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Anthropologie: Gernot Böhme unterwegs zu einem neuen Selbstverständnis des Menschen | |
Gernot Böhme ist unterwegs zu einem neuen Selbstverständnis des Menschen
Eine Revision des ethischen Denkens fordert der emeritierte Darmstädter Philosoph Gernot Böhme in seinem neuen Buch, einer Reihe von locker zusammengefügten Essays:
Böhme, Gernot: Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur. 254 S., kt., € 10.—, 2008, stw 1880, Suhrkamp, Frankfurt. Es ist für Böhme die invasive Technisierung des menschlichen Körpers bedingt durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Bereich des menschlichen Lebens, die eine solche Revision notwendig macht. Für die moralischen Fragen, die sich heute durch den biomedizinischen Fortschritt stellen, ist das Fundament der traditionellen ethischen Lehren, die von Sokrates und Aristoteles über Kant bis zur Diskursethik unserer Tage reichen, nicht mehr geeignet. Schlimmer noch: Diese Lehren gehen an diesen Fragen systematisch vorbei, weil in ihnen die Natur prinzipiell kein Adressat ethischen Fragens ist. Dieses Defizit zeigte sich bereits, als es um die Entwicklung einer Umweltethik ging. Jetzt, da es um die Natur geht, die wir selbst sind, um den menschlichen Leib, wird dieses Defizit noch dramatischer. Hinzu kommt, dass die traditionelle Ethik durchwegs eine Ethik des Handelns ist. Das Pathische, das Erleiden, dass einem etwas widerfahren konnte, war allenfalls ein negativer Topos der Ethik. Eine aktuelle Ethik muss hingegen die Konstitution des Subjektes aus der Erfahrung betroffener Selbstgegebenheit berücksichtigen. Böhme bringt diese auf die Formel von der „Geburt des Subjektes aus dem Schmerz“. Der Umgang mit Leid und Schmerz, nicht deren Überwindung muss zu einem zentralen Thema der Ethik werden.
Böhme steht der gegenwärtig praktizierten akademischen Ethik skeptisch gegenüber. Er hält es für fraglich, ob ein in ethischer Argumentation ausgebildeter Fachmann auch in der Lage ist, konkrete moralische Situationen zu beurteilen und gegebenenfalls zu entscheiden. Dazu gehört, so Böhme, eine gewisse Reife und ein durch Lebenserfahrung erworbenes Urteilsvermögen. Dabei haben wir es mit dem Problem zu tun, dass eine akademische Ausbildung keinesfalls zugleich eine Charakterbildung impliziert. Man kann sogar sagen, dass die akademische Ausbildung für moralische Kompetenzen abträglich ist, weil sie wegen der auf Objektivität gerichteten Grundhaltung die persönliche Teilnahme an Situationen reduziert.
Bevor heute ethische Fragen diskutiert werden können, muss dem Lebensvollzug selber erst wieder sein Recht, sein Vorrang vor allem bloß herstellenden Verhalten gegeben werden. Auch haben wir vergessen, was moralische Fragen sind. Die Ethik verliert ihr Gebiet noch gänzlich, wenn es nicht gelingt, dem Lebensvollzug selbst wieder seine beherrschende Stellung zurückzugeben. Sonst bleiben nur noch technische Fragen übrig, die sich wiederum auf jeden Bereich menschlicher Tätigkeit auszuweiten beginnen. Für Böhme hat man dagegen Begriffe von guter und schlechter Technik zu entwickeln, die sich nicht aus ihrer eigenen Perfektion bestimmen, aber auch nicht aus ihrer Anwendung allein sich herleiten können.
Es ist denn primär die philosophische Ethik gefragt, sondern vielmehr Ethos oder substantielle Sittlichkeit im Hegelschen Sinne. Ethos, das, was sich gehört, was sich im alltäglichen Leben von selbst versteht, ist der Teil der Ethik, der massenwirksam ist. Das Ethos bestimmt die durchschnittlichen Lebensformen, und von ihnen hängt allerdings ab, wie man mit Natur umgeht (Umweltproblem), wie sich Arm und Reich zueinander verhalten, wie man alltägliche strittige Fragen löst. Ethos bestimmt die Normalität und verlangt vom Einzelnen nur, sich so zu verhalten, wie es üblich ist. Für eine Gesellschaft ist eine Frage ernst, wenn sie eine gesellschaftliche Konvention, gegebenenfalls ein Gesetz betrifft, mit der oder mit dem sich entscheidet, in welcher Gesellschaft wir leben. Solche Fragen müssen aufgrund von moralischen Argumentationen durch gesellschaftliche Konsensbildung gelöst werden. Sowohl die moralische Entscheidung des Einzelnen wie auch die Herausbildung neuer gesellschaftlicher Konventionen ist für die Lösung gesellschaftlicher Probleme relevant.
Böhme hat den Verdacht, dass wir seit geraumer Zeit in einer Epoche progressiven Schwundes von substantieller Sittlichkeit leben. Er sieht ein Indiz dafür etwa in der fortschreitenden Verrechtlichung und Ökonomisierung innerfamiliärer Verhältnisse. Ein weiteres Indiz sieht er darin, dass innerhalb der Ethikdiskurse die faktische Wirklichkeit nicht mehr vorkommt. Bei diesem Schwund sieht Böhme einen Prozess, der durchaus gewollt und von uns gebilligt mitgetragen wird. Bereits Hegel hat aber darauf hingewiesen, dass die Verrechtlichung der Familienbeziehungen mit ihrer Auflösung gleichzusetzen ist. Jede Formalisierung menschlicher Verhältnisse gerät an ihre Grenzen. Wenn man sich, etwa im Einzelhandel, nicht mehr auf den ehrlichen Kaufmann verlassen kann, sondern durch Grenzwerte, Inhaltsdeklarationen, Verfallsdaten usw. für den Kunden die Qualität der Waren garantieren will, wird der einzelne Händler im Rahmen oder im Jenseits der Vorschriften manipulieren, wo es nur immer seinem Gewinn dient. Die moderne Gesellschaft ist jedoch so gestimmt, dass man sich nicht mehr auf diese Üblichkeiten verlassen mag. Von daher gibt es eine progressive Verrechtlichung und eine Ausdehnung des Bereiches strafbarer Handlungen. Das hat zu einem Übermaß an Regeln und Bestimmungen geführt, die dem Durchschnittsbürger überhaupt nicht mehr bekannt sind und nur noch von Spezialisten überblickt und gehandhabt werden können.
Wir leben aber in einer durchaus zivilisierten Welt, und diese besteht aus einem höchst ungesicherten Netzwerk von Üblichkeiten. Der durchschnittliche Bürger begeht Straftaten nicht deshalb nicht, weil Strafe droht, sondern schlicht, weil es sich nicht gehört. Körperverletzung, Vandalismus, Raum – diese Dinge geschehen, aber sie sind genau deshalb strafrechtlich verfolgbar, weil sie nicht das Übliche sind. Wäre es anders, Böhme erinnert ans Ende der Weimarer Republik, dann waren auch Polizei und Justiz machtlos. Man kann sich in der Regel darauf verlassen, dass jeder beliebige Mensch, den man trifft, sich einigermaßen höflich, mit einer gewissen Distanz und Achtung, im Großen und Ganzen fair und aufrichtig einem gegenüber verhalten wird. Man braucht sich nur vorzustellen, dass alle diese Üblichkeiten nicht wirksam wären. Auch eine Gesellschaft, die auf Formalisierung und Rationalisierung setzt, ist deshalb auf Üblichkeiten angewiesen. Denn nur sie ermöglichen für den durchschnittlichen Alltag einen reibungslosen und entscheidungsfreien Vollzug. Eine rationale Rechtfertigung lässt sich für sie aber in der Regel nicht geben, und eine solche gerade für eine Üblichkeit ist zu schwach dafür, dass man sich an sie hält. Da ist allemal die Autorität der Herkunft und eine Sanktion gewichtiger. Mit der Erosion der Sittlichkeit, so Böhme, zerstört dagegen die Moderne ihre eigenen Grundlagen.
Durch die modernen Lebensverhältnisse sind Selbstzwänge wieder in Fremdzwänge verwandelt worden. Das heißt, was vormals eine Sache der Moral und inneren Disziplin war, wird heute schlicht durch die Durchorganisation der modernen Lebenswelt erzwungen. Entsprechend sind Altruismus und gesellschaftliche Solidarität etwas, was durch das Steuersystem, öffentliche Wohlfahrt und Versicherungen sich von selbst erledigt.
Wenn man das Verdrängen, Verschweigen und Verleugnen des Negativen in der Wesensbestimmung des Menschen als Negation der Negation bezeichnet, dann ist die eigentümliche historische Situation menschlicher Selbstbestimmung, in der wir uns befinden, als eine anbrechende Affirmation der Negation zu bezeichnen. Allerdings kommen die Gefährdungen des Menschen nicht mehr von außen, von Göttern, der Natur, der Faktizität seines Daseins, sondern entspringen dem, was er selbst hervorgebracht hat, seiner zweiten Natur. Die Humanität versammelt sich im Widerstand, in der Weigerung, neue Utopien des Menschen zu entwerfen. Für Böhme ist diese Verweigerung notwendig, wenn man eine bestimmte menschliche Lebensgestalt haben will. Das Widerstandsrecht, das seit 1968 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthalten ist und das der Bewahrung der konstitutionellen gesetzlichen Ordnung dienen soll, wird nun – für Böhme paradox – zu einem Recht, das gegebenenfalls Widerstand gegen staatliches Handeln legitimiert. Widerstand wird in der Zeit, in der wir uns befinden, zum Signum und Ursprung von Humanität. Das ausbeuterische und in vieler Hinsicht zerstörerische Verhalten des gesellschaftlich organisierten Menschen gegenüber der Natur schlägt auf den Menschen selbst zurück. Es zeigt sich, dass die Beziehungen zur äußeren Natur im Kern eine Beziehung des Menschen zu sich selbst ist. Das heißt, der Mensch wird sich im Rahmen der Umweltprobleme seiner eigenen Natürlichkeit bewusst, er wird sich bewusst, dass er selbst in und im Durchzug der Medien lebt. Traditionell ist Natur dasjenige, was wir nicht selbst sind. Die Selbstauffassung des Menschen hat sein Eigentliches immer in dem gesehen, was jenseits, außer und über der Natur ist: in der Vernunft, der unsterblichen Seele, der Reflexion. Böhme erinnert dagegen daran, dass der Leib die Natur ist, die der Mensch selbst ist. „Am eigenen Leib spüren“ ist ein wesentliches Moment des Umweltbewusstseins, insbesondere wenn es sich um Atembeschwerden in Smogsituationen, Nahrungsmittelallergien und Lärmstörungen handelt. „Natur selbst sein“ heißt am eigenen Leib die Natürlichkeit zu spüren bekommen. Dabei handelt es sich um eine sinnliche Naturerkenntnis, wobei entscheidend ist, dass sich diese Erkenntnis nicht als sinnliches Konstatieren von Fakten oder Daten vollzieht, sondern als engagiertes Gewahrwerden. Sinnlichkeit ist hier im vollen und doppelten Sinne Befindlichkeit: In der Weise, wie ich mich befinde, werde ich gewahr, in welcher Umgebung ich mich befinde. In diese Erfahrung geht unmittelbar die Erfahrung dessen ein, was man sonst die äußere oder stoffliche Natur nennt. Für Böhme ergeben diese Überlegungen jedoch nur Sinn im Rahmen einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Eine solche Anthropologie hat nach dem Vorbild von Kant damit zu tun, was der Mensch unter der Bedingung des Wissens vom Menschen aus sich macht. Dazu formuliert Böhme zwei Maximen:
n Das Wissen um unsere eigene Natur, d. h. dass unser Leib Natur ist und als Bestandteil der Gesamtnatur lebt, wird uns heute im Wesentlichen durch die Wissenschaft vermittelt. Andererseits präsentiert uns die Wissenschaft das Wissen von unserer Natur nicht in der Weise, wie wir selbst sind, sondern in der Weise, wie wir selbst als gegenständliche Natur thematisiert werden können. Es geht in erster Linie darum, mit diesem übermächtigen Wissen fertig zu werden, es in unser Selbstsein zu integrieren.
n Die Anerkennung, dass im Eigensinn des Leibes die veräußerlichte Natur tätig ist, kann zu einem partnerschaftlichen Verhältnis führen.
Die Frage ist nun, ob es möglich ist, den Begriff der menschlichen Natur so zu konstruieren, dass er es ermöglicht, gegenüber der fortschreitenden Technisierung des Menschen Stand zu gewinnen. Das neue Selbstverständnis des Menschen kann Natur nicht einfach als an sich vorfindlichen Bestand unterstellen, sondern muss vielmehr das Natursein in den eigenen Selbstentwurf bewusst integrieren. Wir sind immer schon die Instanz, an der sich und durch die sich Natur und Nicht-Natur schied. Wir sind diese Mitte aber nicht als Hybride, beispielsweise als Zusammensetzung von „res extensa“ und „res cogitans“. Wir sind diese Mitte vielmehr in unserer betroffenen Selbstgegebenheit, und diese ist primär leibliches Spüren.
Entscheidend ist, dass in der betroffenen Selbstgegebenheit eine Tendenz zur Differenzierung enthalten ist, zum Auseinandertreten von Subjekt und Objekt. Sie ist es letzten Endes, die dafür verantwortlich ist, dass wir an uns einen Körper feststellen, den wir haben und uns von diesem als ein Ich unterscheiden, das ihn hat. Leibsein im Sinne von leiblichem Spüren betroffener Selbstgegebenheiten ist das Grundlegende, demgegenüber Leibhaben (oder besser: einen Körper haben) durch einen Prozess der Distanzierung erst konstituiert wird.
Der souveräne Mensch wird es ablehnen, sich zum autonomen Subjekt zu stilisieren. Nicht nur, weil das eine Illusion ist, sondern auch, weil er dadurch den Bezug zu allem, was ihn angeht, was ihn betroffen macht, verlieren würde. Auf der anderen Seite wird er es ablehnen, seinen Leib vollständig zu objektivieren, weil er dadurch seiner ursprünglichen Selbstgegebenheit im leiblichen Spüren verlustig ginge.
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