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FORSCHUNG

Ethik: Ist die Moral objektiv?

ETHIK

 

Ist die Moral objektiv? Gerhard Ernst meint: Sie ist ebenso objektiv wie die Wissenschaft.

 

Es gehört zu unseren natürlichen Überzeugungen, dass die Moral Anspruch auf Objektivität erheben kann. Ebenso gehört es zu unseren Überzeugungen, dass letztlich nur etwas, was von ähnlicher Art ist wie die Wissenschaften, einen solchen Anspruch erheben kann. Ist die Moral aber nicht von ganz anderer Art als die Wissenschaft? Gerhard Ernst setzt sich mit diesem Trilemma auseinander in seinem Buch

 

Ernst, Gerhard: Die Objektivität der Moral. 248 S., kt., € 29.80, 2008, Mentis, Paderborn.

 

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Moral grundlegend von der Wissenschaft. Das gilt im Hinblick auf moralische Wahrheiten, moralische Überzeugungen und moralische Erkenntnisse.

 

Moralische Wahrheiten

 

Zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und moralischen Tatsachen scheint es einen entscheidenden Unterschied zu geben: Moralische Tatsachen implizieren einen Anspruch an uns; sie schreiben uns vor, was wir tun und was wir nicht tun sollen. Mit anderen Worten: Moralische Tatsachen sind (anders als wissenschaftliche Tatsachen) intrinsisch

normativ. Aus der intrinsischen Normativität moralischer Tatsachen ergibt sich (in einem Sinn) die Antwort auf die Frage, warum wir moralisch handeln sollen. Es ist einfach unsinnig zu sagen: „Ja, es ist alles in allem richtig, die Handlung A auszuführen, aber war­um sollte man A ausführen?“ Ebenso gut könnte man fragen: „Ja, Hans ist ein Junggeselle, aber warum sollte er unverheiratet sein?“ Die Normativität moralischer Tatsachen beruht demnach auf einem begrifflichen Zusammenhang. Vom Standpunkt der Wissenschaft aus betrachtet ist moralische Wahrheit damit seltsam, denn Normativität scheint kein Bestandteil der natürlichen Welt zu sein.

 

Moralische Wahrheiten sind durch ihre Normativität in besonderer Weise auf uns, genauer gesagt auf unsere Vernunft bezogen. Moralische Wahrheiten sind aber auch nicht völlig unabhängig von nicht-moralischen Wahrheiten. Man spricht hier von der Supervenienz des Moralischen auf dem Nicht-Moralischen, also davon, dass zwei Situationen sich nicht in moralischer Hinsicht unterscheiden können, ohne sich in nicht-moralischer Hinsicht zu unterscheiden. Das ist eine grundlegende Eigenschaft der Moral, denn es ist ja ihre Aufgabe, unser Handeln anzuleiten, und das bedeutet gerade: uns dabei anzuleiten, wie wir auf die nicht-mo­ralische Eigenschaften der Welt reagieren sollten.

 

Moralische Überzeugungen

 

Moralische Überzeugungen besitzen (schein­ar anders als wissenschaftliche      Überzeugun­gen) motivierende Kraft. Bei dem Zusammenhang zwischen moralischen Überzeugungen, Motivation und Rationalität handelt es sich wiederum um einen intrinsischen (das heißt begrifflichen) Zusammenhang. Jemand, der sagen würde „Gustav hält es zwar für alles in allem richtig, seinem Nachbarn zu helfen, tut es aber nicht und ist trotzdem nicht irrational“, würde etwas Unverständliches sagen. Natürlich ist es leicht möglich, dass es Gustav für in bestimmter Hinsicht richtig hält, seinem Nachbarn zu helfen, nicht hilft, aber dennoch nicht irrational ist. Aber es ist nicht möglich, dass Gustav eine Handlung für alles in allem richtig hält und sie dennoch rationalerweise nicht ausführt.

 

Ernst unterscheidet zwei Formen von Rationalität: externe und interne Rationalität. Nehmen wir an, ich glaube fälschlicherweise, dass Klaus mir aus der Patsche geholfen hat. Vernünftigerweise tue ich etwas, was in gewisser Weise unvernünftig ist: Ich bedanke mich bei Klaus (ich tue also rationalerweise das Unvernünftige). Umgekehrt kann es aber auch sein, dass ich irrational bin und mich aus Willensschwäche nicht dazu aufraffen kann, Klaus zu danken. Dann tue ich irrationalerweise etwas Vernünftiges. Der erste Fall ist ein Beispiel für interne Rationalität und externe Irrationalität, beim zweiten ist es genau umgekehrt. Im Alltag reservieren wir die Vokabeln „unvernünftig“ und „irrational“ im Wesentlichen für interne Irrationalität. Aber auch bei der externen Form ist es beinahe unumgänglich, von einer Form der Irrationalität zu sprechen. Denn wie sonst sollte man es nennen, wenn jemand nicht das tut, wofür objektiv betrachtet die besten Gründe sprechen?

 

Die Unterscheidung der beiden Formen von Irrationalität ist für das Verständnis der Natur moralischer Wahrheiten und Überzeugungen zentral. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass moralische Wahrheit auf unsere Vernunft bezogen ist, dann sprechen wir von der Vernunft im Sinne desjenigen ab­strakten Vermögens, an das Gründe als solche appellieren. Hier geht es um externe Rationalität. Wenn wir dagegen erkennen, dass moralische Überzeugungen für den vernünftigen Menschen motivierende Kraft haben, dann geht es um die Vernunft als Vermögen, das, was wir für unsere Gründe halten, anders gesagt: unsere moralische Überzeugungen handlungswirksam werden zu lassen     oder aber diese Überzeugungen aufzugeben. Hier ist dann interne Rationalität entscheidend.

 

Moralische Erkenntnis

 

Man kann sehen, wenn Menschen gefoltert werden. Aber man kann anscheinend nicht sehen, dass das etwas Falsches ist. Denn mit welchem Sinnesorgan erfassen wir, dass es sich hierbei um etwas Falsches handelt? Diese Schwierigkeit wird teilweise dadurch verschleiert, dass bestimmte Prädikate wie „ist gerecht“, „ist brutal“ etc. beschreibend und wertend zugleich sind. Damit wird verständlich, warum wir im Hinblick auf diese Begriffe in gewisser Hinsicht von Beobachtbarkeit sprechen können. Man sieht, dass eine Handlung brutal ist, insofern sie bestimmte empirische Eigenschaften hat. Aber man sieht nicht, dass solche Handlungen zu unterlassen sind – jedenfalls nicht im selben Sinn von sehen. Möchte man die Eigenschaft, brutal zu sein, korrekt zuschreiben, muss man demnach sowohl über sinnliche als auch über moralische Erkenntnisse verfügen. Moralische Erkenntnis, so Ernsts These, ist weder eindeutig empirischer noch eindeutig formaler Art und genügt häufig nicht zur Entscheidung der zahlreichen, tatsächlich vorhandenen Meinungsverschiedenheiten. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich also die Moral (scheinbar) von der Wissenschaft.

 

Das Trilemma der Moral

 

Die Moral unterscheidet sich demnach, wie es scheint, im Hinblick auf Wahrheit, Überzeugung und Erkenntnis grundlegend von der Wissenschaft. Andererseits ist die Wissenschaft unser Paradigma für einen Bereich, in dem es objektive Wahrheit, echte Überzeugungen und objektive Erkenntnis geben kann. In Bereichen, die von ganz anderer Art sind, kann man demnach nicht im eigentlichen Sinn von Wahrheit, Überzeugung und Erkenntnis sprechen. Schließlich legt unser gewöhnlicher Umgang mit der Moral aber auch nahe, dass wir an moralische Wahrheiten, Überzeugungen und Erkenntnisse glauben:

 

1.) Die Moral kann Objektivität beanspruchen

2.) Die Moral ist von ganz anderer Art als die Wissenschaft

3.) Nur was von der gleichen Art ist wie die Wissenschaft, kann Anspruch auf Objektivität erheben.

 

Ernst nennt dies das „Trilemma der Moral“. Es gibt grundsätzlich drei verschiedene Lösungsstrategien:

 

¢ Die erste würde darin bestehen, den Objektivitätsanspruch der Moral aufzugeben. So bekannte Philosophen – Ernst nennt sie Antiobjektvisten – wie Ayer, Stevenson, Hare, Blackburn, Gibbard, Foot, Harman und Wong haben dies getan und eine nonkognitivistische oder relativistische Position vertreten. Hier wird die Moral in Analogie zum Bereich der Wünsche oder Konventionen gedeutet.

 

¢ Wenn die Antworten der Antiobjektivi­sten nicht überzeugen – und Ernst überzeugen sie nicht – so bietet sich ein zweiter Lösungsweg an, der Ansatz der von Ernst als Antidualisten bezeichneten Philosophen. Diese sind der Ansicht, dass sich die Ethik nicht wesentlich von den empirischen Wissenschaften unterscheidet. Sie werden auch „Realisten“ oder „Naturalisten“ genannt, und zu ihnen gehören in der Gegenwart Philosophen wie Boyd, Brink, Railton, Schaber und Sturgeon.

 

¢ Wenn weder die Vorstellung, dass die Moral Objektivität beanspruchen kann, noch dass sie sich grundlegend von der Wissenschaft unterscheidet, zurückgewiesen wird, bleibt nur noch ein Ausweg aus dem Trilemma: Man muss das Monopol der Wissenschaft auf Objektivität in Frage stellen. Vertreter diese Auffassung – Ernst nennt sie Antimonopolisten – sind der Meinung, die Moral könne auf eigene Weise Anspruch auf Objektivität erheben. Es gibt für sie moralische Wahrheit, moralische Überzeugungen und moralische Erkenntnis, und diese sind nicht von derselben Art wie wissenschaftliche Wahrheit, wissenschaftliche Überzeugungen und wissenschaftliche Erkenntnis. Allerdings hat diese Position ein gravierendes Problem, nämlich das der Unbestimmtheit: Während Antiobjektivisten die Moral mit dem Bereich der Wünsche oder Konventionen vergleichen und Antidualisten eine Analogie zwischen Moral und Wissenschaft sehen, fehlt den Antimonopolisten letztlich ein geeignetes Vergleichsobjekt.

 

Letztlich scheitern nach Ernst alle drei Strategien: die erste, weil ihre Vergleichsobjekte letztlich ungeeignet sind, die zweite, weil ihr Vergleichsobjekt falsch gedeutet wird, die dritte, weil ihr ein Vergleichsobjekt fehlt.

 

Ernst Lösungsvorschlag

 

Ernst plädiert dafür, die zweite Lösungsstrategie in veränderter Form zu verfolgen, also die These von der grundlegenden Verschiedenheit von Moral und Wissenschaft aufzugeben. Er will zeigen – und darin unterscheidet er sich von den gewöhnlichen Antidualisten – dass sich alle in Bezug auf den Gesichtspunkt der Objektivität relevanten Besonderheiten der Moral in gleicher Weise bei der Wissenschaft finden und dass die Moral somit in gleicher Weise wie die Wissenschaft Objektivität beanspruchen kann. Gewöhnliche Antidualisten weisen dagegen einige der Besonderheiten moralischer Wahrheiten, Überzeugungen und Erkenntnisse zurück, weil sie, wie Ernst glaubt, die Natur der Wissenschaft falsch deuten.

 

Ernst behauptet keineswegs, dass Moral und Wissenschaft identisch sind. Er meint lediglich: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied hinsichtlich deren Objektivität. So groß die Unterschiede zwischen Moral und Wissenschaft auch sein mögen, im Hinblick auf die Aspekte, die für die Objektivität entscheidend sind, gleichen sich Wissenschaft und Moral: Man kann von moralischer Wahrheit, moralischen Überzeugungen und moralischer Erkenntnis genau im gleichen Sinn sprechen wie von wissenschaftlicher Wahrheit, wissenschaftlichen Überzeugungen und wissenschaftlicher Erkenntnis. Unter Wissenschaft versteht er dabei die für die Objektivität paradigmatischen Wissenschaften, insbesondere also die Naturwissenschaften.

 

Grundlegend für Ernsts These ist eine Analyse der Natur wissenschaftlicher Wahrheit, wissenschaftlicher Überzeugungen und wissenschaftlicher Erkenntnis. Ernst geht davon aus, dass es Aufgabe der Wissenschaft ist, Erklärungen zu geben und Vorhersagen zu machen. Dazu muss sie herausfinden, welche Zusammenhänge Gesetze sind, welche       Eigenschaften natürlich sind, wo kausale Ab­hängigkeiten bestehen etc. Die Aussage „Der Zusammenhang X ist gesetzesartig“ ist aber beispielsweise – anders als eine bloße Faktenfeststellung – eine normative Aussage, insofern sie etwas über Gründe für Vorhersagen impliziert. Das sieht man etwa, wenn man Goodmans grue-Paradox betrachtet. Wissenschaft ist nur möglich, wenn wir dazu in der Lage sind, Tatsachen, die Gründe konstituieren, von Tatsachen zu unterscheiden, bei denen das nicht der Fall ist. Zwar handelt es sich hier um Gründe für Überzeugungen, nicht, wie bei der Moral, um Gründe für Handlungen. Die grundlegende Bezogenheit auf unsere Vernunft ist jedoch nach Ernst in beiden Fällen dieselbe. Wissenschaft ist wie Moral auf „externe Rationalität“ angewiesen. Dementsprechend zeigen sich die bei der Moral festgestellten „Besonderheiten“ auch in der Wissenschaft.

 

Wissenschaftliche Wahrheiten sind genauso wie moralische Wahrheiten (und anders als rein „faktische“ Wahrheiten) intrinsisch nor­mativ und damit auf unsere Vernunft bezogen. Wissenschaftliche Wahrheit superve-


niert andererseits auch auf nichtwissenschaftlicher Wahrheit und ist somit auf die Welt bezogen, ganz genau so wie moralische Wahrheit.

 

Moralische Überzeugungen sind für den rationalen Menschen intrinsisch motivierend. Aber das ist nicht nur eine Eigentümlichkeit der Moral: Ernst sieht bei wissenschaftlichen Überzeugungen eine völlig analoge Eigenschaft: Auch sie sind für den rationalen Menschen intrinsisch motivierend. Das zeigt sich, wenn man in beiden Fällen die Natur „interner Rationalität“ untersucht.

 

Schließlich gleichen sich Wissenschaft und Moral auch im Hinblick auf die Natur entsprechender Erkenntnisse: Wissenschaftliche Erkenntnis, also etwa die Erkenntnis, welche Zusammenhänge gesetzesartig sind, welche Eigenschaften natürlich sind etc., ist weder eindeutig empirischer noch eindeutig formaler Art und genügt (häufig) nicht zur Entscheidung der (zahlreichen) tatsächlich vorhandenen Meinungsverschiedenheiten. Man sieht die Natürlichkeit einer Eigenschaft      ebenso wenig, wie man sieht, dass eine Eigenschaft eine Handlung gut macht. Dennoch ist wissenschaftliche Erkenntnis ebenso wie moralische Erkenntnis nicht völlig unabhängig von Wahrnehmung, weshalb wir ja auch von so etwas wie „moralischer Blindheit“ sprechen wollen. Moralische Erkenntnis hat, wie wissenschaftliche Erkenntnis, etwas von beidem, von reiner Vernunfterkenntnis und von Wahrnehmung: Es geht nämlich darum, die Welt in einer bestimmten Weise aufzufassen. Im moralischen Fall geht es darum, bestimmte Eigenschaften der Welt als gut aufzufassen; im wissenschaftlichen Fall geht es darum, bestimmte Eigenschaften der Welt als natürlich aufzufassen. Um das Auffassen von Gründen (für Handlungen beziehungsweise für Vorhersagen), das heißt um die „Wahrnehmung“ von Normativität, geht es in beiden Fällen.