wird, sie genau zu verstehen und vorauszusagen. Jens G. Reich, ebenfalls ein Biologe, hält die für Leichtigkeit verwunderlich, mit der die Biologen als Teilnehmer an der Debatte über die Freiheit des Willens dazu neigen, die kausale Determination von einem methodisch-heuristischen Prinzip, das erfolgreich bei der Gewinnung und Ordnung von Wissen vorausgesetzt wird, in ein metaphysisches Postulat umzuwandeln. Die Biologen, so Reich, überschrei- ten dabei den Geltungsbereich ihrer Theoreme.

 

Er verweist auf den Ursprung der Evolu­tionslehre: Sie war zu Beginn eine historische Beschreibung dessen, was vorgefallen war. Sie begann mit den Fossilien vergangener Lebensformen und legte eine sich selbst definierende Zeitskala über die Phänomene. Mit Hilfe von Zeitzuordnung und Phänomenologie betrieb man Naturgeschichte gerade so wie der Historiker aus Zeitangaben und erinnerten Ereignissen Universalgeschichte ableitet. Darwins Evolutionstheorie konnte die kausale Beschreibung nur induktiv und extrapolierend einführen, nämlich in der Form seines universellen Ausleseprinzips. Sie blieb jedoch offen, da er die verursachenden Agenten für die beobachtete universelle Variation nicht ausfindig machen konnte. Erst mit dem Siegeszug der experimentiellen Biologie trat der Determinismus als methodisch notwendiges Postulat in den Vordergrund. Um glaubwürdig zu sein, muss ein biologisches Experiment wiederholbar sein. Hinter dem Postulat der Reproduzierbarkeit steht daher denknotwendig das Postulat der Determiniertheit, nämlich dass sich natürliche Prozesse im Experiment so einrichten lassen, dass sie determiniert ablaufen. Wo das nicht vollständig gelingt, versieht man die Aussage mit statistischen Schwankungsbreiten und anderen Spezifikationen, die das Postulat der Determiniertheit vor Schwankungen schützen. Eine nicht reproduzierbare Aussage wird ins Reich der grundlosen Spekulation oder bestenfalls der Hypothesen verwiesen. Diese experimentelle Methode ist jedoch Teil des Reduktionsprogramms von Biologie auf physikochemische Elementarwelt. Das Determinismuspostulat, das dieses Programm mit sich bringt, wird nun unkritisch als metaphysisches Prinzip akzeptiert wobei man über die epistemischen und ontologischen Probleme der modernen Physik hinweg sieht.

 

Reich weist darauf hin, dass ein gut konzipiertes Experiment zuvor dem Leben das Leben austreibt. Es gibt kein Experiment, das eine Aussage über die Natur, wie sie ist, ermöglicht, die Aussage, ist ihr immer abgepresst worden. Oft kann man die Natur zur Antwort zwingen und diese „verwenden“ – oft jedoch weicht die Natur geschickt einer klaren Antwort aus. Entscheidend jedoch ist: Beim interpretierenden Übergang vom Experiment in die natürliche Welt verflüchtigt sich die Kausalität. Den isolierten Vorgang kann man noch plausibel als kausale Sukzessionsbeziehung beschreiben, im gesamten System gelingt das nicht mehr.

 

Auch für Andreas V.M. Herz, Professor für „Computational Neuroscience“ an der Berliner Humboldt-Universität, sind die dem „neuronalen Determinismus“ zugrunde liegenden Annahmen aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. Lebensvorgänge laufen bei Temperaturen oberhalb des absoluten Nullpunktes ab. Damit sind sie thermischen Schwankungen ausgesetzt und müssen in letzter Instanz als stochastische Prozesse beschrieben werden. Die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses gehorchen dabei zwar deterministischen Gesetzen; ob das Ereignis jedoch auch eintritt und wann dies geschieht, ist unvorhersagbar. Auch stellt ein Organismus kein abgeschlossenes System dar, sondern steht andauernd mit seiner beliebig hochdimensionalen Umwelt in Verbindung. Aus diesen beiden Gründen kann die zukünftige Entwicklung eines Organismus selbst bei vollständig bekannten internen Anfangsbedingungen nicht exakt vorausgesagt werden.

 

Nervensysteme sind prinzipiell als Systeme mit stochastischer Dynamik aufzufassen; die thermischen Fluktuationen sind so groß, dass sie direkt in physiologischen Experimenten messbar sind. Das bedeutet, dass die Dynamik des Gehirns nicht als deterministischer Vorgang aufgefasst werden kann. Und da sich die Fluktuationen nicht exakt herausmitteln lassen, betrifft diese einfache Erkenntnis alle Ebenen neuronaler Organisation – von subzellulären Prozessen bis zu Erregungsmustern des gesamten Gehirns. Dies bedeutet nach Herz insbesondere, dass Versuche, die den Entscheidungsprozessen zugrunde liegenden neuronalen Abläufe als deterministische Vorgänge zu beschreiben, nicht erfolglos sind – dies ist für ihn der zentrale Fehler des „neuronalen Determinismus“. Und selbst wenn das Gehirn ein deterministisches Sy­stem wäre, wäre dies aufgrund der vielen Rückkopplungsschleifen und starken Nichtlinearitäten mit hoher Wahrscheinlichkeit ein im mathematischen Sinn chaotisches System und damit in seiner dynamischen Entwicklung nicht vorhersagbar.

 

Für das Problem der Willensfreiheit hat dies Folgen: Wegen der Unbestimmtheit neuronaler Vorgänge ist das verhaltensrelevante Ergebnis eines Entscheidungsprozesses nicht eindeutig festgelegt. In „einfachen“ Fällen, bei denen für eine von zwei oder mehreren Entscheidungsoptionen deutlich mehr (neuronal repräsentierte) Argumente sprechen, wird die Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit dieser unter den gegebenen Bedingung besten Option folgen. Wegen der auf allen Ebenen neuronaler Organisation auftretenden Fluktuationen muss dies jedoch nicht unbedingt so sein. Zufällig können andere und in ihren Konsequenzen nach schlechtere Entscheidungsalternativen realisiert werden, was subjektiv im Nachhinein als Fehlentscheidung empfunden werden mag.

 

Dieses prinzipielle Unvermögen, in schwierigen Situationen optimale Entscheidungen verlässlich zu treffen, bedeutet eine starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit eines biologischen Organismus. Interne neuronale Bewertungssysteme erlauben es jedoch (auch wenn sie selbst fehlerhaft sind), die Vor- und Nachteile früherer Entscheidungen zu analysieren und darauf aufbauend Lernprozesse zu initiieren, die die Wiederholung einer „falschen“ Entscheidung zwar nicht ausschließen, ihre Wahrscheinlichkeit aber deutlich verringern können.

 

Es ist daher für einen Organismus von Vorteil, über Mechanismen zu verfügen, die die Stochastizität neuronaler Dynamik geschickt nutzen, um neue und bessere Handlungsop­tionen zu eröffnen. In diesem Sinn könnte im Laufe der Evolution schrittweise eine kognitive Strategie entstanden sein, die wir selbst als Willensfreiheit empfinden: Die prinzipielle neuronale Unbestimmtheit von Entscheidungsprozessen muss dann nicht mehr fatalistisch als eine uns aufgezwungene Willkür empfunden, sondern kann subjektiv als Chance interpretiert werden, in zukünftigen Situationen neue Wege einzuschlagen. Daraus ergibt sich eine grundlegend veränderte motivationale Situation, die Lernprozesse gezielt fördern und so die Wahrscheinlichkeit nachteiliger zukünftiger Entscheidungen verringern kann.

 

Auch laut Martin Heisenberg, Begründer der Neurogenetik in Deutschland (und Sohn von Werner Heisenberg), muss man heute nicht mehr eine Verletzung der Physik als Bedingung für Freiheit fordern. Denn wegen der Quantenunbestimmtheit gehen Ursache und Wirkung nicht von Anfang bis Ende durch, sondern reißen ab. Das verbissene Festhalten an der Vorstellung, nichts geschehe ohne hinreichende Gründe, ist das Relikt einer schon seit 100 Jahren überwundenen Fehlinterpretation der Naturwissenschaften. Man übersieht leicht, dass die Physik eine Abstraktion ist.

 

Verhaltensmodule können ohne Anstoß von außen aktiviert werden. Das heißt aber nicht, dass diese Aktivierung keine physiologischen Ursachen hätte. Nur muss sie auch ein Element des Zufalls enthalten. Denn die Aktivierung antwortet nicht auf einen Reiz oder ein anderes Verhalten, sondern sucht nach einer Antwort, nach noch unbekannten Wirkungen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Verhalten „um zu…“ nennt man im Fachjargon operant. Darunter fallen die verschiedensten Formen des Suchens und Ausprobierens. Operantes Verhalten gehört zu den elementarsten Grundlagen des Verhaltens.

 

Im Ausprobieren erklärt sich das Verhalten nicht aus seinen Ursachen, sondern aus seinen Konsequenzen. Das Tier muss seinen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                             Olaf L. Müller

 

 

Zustand vor und nach dem Verhalten mit   einem erstrebten Zustand vergleichen. Verringert sich der Abstand zwischen dem aktuellen Zustand und dem erstrebten, setzt das Tier das Verhalten fort, vergrößert er sich, bricht es das Verhalten ab und probiert etwas anderes. Beim Ausprobieren kann das Tier etwas über die Folgen seines Verhaltens lernen und damit unter Umständen später unangenehmen Situationen zuvorkommen.

 

Aus philosophischer Perspektive wendet der Berliner Philosoph Olaf L. Müller Putnams Gehirn-im-Tank-Gedankenexperiment auf das Problem der Willensfreiheit an. Benjamin Libets berühmte Experimente haben gezeigt, dass sich im Vorfeld willkürlicher Körperbewegungen Bereitschaftspotentiale im Gehirn aufbauen, lange bevor den Versuchspersonen die zugehörigen Entscheide für die Handbewegung bewusst werden – das Bereitschaftspotential ist durchschnittlich   eine Drittelsekunde früher da. Anders als Libet selbst gehen einige der radikaleren Interpreten dieser Befunde (wie der Biologie Wolf Singer) so weit zu behaupten, dass sich solche und ähnliche Befunde überhaupt nicht mit der Annahme vertrügen, wir seien in unseren Entscheidungen frei; sie behaupten, unser gegenteiliger Eindruck von Freiheit sei am Ende nichts anderes als Illusion. Viele Vertreter der These der Willensfreiheit haben sich gegen diesen Schluss zur Wehr gesetzt. Ihr einflussreichstes, in vielen Facetten vorgetragenes Argument lautet: Unsere Entscheidungsfreiheit üben wir nicht so sehr dann aus, wenn wir plötzlich aus heiterem Himmel die Hand bewegen; vielmehr üben wir sie dann aus, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiele steht – und in diesen Fällen geht der Entscheidung ein langwieriges Prozess voraus, in dem wir unsere Chancen, unsere Ängste und unser Wissen ins Spiel bringen

 

Für Müller hat dieses Argument trotz aller Vernünftigkeit einen Haken. Vielleicht bildet Libets ursprüngliches Argument nur die Spitze eines riesigen Eisberges voll Unfreiheit. Die Experimentalwissenschaftler feiern ihre ersten Erfolge fast immer unter den exzessiven Einschränkungen innerhalb ihres Labors; dann lösen sie sich Schritt für Schritt von diesen Einschränkungen, bis es ihnen gelingt, auch die echten und komplizierten Phänomene außerhalb ihres Labors in den Griff zu kriegen. Und Libet hat mit seinem ursprünglichen Versuchsaufbau ein gigantisches Experimentierfeld aufgetan. Vielleicht können seine Nachfolger schon bald nachweisen, dass die neuronale Aktivität im Gehirn des durchschnittlichen Roulette-Spielers auf ganz spezifische Weise in Schwung kommt, lang bevor diesem bewusst wird, dass er seine Jetons auf Rot setzen will. Anders als bei Libets Experiment sind hier Entscheidungen betroffen, bei denen im wahrsten Wortsinn etwas auf dem Spiele steht. Von hier sind es vielleicht nur noch kleine Sprünge bis zur Menuewahl im Restaurant und dann zum Stimmverhalten der Parlamentarier bei Abstimmungen ohne Fraktionszwang.

 

Philosophen, denen diese Argumente gegen den Strich gehen, verweisen auf Gründe. Sie sagen: Wir sind in dem Maße frei, in dem wir unsere Entscheidungen an echten Gründen ausrichten, und ausgedachte Experimente sind für diesen Faktor allesamt blind. Gründe zählen, damit ist Müller einverstanden. Aber sie zählen nur, wenn ihnen handfeste Taten folgen. Solange sich die Gründe und Gegengründe im luftleeren Raum nutzlose Gefechte liefern, solange sind sie für unser Problem irrelevant. Aber bei Taten kommt unumgänglich der Aufbau des Bereitschaftspotentials ins Spiel. Die Anhänger der Willensfreiheit sollten deshalb mit dem Schlimmsten rechnen.

 

Müller plädiert deshalb dafür, den Aufbau der Verteidigungslinie tiefer anzusetzen und von dort den naturalistischen neuronalen Determinismus gleichsam zum Einsturz zu bringen. Dazu greift er auf Putnams „Gehirn-im-Tank“-Gedankenexperiment zurück. Er denkt sich fiktive Wissenschaftler aus, die Gehirne genau wie wir haben. Nur stecken diese nicht in menschlichen Körpern, sondern schwimmen in einem Tank mit Nährflüssigkeit herum, in dem sie künstlich am Leben gehalten werden. Die Input-Nerven­bahnen dieser Gehirne kommen aus einem gigantischen Simulationscomputer, der die eingetankten Wissenschaftler zuverlässig mit sensorischer Information versorgt – und zwar mit genau denselben Sinnesreizen, denen normale Menschen typischerweise ausgesetzt sind. Für einen Naturalisten folgt nun:

 

a) Die Ergebnisse der Forschungen dieser Wissenschaftler handeln nun entgegen deren Meinung nicht von der Welt, in die der Tank eingebettet ist, sondern von einem Ausschnitt dieser Welt: vom Universalspeicher des Simulationscomputers und dessen Speicherzuständen. b) Die eingetankten Wissenschaftler werden „Da ist ein Tiger“ sagen, wenn sie in den Genuss derartiger Simulationen aus dem Computer kommen. c) Beobachtungssätze sind typischerweise wahr.

 

Für eine naturalistische Interpretation der Tanksprache heißt das nun, dass die eingetankten Gehirne nicht über das Organ reden können, in dem sich ihr mentales Leben de facto abspielt – sie können nicht über echte Gehirne reden. Denn wenn sie das tanksprachliche Wort „Gehirn“ in den Mund nehmen, so meinen sie damit bestimmte   Codes im Universalspeicher. Die neurophysiologischen Bemühungen der eingetankten Wissenschaftler sind völlig irrelevant für die Frage, wie ihr eigenes Urteilen, Fühlen und Wahrnehmen funktioniert.

 

Was bedeutet dies für die Neurophysiologie? Solange sie sich darauf beschränkt, Gehirne in der technischen Fachsprache der elektrischen Potentiale und neuronalen Feuermuster zu beschreiben, droht ihr keine Gefahr. Wenn sie aber mentale Vokabeln wie „urteilen“ oder „fühlen“ verwendet, sind ihre Schlussfolgerungen vom Irrtum der eingetankten Wissenschaftler bedroht. Angenommen nun, die eingetankten Wissenschaftler hätten die Vermutung, dass ihre Entscheidungen außerhalb der Grenzen dessen stattfinden, was sie den „physikalischen Raum“ nennen, so könnten sie diese Vermutung zwar artikulieren, aber nicht begründen. Vielleicht, so Müller, steht es bei uns nicht anders. Wenn wir in einer analogen Lage wie die Gehirne im Tank stecken, dann gibt es einen übergeordneten, ja übernatürlichen Bereich der Wirklichkeit, in dem unsere Naturwissenschaften nichts zu sagen haben, von dem sie nie etwas erfahren können und der dennoch von eminenter Bedeutung wäre. Die Metaphysik wiederum hat mit Ausdrücken wie „Jenseits“ einen größeren sprachlichen Aktionsradius, aber auch sie verschafft uns hier kein Wissen.