PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Siep, Ludwig: Anerkennung in der „Phänomenologie des Geistes“ und in der praktischen Philosophie der Gegenwart

Von Fichte zu Hegel

Der deutsche Begriff der „Anerkennung“ gewinnt seit der Philosophie Fichtes zentrale philosophische Bedeutung. Fichte versteht darunter das wechselseitige Verhältnis selbstbewusster Individuen, die um der möglichen Freiheitsausübung der anderen willen ihre eigene Handlungsfreiheit begrenzen. Tun sie das regelmäßig nach einem allgemeinen Gesetz, dann befinden sie sich in einem Rechtsverhältnis, dem nach Fichte einzig möglichen wechselseitigen Verhältnis von Individuen als vernünftiger Sinnenwesen. Ohne ein zumindest gelegentliches Ereignis der wechselseitigen Anerkennung oder zumindest der freien Aufforderung zu selbstbestimmtem Handeln können sie sich überhaupt nicht ihrer selbst als Individuen bewusst werden.

Fichte hat diese Theorie in seiner Jenaer Rechtsphilosophie von 1796/97 und seiner wenig später (1798) veröffentlichten Sittenlehre weiter ausgebaut, aber im Wesentlichen auf Rechtsverhältnisse und Beziehungen gegenseitiger moralischer Achtung beschränkt. Nur wenige Jahre später hat Hegel an derselben Universität den Begriff Anerkennung und die Grundlagen der Fichteschen Konzeption aufgenommen und bedeutend erweitert. In den Jenaer Schriften zur Geistphilosophie konzipiert er eine Theorie der Anerkennung als einer „Bewegung“, die eine Reihe von Stufen sowohl der individuellen Bewusstseinsbildung wie der menschlichen Kulturgeschichte umfasst. Es handelt sich um einen teleologischen Prozess, der bei ungestörtem Verlauf ein Individuum zum Bewusstsein seiner vernünftigen Subjektivität und seiner Stellung in einer vernünftig verfassten Rechts-, Staats- und Kulturgemeinschaft bringen kann. In der menschlichen Kulturgeschichte umfasst er eine Reihe von Stufen der Herrschaft, der Organisation von Arbeit, Moral, Recht, Staat und Kultur, die in den Rechts- und Sozialverhältnissen des modernen europäischen Verfassungsstaats der nachrevolutionären Zeit gipfelt.

Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes

Die Phänomenologie des Geistes hat eine doppelte Funktion in Hegels System: Sie ist zum einen eine Hinführung und ein negativer, die Alternativen widerlegender Beweis der Richtigkeit dessen, was Hegel den Standpunkt der Spekulation nennt. Es handelt sich dabei um eine „geistmonistische“ Position, nach der alle Wirklichkeit, sowohl der Natur wie der Kultur und des Denkens, ein Prozess des „Zusichkommens“, d.h. des sich Entfaltens und Reflektierens einer vernünftigen Struktur ist. Diese Struktur lässt sich auf ein holistisches System von Bedeutungen zurückführen, die in reiner Form in der Wissenschaft der Logik dargestellt werden können.

Auch in Bezug auf die Anerkennung unterscheidet Hegel in der Phänomenologie den Begriff und die konkreten Gestalten des Selbstbewusstseins und des Geistes, die der Bewegung des Anerkennens zugehören. Die Bewegung macht einen teleologischen Prozess aus, der in der Phänomenologie über verschiedene Stationen des Scheiterns und der dadurch ausgelösten dialektischen Erfahrungen zur realisierten Anerkennung im Geist, letztlich im absoluten Wissen führt. Hegel gebraucht den Begriff Anerkennung aber nur an wenigen „Gelenkstellen“ des Selbstbewusstseins- und des Geistkapitels.

Hegel erweitert dabei die von Fichte analysierte Struktur der wechselseitigen Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen um eine höherstufige Anerkennung zwischen Individuen und Gemeinschaftsformen bzw. sozialen Systemen und Institutionen. Dieses Anerkennungsverhältnis entwickelt sich zwischen „Ich“ und „Wir“. Es ist dem inter-individuellen einerseits als Grundlage vorausgesetzt – so könnte z.B. ohne eine Integration in eine Primärgruppe wie die Familie individuelles Bewusstsein nicht adäquat ausgebildet werden. Zum anderen sind aber ohne die Anerkennung zwischen Individuen bestimmte Gemeinschaftsformen und der Vollzug eines „Wir-Bewusstseins“ nicht möglich. Wechselseitiges Voraussetzen ist nach Hegels Wesenslogik ja kein logischer Zirkel, sondern eine Struktur sich selbst organisierender und explizierender Verhältnisse.


Hegel versteht die Anerkennungsrelationen auf beiden Ebenen als dialektisch in dem Sinne, dass jede Seite die andere zugleich setzt (impliziert) und negiert (sich selbst durch ihre Verneinung konstituiert). Diese für sich widersprüchliche Struktur muss durch eine zunehmende Differenzierung der Beziehung überwunden werden, in der die Begriffe und Relationen in komplexere überführt werden, die sowohl die Ein- wie die Ausschlussbeziehungen enthalten. In Bezug auf die interpersonalen Verhältnisse nennt Hegel das in der Phänomenologie eine „doppelsinnige“ Beziehung. Sie besteht darin, dass jedes selbstbewusste Wesen in gewisser Weise seine Identität in einem anderen selbstbewussten Wesen hat, dem es Bewusstseinseigenschaften zuschreibt und das ihm seine eigenen bestätigt, aber dieses „Anderssein“ seiner selbst auch negieren muss. Es muss sich durch Ausgrenzen wiedergewinnen und das andere dadurch zugleich „frei entlassen“.
Das ist nicht allein durch eigenes Handeln möglich, vielmehr muss der Andere den gleichen Prozess für sich bzw. „durch es selbst“ vollziehen. Hegel nennt das den Doppelsinn des Tuns, „ebensowohl sein Tun als das Tun des Anderen zu sein“ (S. 128, Ausgabe von H. Wessels, Hamburg 1988). Und das noch einmal in einer „gedoppelten“ Weise: das Tun der Aufhebung muss sowohl ein Tun gegen sich und den anderen wie ein Tun des einen und des anderen sein. Selbstbewusstsein verlangt, sich im anderen und in Absetzung vom anderen zu erkennen, und dies durch wechselseitige (kognitive und emotionale) Zuwendung und Befreiung.

Diese Struktur, die nicht nur für die „Ich-Anderer“-, sondern auch für die „Ich-Wir“-Beziehung gilt, wird in der Phänomenologie im Prozess der „Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins“ entwickelt. Der besteht darin, dass die Welt- und Selbstverständnisse, die in der menschlichen Kultur – in Religion und Kunst, Moral und Wissenschaft – aufeinander teils zeitlich gefolgt sind, teils systematisch zu unterscheiden sind, einseitige Thesen über die wahre Realität und das ihr adäquate menschliche Wissen enthalten. Zu diesen einseitigen Bewusstseinsgestalten gehören auch eine Fülle sozialer Beziehungen, die Anerkennung zu realisieren versuchen, sich dabei aber in (praktische) Widersprüche verwickeln.

Die Herrschafts-Knecht-Beziehung

Zur Erprobung der ontologischen These des Selbstbewusstseins, dass die wahre Realität keine gegenständliche, sondern die des Selbstbewusstseins bzw. des Fürsichseins selber ist, dienen Hegel die Stufen des Kampfes um die Herrschaft und der Herrschafts-Knechtsbeziehung. Diese Erprobung hat zwei Momente: Zum einen muss das selbstbewusste Individuum zeigen, dass ihm dieses Selbstbewusstsein alles, das übrige Dasein dagegen – im Konfliktfalle – nichts bedeutet. Und zweitens muss man diesen Beweis einem anderen gegenüber führen, der bloß zur Bestätigung dieser „Freiheit“ des ersten Individuums da ist. Hegel zeigt das zunächst auf der Seite desjenigen, der im Kampf sein Selbstbewusstsein wirklich über das Leben gesetzt hat und daher „Herr“ geworden ist; dann auf der Seite des durch Furcht um sein Leben Gescheiterten, zum Knecht Gewordenen. Das Scheitern bzw. die Umkehrung trifft für beide Seiten zu, aber während es beim Herrn in der Aporie endet, weder unabhängig zu sein noch eine freie Anerkennung erzwingen zu können, führt es beim Knecht zu einer ersten Form der Bestätigung der Freiheit des Selbst in dem ihm gegenüberstehenden Anderen, dem bearbeiteten Ding und dem Herrn.

Der Knecht trennt noch zwischen der Vergegenständlichung seines selbständigen Tuns in den bearbeiteten Dingen und dem Freiheitsbewusstsein, das er im Herrn vor sich hatte. Der eigentliche Schritt zur „neuen Gestalt des Selbstbewusstseins“ wird durch den analysierenden Philosophen eingeleitet, der erkennt, dass die Einheit der beiden Momente des freien Selbstbewusstseins und seiner Herrschaft über die Dinge in einem Selbstbewusstsein liegt, für das die eigentliche Realität der Dinge in ihrer gedanklichen Form oder in den Begriffen besteht.

Die Anerkennungsbeziehung in den weiteren Kapiteln der Phänomenologie

Hegel hat die Anerkennung zwischen selbstbewussten Individuen in der Phänomenologie unter diesem Terminus zunächst nicht weiter verfolgt. Das bedeutet aber nicht, dass die Anerkennungsbeziehung in den anderen Kapiteln nicht vorkäme. Sie steht aber unter dem Primat des eigentlichen Themas der Phänomenologie, der Aufhebung des ontologischen und erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen Bewusstsein und Gegenstand sowie individuellem und allgemeinem Selbstbewusstsein bzw. Geist.

Dafür stellt Hegel zwei Prozesse in den Vordergrund: Zum einen die zunehmende „Subjektivierung“ der Wirklichkeit in Begriffen der Vernunft und einer im erkennenden und handelnden Subjekt „zu sich kommenden“ objektiven gedanklichen Ordnung. Zum anderen die Erhebung des Prinzips der selbstbewussten Individualität und Personalität zum Maßstab sozialer Ordnungen sowie zum Inhalt dessen, was als letzte, absolute Wahrheit gilt. Auch diese Prozesse können als Stufenfolge der Anerkennung des Ich im Wir und umgekehrt verstanden werden.

Die „praktische“ Anerkennung des individuellen Selbstbewusstseins durch andere Individuen, auch durch die soziale Ordnung und die Aktivität des Gemeinwesens, reicht dafür nicht aus. Das Selbstbewusstsein will sein Wesen auch in einem von den zufälligen Individuen unabhängigen Subjekt anerkannt wissen. Dem entspricht der religiöse Begriff eines absoluten geistigen Wesens, das die Individuen anerkennt bzw. „liebt“. Auch über die Verehrung eines jenseitigen, „ganz anderen“ Selbst geht die Bewegung des Anerkennens aber noch hinaus. Das individuelle Bewusstsein will sich mit diesem Gott vereinigen. Das Christentum lehrt daher einen Prozess der Trennung und Wiedervereinigung Gottes und des Menschen. In seiner nach-reformatorischen Entwicklung hebt es die Jenseitigkeit dieses Gottes auf und „versöhnt“ ihn mit den Menschen in der religiösen und sittlichen Gemeinschaft. Deren vollendete rechtliche und staatlich-institutionelle Form wird in der Phänomenologie – anders als in der früheren und späteren Philosophie des Geistes – zwar nicht systematisch erörtert, aber sie wird in der kritischen Form der Behandlung der antiken Sittlichkeit und des entfremdeten Geistes der Neuzeit schon sichtbar.

Wenn die Moralität in der Autonomie des Gewissens besteht, kann sie jederzeit mit den allgemeinen moralischen Maßstäben in Konflikt geraten. Die verschiedenen Konstellationen dieses Konfliktes führen aber zu einer „Versöhnung“ in Form eines wechselseitigen Verzichtes. Das auf sein Gewissen pochende Individuum muss die Einseitigkeit und den möglichen Irrtum seiner Entscheidung bekennen. Auf der anderen Seite muss das allgemeine moralische Bewusstsein die Gewissensentscheidung, selbst in ihrer Nonkonformität und „Bosheit“, als notwendiges Moment des Geistes anerkennen. Gewissen und allgemeine Gesetzlichkeit sind anerkannt als zwei Momente eines Geistes, der sich in der individuellen Entscheidung konkretisiert und fortentwickelt.

Der Begriff der Anerkennung war in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einer lebhaften philosophische Debatte. Dabei sind zumindest drei Richtungen bzw. Themenkomplexe zu unterscheiden.

Anerkennung als wechselseitiger Respekt zwischen autonomen Personen

Viele moderne Theorien des wechselseitigen Respekts zwischen Personen, der oft auch mit dem Begriff „Anerkennung“ wiedergegeben wird, gehen den Weg von Fichte zu Hegel gewissermaßen zurück. Anstatt wie Hegel in den konkreten Beziehungen der Liebe, des Kampfes, der Herrschaft oder auch in den Gemeinschaftsformen der Familie, des Berufes, des Staates einen Prozess der Aufstufung und der Erfüllung von Anerkennung ausfindig zu machen, wird die basale Anerkennung des Anderen als Ursprung unabweisbarer Ansprüche auf Achtung als Maßstab aller sozialen Beziehungen betrachtet. Liebe, familiäre oder staatliche Fürsorge führen in dieser Sicht zum Paternalismus eines Bevormundens, das sich an Werten und Institutionen orientiert, um die vermeintlich „irrationalen“ Wünsche des Anderen zu übergehen.

Überlegungen dieser Art haben heute einen besonderen Platz in Diskussionen der angewandten Ethik, vor allem der Medizinethik. In diesem Bereich hat sich ein sozialer Paradigmenwechsel vollzogen von einer asymmetrischen Beziehung des paternalistischen Arztes zu seinem inkompetenten Patienten hin zur symmetrischen Beziehung zwischen autonomen Partnern. Entscheidend war dafür das Prinzip des „informed consent“ des Patienten zu therapeutischen Maßnahmen oder medizinischen Versuchen. Ähnliches hat sich aber auch in der Erziehung und im Arbeitsverhältnis abgespielt.

Die Theorie des Respekts oder der moralischen und rechtlichen Anerkennung besagt, dass die Einstellung des Respekts vor der Autonomie anderer Personen grundsätzlich von emotionalen Beziehungen und Bewertungen ihrer Wünsche und Gründe getrennt werden müssen. So muss man in der Medizin unter Umständen auch den Verzicht der Angehörigen von bestimmten Religionen auf lebenserhaltende Maßnahmen respektieren, selbst wenn dadurch der ärztliche Heilauftrag undurchführbar wird.

Dass der Respekt vor Personen sich in Rechtsbeziehungen äußert, die allein an den eigenen, rechtlich zulässigen Interessen und Gesichtspunkten der beteiligten Personen orientiert sind, wird auch von Hegel nicht bestritten. Die Frage ist nur, ob die Anerkennung in den verschiedenen Sozialverhältnissen und Institutionen von einem gleich bleibenden Maßstab rationaler Beziehung zwischen Personen her beurteilt werden muss und kann, oder ob solche „abstrakt“-rechtlichen Beziehungen nur eine Form der Anerkennung sind, die durch andere, komplexere und den ganzen Menschen umfassende Formen ergänzt werden müssen.

Für das Letztere kann man auch aufgrund der erwähnten Beispiele aus der Medizin und der Erziehung argumentieren: Die Anerkennung des anderen als mündigem Patienten kann ohne die durch Wohlwollen, Hilfsbereitschaft und Fürsorge geprägte Haltung des Arztes nicht gelingen. Sie muss am Verbot der Missachtung oder Manipulation der Wünsche des Patienten seine Grenzen haben – einschließlich des Sterbewunsches. Aber der Respekt muss selber mit einer emotionalen Achtung des Anderen verbunden sein. Und er muss eingebunden sein in andere emotional-vernünftige Beziehungen, die die Lebensgeschichte und die Eigenschaften der Institution und der Gruppe – also etwa eines Krankenhauses oder Pflegeheimes – berücksichtigen und integrieren. Das Gleiche gilt für die „Erziehungsumgebung“ eines Menschen, also eine Familie, Lebensgemeinschaft oder Erziehungseinrichtung. In der konkreten Erörterung müsste beantwortet werden, ob die wechselseitige Anerkennung von Personen oder Vernunftwesen rein als solcher mehr als eine Verbotsgrenze sein kann.

Anerkennung in einem sozialpsychologischen und bewusstseinstheoretischen Kontext der Bildung von Identität oder Authentizität.

Dieses Thema hat Jürgen Habermas in seinen Studien zu den sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Bedingungen von persönlicher Identität zuerst mit dem Begriff der Anerkennung und der idealistischen Tradition in Verbindung gebracht. Sein Schüler Axel Honneth hat diese Linie weiter ausgezogen. Sie geht auf eine Entwicklung in den interpersonalen Beziehungen zurück, die sich seit Hegel sicherlich verstärkt hat: Es geht um die Bedingungen der Selbstverwirklichung im Sinne der Unverwechselbarkeit oder der Unvertretbarkeit des Individuums.

Seit Herder und der Romantik bekommt die Frage nach der individuellen Selbstfindung und -darstellung eine Bedeutung, die über die älteren Ideale der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten oder der Erringung des ewigen Seelenheils durch die Nachfolge Christi hinausgehen. Die Übertragung des künstlerischen Genieideals auf die Moral, die „antibürgerlichen“ Ideale des 19. und 20. Jahrhunderts, die existenzphilosophische Ablehnung des „Man“ zugunsten der Eigentlichkeit und die gegenwärtige „Hausse“ der Begriffe Selbstverwirklichung und Authentizität setzen eine Linie fort, die Interpreten wie Charles Taylor, Jürgen Habermas oder Richard Rorty ausführlich und teils kritisch – vor allem Taylor – interpretiert haben.

Da bei Fichte und Hegel Anerkennung auch Bedingung des Bewusstseins der eigenen Individualität ist, wurde immer wieder Anerkennung auch als Bedingung der Bildung eines unverwechselbaren, unvertretbaren, authentischen Selbst verstanden. Für Fichte ist das nur teilweise richtig – nämlich insofern er dem Gewissen eine besondere Bedeutung bei der Erkenntnis der eigenen Bestimmung zuschreibt. Sie bleibt aber in den Grenzen einer allgemeinen Pflichtenlehre. Das gilt auch noch für Hegel, der dem Gewissen und der Übertragung des Geniebegriffs auf die Moral noch skeptischer gegenübersteht. In der Phänomenologie hat er aber gezeigt, dass die Anerkennung der Einzelheit des Gewissens, auch in seiner möglichen Abweichung von den sozialen Regeln, zum Geist eines Gemeinwesens gehört. Eine solche Abweichung verleiht allerdings keine Rechte und setzt die Gesetze nicht außer Kraft. Auch im sozialen Leben der Berufe und Institutionen hat der Einzelne umso mehr „Wirklichkeit“, wie er den Geist dieser Einrichtungen und der ihr zugrunde liegenden „Verfassung“ eines Volkes in sein Verhalten aufnimmt und bewusst vollzieht. Dazu kann allerdings auch eine Aktualisierung dieser Regeln und eine Art „schöpferischer Interpretation“ gehören.

Die Auflösung der ständischen Gesellschaft, die Pluralisierung der Wertesysteme und der Zweifel an einem umfassenden und linearen Fortschritt der Vernunft in der Geschichte haben das Ideal der „Bildung“ des Individuums zu einem vollgültigen Standesmitglied und Staatsbürger verblassen lassen. In modernen Sozialisationstheorien wird zwar die Prägung durch gesellschaftliche Verhaltens- und Wertmuster betont, aber zugleich in einer Bindung an die eigene Bestimmung, die persönlichen starken Wertungen (Charles Taylor) oder die Entscheidung zu dem, was einem persönlich etwas bedeutet (Harry Frankfurt), das eigentliche Ziel der Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Das geht bis zum Ideal der individuellen Selbsterfindung etwa bei Richard Rorty

Wenn das individuelle Selbstbewusstsein von der Anerkennung durch andere abhängt, dann ist diese auch eine Bedingung der Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Aber zweifellos kann ein Subjekt, das auf seiner Autonomie und der Würde und Gleichheit von Personen besteht, nicht jeden Selbstentwurf tolerieren oder gar durch positive Bestätigung unterstützen. Auch die Freiheit, die eigene Bestimmung zu finden, muss sich nach allgemeinen Regeln einschränken lassen. Es kann aber soziale Regeln und Einrichtungen geben, die dem Spielraum solcher Suche mehr Raum geben als andere. Für Hegel etwa war Voraussetzung für die Entwicklung eigener Fähigkeiten und die Suche nach einem Platz im sozialen Gefüge die bürgerliche Gesellschaft mit freier Berufswahl und Gewerbefreiheit, gebunden nur an den Nachweis von Qualifikation und Kompetenz.

Der Streit darüber, ob der Markt und seine ökonomischen Gesetze zu den günstigen Bedingungen der Anerkennung individueller Besonderheit gehört, ist bis heute auch politisch virulent. Die einen verweisen auf die großen Möglichkeiten des „pursuit of happiness“ in diesem System, oder auch auf die ständige Individualisierung der Bedürfnisbefriedigung – etwa mit der „on demand“ Produktion. Die anderen betonen die rigiden ökonomischen Gesetze, die Uniformierung der Lebensweisen in der globalisierten Wirtschaft und die Zwänge etwa der Informations- und Verkehrstrukturen für die Lebensweisen. Die Wahl von Lebensplänen hängt eben nicht nur davon ab, dass sich der Staat aus der Bevormundung der Selbstverwirklichung zurückzieht, sondern auch, welche Lebensweisen in einer effizienten, hoch technisierten Gesellschaft überhaupt noch möglich sind.

Vor allem aber hat die Effizienz dieser Strukturen zu einem strikten Leistungswettbewerb und zu einer Selektion von Fähigkeiten und von Leistungsbereitschaft geführt, die Anerkennung auf die Belohnung für und den Respekt vor Erfolgen reduziert, die mit betriebswirtschaftlichen Kriterien zu messen sind. Man braucht nur an die Leistungs-, Selektions- und Anerkennungskriterien moderner Unternehmen, aber auch von Bildungseinrichtungen zu denken, um zu sehen, dass die Elemente der „Familiensittlichkeit“, d.h. der leistungsunabhängigen Unterstützung, emotionalen Zuwendung und Respektierung aus den Marktgesellschaften zu verschwinden drohen. Anerkennung der individuellen Unverwechselbarkeit und Integrität, auch bei Menschen, die unter den herrschenden Leistungskriterien eher als „Versager“ gelten, erfordert nach wie vor Verhaltensweisen und „Gruppenidentitäten“, die, wie bei Hegel die Familie und die Korporation, den Anerkennungskriterien der bürgerlichen Marktgesellschaft entgegengesetzt sind.

Axel Honneth hat versucht, solche Kriterien in einer an Hegel anschließenden, aber auf moderne Sozialpsychologie gestützten Weise zu systematisieren. Die drei „Muster intersubjektiver Anerkennung“, die er so herausarbeitet, sind „Liebe“, „Recht“ und „Solidarität“. Der Begriff der Liebe knüpft an Hegel an, umfasst aber alle „Freundschaften“ und Verwandtschaftsbeziehungen, insofern sie „aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen“ („Kampf um Anerkennung“, 1992, S. 153). Wie in Hegels „Familie“, aber möglicherweise auch in anderen Partnerschafts- und Freundschaftsformen, erfüllen sie das Bedürfnis nach Hilfe und Unterstützung ohne Vorleistung und mit „affektiver Zustimmung und Ermutigung“ (ebd.).
Auch in den Beziehungen des modernen Rechts ist nach Honneth eine öffentliche Anerkennung des Individuums als Person mit bestimmten Fähigkeiten der moralischen Autonomie, der elementaren Bildung und des Geltendmachens sozialer Ansprüche enthalten. Vor allem, wenn man die Theorie der verschiedenen Generationen von Grundrechten (liberale Freiheitsrechte, politische Grundrechte, soziale Wohlfahrtsrechte) akzeptiert (188), dann liegt im Status des Rechtssubjektes, auch wenn es von sozialer Wertschätzung unabhängig ist, eine „Chance zur Ausübung von Selbstachtung“ durch die öffentlich anerkannte Fähigkeit des Einklagens von Rechten und der „Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung“ (195). Um diesen Status kommt es daher in modernen Gesellschaften auch zu einem „Kampf um Anerkennung“ von sozialen Gruppen.

Während Liebe und Recht den Individuen Selbstvertrauen und Selbstachtung verleihen sollen, geht es bei der Solidarität um Selbstschätzung durch die soziale Wertschätzung der anderen. Obwohl diese Wertschätzung dem Individuum in seiner Besonderheit gelten, sind sie doch in der Regel gebunden an „ein Gefühl des Gruppenstolzes“, das darin besteht, Mitglied einer Gruppe zu sein, deren Leistungen für die gesamte Gesellschaft wertvoll sind und als solche anerkannt werden (208). Auch diese Anerkennung muss von der Gruppe und mit der Gruppe erkämpft werden.

Honneths drei „Kriterien“ für die soziale Anerkennung von Individuen in ihrer unverwechselbaren Individualität bzw. Identität sind an Hegels Formen der Sittlichkeit angelehnt, sollen aber durch empirische sozialwissenschaftliche Erkenntnisse der Gegenwart abgesichert werden. Was offen bleibt, ist der Grund, weshalb unabhängig von Hegels System gerade eine solche Trias die vollständigen oder jedenfalls entscheidenden Bedingungen enthalten soll. Offen bleiben ferner die Bedingungen einer Gesellschaft, die notwendige oder zumindest bereichernde Beiträge von Individuen und Gruppen zu einer „gemeinsamen Praxis“ identifizieren und anerkennen kann. Man muss dazu schon einen „kommunitaristischen“ Ansatz verfolgen, nach dem das soziale Leben das Tun und Werk aller ist, dessen Lasten und Verdienste nach gemeinsamen Kriterien zuerkannt werden können.

Aber selbst dann ist noch unklar, worin im Besonderen die Beiträge zu dem gemeinsamen Werk liegen. Es bedürfte einer Einigung über Sphären der Gerechtigkeit im Sinne Michael Walzers oder über die Art der notwendigen oder allgemein wünschenswerten öffentlichen und kommunalen Güter. In einer modernen Gesellschaft, in der das „System der Bedürfnisse“ sich in immer schnellerer Entwicklung befindet, stellt das ein schwer lösbares Problem dar, zumal umstritten ist, ob es ein die besonderen Systeme umfassendes Gesamtsystem „Staat“ oder „Gesellschaft“ überhaupt noch gibt. Sinkt deren Bedeutung, dann steigt die der sozialen Gruppen selber für die „Identität“ und „Selbstachtung“ ihrer Mitglieder. Zur Anerkennung zwischen Individuen sowie zwischen „Ich“ und „Wir“ kommt dann die zwischen den Gruppen hinzu, sei es im Rahmen einer gemeinsamen politischen Kultur oder in einer offenen multikulturellen Gesellschaft. Das ist Gegenstand einer dritten Strömung der modernen Anerkennungstheorie.

Anerkennung zwischen Gruppen verschiedener Weltanschauungen und Kulturen in einem multikulturellen Gemeinwesen

Dabei geht es über die rechtliche Duldung hinaus um die Integration sowohl der Gruppe wie des individuellen Gruppenmitgliedes in eine Gesamtidentität. Man kann mit dem anspruchsvollen Hegelschen Begriff von einer Anerkennung des Ich im Wir als einer Art von „Versöhnung“ sprechen. In dieser Richtung zielen vor allem Arbeiten von Charles Taylor.

Nach Charles Taylor besteht eine Spannung zwischen den beiden ersten gerade besprochenen Themen, der Anerkennung der universalen Gleichheit von Moralsubjekten und Rechtspersonen einerseits und andererseits der ihrer „unverwechselbaren Identität“ („Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, S. 28), die sich „in Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen“ (27) herausbilde. Denn die erste Form wird ermöglicht durch eine Politik des „Universalismus“ bzw. der „Gleichheit“, die zweite erfordert eine „Politik der Differenz“ (27, 29). Minderheiten, deren Gruppenidentität durch ethnische, religiöse, historische, oder sprachliche Zugehörigkeit bestimmt wird, oder Angehörige traditionell diskriminierter Geschlechter müssen in pluralistischen, toleranten und demokratischen Rechtsstaaten zum Gegenstand einer „differenzierenden Praktik“ (30) gemacht werden. Sie kann darin bestehen, Gruppenrechte einzuräumen, aber auch Individuen unter besondere Pflichten zu stellen (z.B. ihre Kinder eine bestimmte Schule besuchen und eine bestimmte Sprache erlernen zu lassen). Dadurch wird prima facie sowohl das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger wie das autonomer Individualrechte, z.B. Elternrechte, verletzt.

Die Spannung kann nach Taylor nur durch Abwägungen zwischen der „Wichtigkeit bestimmter Formen von Gleichbehandlung“, vor allem der Garantie individueller Abwehrrechte einerseits, und der „Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur“ andererseits gelöst werden (56). Dazu sind in einem modernen Rechtsstaat geeignete Institutionen geschaffen worden. Voraussetzung ist allerdings, dass das Bestehen einer Vielzahl von Kulturen in einem Gemeinwesen überhaupt als ein Wert und ein Recht verstanden wird. Allein auf individuelle Rechte, wie das Recht auf freie Religionsausübung, ist das nicht zu begründen. Es gehört dazu vielmehr eine bestimmte Tradition der liberalen Demokratie, die darin besteht, das Zusammenspiel oder zumindest das faire Nebeneinander von verschiedenen Kulturen als einen intrinsischen Wert zu begreifen.

Zu einer solchen Form der Anerkennung eines positiven kulturellen Pluralismus gehören aber weitere Voraussetzungen, darunter die Bestimmung des Kulturbegriffs und der Größe und Dauer einer Kultur, die Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung haben soll. Nach Taylor gehören zu solchen Kulturen nicht die „kulturellen Milieus innerhalb einer Gesellschaft oder auch kurze Phasen innerhalb der Entwicklung einer Kultur“ (63). Aber welche Phasen sind relevant, und wie viele Menschen müssen etwa an der Wiederbelebung einer Kultur interessiert sein, um ihr den Status einer öffentlich anzuerkennenden und in Maßen sogar positiv zu diskriminierenden Gruppe zuzugestehen? Hier wird man vermutlich auf Honneths „Kampf um Anerkennung“ zurückgreifen müssen: Die Mitglieder einer kleinen kulturellen Gruppe müssen politisch den rechtlichen Status erkämpfen, der die Gruppe zu öffentlichen Leistungen und zu gesetzlichen Maßnahmen ihrer Förderung qualifiziert.

Fraglich ist, ob dieser Prozess einen teleologischen Verlauf nimmt und zu einem vollendeten Abschluss kommen kann, wie Hegel das von dem Erfahrungsprozess behauptet, den die Phänomenologie rekonstruiert. Es könnte stattdessen Errungenschaften der kollektiven Erfahrung geben, für deren Revision wir uns keine guten Gründe mehr denken können. Irreversible Erfahrungen dieser Art, auf denen z.B. der moderne Rechtsstaat oder das staatliche Gewaltmonopol gehören, erlauben es aber nicht, die Geschichte als einen in sich notwendigen Prozess zu verstehen, in dem geschieht, was geschehen muss. Man kann sich also nicht mit der Geschichte in einer Weise versöhnen, wie das dem Stoiker, dem von der Heilsgeschichte überzeugten christlichen Gläubigen oder eben dem Hegelschen Philosophen möglich war.

Anwendung des Prinzips Anerkennung auf historisch gewachsene Institutionen

In meinem Buch über Hegels Theorie der Anerkennung (1979) hatte ich die Frage nach der systematischen Fruchtbarkeit des Prinzips Anerkennung für die praktische Philosophie auch bezogen auch auf Kriterien für gerechtfertigte und notwendige soziale Institutionen bezogen. Das „Prinzip Anerkennung“ sollte auf die historisch entstandenen Institutionen in einer Weise angewendet werden, die Rawls’ „Reflexionsgleichgewicht“ nahe kommt. Das bedeutet, dass sich mit diesem Kriterium begründen lassen muss, weshalb wir Institutionen wie „familienähnliche Solidargemeinschaften“, Grundrechte sichernde Rechtsordnungen, bestimmte Formen des Sozialstaates etc. zur Erfüllung der Bedingungen von Anerkennung brauchen – und darüber hinaus eine Extrapolation dessen, was in den gegenwärtigen Institutionen für diese Aufgabe noch fehlt.

Heute scheint mir, dass die praktische Philosophie vor Aufgaben steht, von denen fraglich ist, ob sie sich noch im Rahmen des „Prinzips Anerkennung“ lösen lassen. Die Anerkennung kulturgeschichtlich entstandener Lebensformen und die rechtlichen und politischen Maßnahmen ihrer Stabilisierung benötigen eine Begründung der Werte des Pluralismus, die nicht allein auf Individualrechte und Anerkennungsbeziehungen zurückgeführt werden kann. Nach welchen Maßstäben etwa kann der aktiven Religionsfreiheit bei Konflikten auch Grenzen gesetzt werden – was die Zahl und Größe religiöser Gebäude, die Geräusche der Kirchenglocken oder des Gebetsrufes, die rituellen Weisen alltäglicher Handlungen wie des Schlachtens von Tieren oder des Tragens von Kleidung usw. angeht?

Toleranz im Sinne des wechselseitigen Ertragens, Anerkennung der gleichen Ansprüche und wechselseitige Wertschätzung sind dafür Voraussetzung. Aber es gehört dazu auch die Vorstellung eines sozialen Kosmos, in dem überlieferte Mannigfaltigkeit von Lebensformen, gerechte Verteilung der Entfaltungsmöglichkeiten und das Gedeihen der Individuen in ihrer individuellen und kulturellen Identität gefördert werden. Welche Einschränkungen ihrer öffentlich wahrnehmbaren Lebensweise sind Gruppen welcher Größe zumutbar? Wie wichtig sind für alle die religiösen Riten einer Gruppe im Verhältnis zu gemeinsamen öffentlichen Gütern wie Stille, gemeinsame Tages- und Wochenrhythmen, gemeinsame Erziehung, öffentliche Symbole und Denkmäler usw.? Wie verhält sich überhaupt die Geschichte einer Gruppe zur staatlichen oder – bei Staatenbünden – auch überstaatlichen Geschichte?

Hier brauchen wir nach meiner Auffassung die Konzeption einer „well-ordered society“, die über Rawls’sche Gerechtigkeitsprinzipien ebenso hinausgeht wie über Anerkennungsbeziehungen zwischen Individuen und Gruppen („Ich“ und „Wir“). Man kann dabei an eine holistische Zuordnung der Kultursphären im Sinne der Hegelschen Philosophie des Geistes denken – aber ohne deren starke systematische Voraussetzungen. Es geht um eine gesellschaftliche Verständigung über die Gewichtung von Werten, die bis zur Frage nach Vereinbarkeit unterschiedlicher Begriffe menschlichen Lebens reicht – man denke an den Streit über den Anfang und die erlaubten Weisen der Beendigung des menschlichen Lebens (Embryonenforschung und Sterbehilfe). Philosophen können die darüber geführten politischen Kämpfe nicht durch apriori-Entscheidungen erübrigen. Aber sie können Rahmenvorstellungen und Kriterien einer wohlgeordneten pluralistischen Gesellschaft und des möglichen bzw. erträglichen Umfanges von Konsens und Dissens entwickeln. Dazu werden auch Vorschläge über die Gewichtung öffentlicher Güter wie Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Unterhaltung, Kunst etc. gehören, ohne die Freiheit von privaten und Gruppenpräferenzen widerrechtlich einzuschränken. Es fragt sich, ob dazu die Konzeption der Anerkennung ausreicht.

Die praktische Philosophie braucht solche Rahmenvorstellungen des wohlgeordneten Ganzen mit der Möglichkeit zur Konkretisierung in Wissenschaft und Gesellschaft heute auch für die Natur. Denn wir stehen sowohl in Hinsicht auf den menschlichen Körper wie die außermenschliche Natur vor grundsätzlichen Optionen. Es geht um die Einstellung zu Natürlichkeit überhaupt und zum Naturerbe der Natur- und Kulturgeschichte. Gentechnologie, Klonierung und die Techniken des „Human-Machine-Interface“ (elektronische Implantate im Mikromaßstab) lassen die biotechnische „Neuerfindung“ des Menschen und eine tief greifende Veränderung der Natur in Reichweite gelangen.

Um für diese Optionen normative Kriterien zu entwickeln, genügen die interpersonalen Rechte und Anerkennungskriterien nicht – auch nicht in ihrer diskursethischen Transformation oder im Neopragmatismus (J. Habermas, R. Brandom). Die heutigen Debatten über den Einsatz der Gentechnologie und des Klonierens in der Pflanzen- und Tierzucht sowie in den Techniken der menschlichen Fortpflanzung und der Verbesserung seiner Fähigkeiten – dem sog. Enhancement – können nicht allein mit Maßstäben der zwischenmenschlichen Pflichten und Rechte, auch nicht der Bedürfnisse nach Anerkennung, aufgeklärt oder gar orientiert werden. Es entwickeln sich aber bereits interkulturelle Konsense über Prinzipien des Umganges mit der außermenschlichen Natur – wie die Nachhaltigkeit, die Erhaltung der Biodiversität, Begriffe der tiergerechten Haltung usw. –, die von Vorstellungen des Wertvollen und Erhaltenswerten am „Naturerbe“ geprägt sind. Sie müssten in der praktischen Philosophie expliziert, auf ihre Konsistenz, ihre Konsequenzen und ihre Gründe hin überprüft werden.
Auch in Bezug auf den biotechnischen Umgang mit dem Menschen gibt es z. T. interkulturelle Konsense, vor allem was die Ablehnung genetischer Veränderung oder des reproduktiven Klonens im Interesse privater oder gar öffentlicher „Züchter“ angeht. Auf der anderen Seite stehen ungelöste Konflikte hinsichtlich der „liberalen Eugenik“, die sich auf die Interessen der zukünftigen Kinder oder die reproduktive Freiheit der Eltern beruft. Um hier Grenzen und Maßstäbe zu etablieren, kommt der Konzeption der Anerkennung durchaus Bedeutung zu – etwa für die Fragen: Wie steht es mit der Chancengleichheit in einer Gesellschaft gesteigerter Unterschiede menschlicher Fähigkeiten, vor allem wenn der Zugang zu solchen Verbesserungen von privater Kaufkraft abhängt? Wie steht es mit den Möglichkeiten der Kommunikation und der „Berechenbarkeit“ des Verhaltens, wenn die Emotionen und Leistungen eines „verbesserten“ Menschen und ihr sprachlicher und körperlicher Ausdruck zunehmend schwerer zu verstehen und nachzuvollziehen werden?

Auch hier scheint mir aber über die Anerkennung hinaus eine gemeinsame Vorstellung von den Werteigenschaften der (bisherigen) menschlichen und außermenschlichen Natur notwendig zu sein. Um dazu einen konkretisierbaren Rahmen zu entwickeln muss man die Beschränkung der neuzeitlichen Ethik auf interpersonale Beziehungen überwinden und die Idee einer möglichen wohlgeordneten Natur als Maßstab des menschlichen Handelns entwickeln.

Eine solche Idee kann allerdings weder an einem notwendigen („ewigen“) Kosmos orientiert sein, noch an einer stabilen Schöpfung oder einem zeitlosen „mundus intelligibilis“. Es muss sich um eine regulative Idee für einen „möglichen“ und aufgegebenen Kosmos handeln. Sie ist aber kein ideales Postulat, sondern „deskriptiv“ konkretisierbar durch die „guten“ Eigenschaften der in der Evolution entstandenen Natur (einschließlich des menschlichen Körpers). Allgemeine Grundzüge dieser Idee lassen sich einer Semantik der Moralsprache und einer Hermeneutik der evaluativen Weltbilder (Kosmos, Schöpfung etc.) entnehmen. Zu deren Grundstrukturen gehören Mannigfaltigkeit und gerechte Verteilung der Entwicklungschancen für Formen, Arten und Gruppen, sowie Gedeihen und Wohlergehen der Individuen auf verschiedenen Stufen der Scala naturae. Die weitere Konkretisierung ergibt sich aus einem Prozess kulturgeschichtlicher Erfahrung mit Weltbildern, Normen und Institutionen.

An dieser Stelle kann man an eine nicht-teleologische „Erfahrungsgeschichte des Bewusstseins“ in der Nachfolge Hegels anknüpfen. Was als Resultat dieses Prozesses am „Naturerbe“, auch dem des menschlichen Körper erhaltenswert ist und was dagegen zum Zwecke der Leidensbekämpfung modifiziert werden kann, muss natur- und kulturgeschichtlichen Erfahrungen entnommen und in öffentlichen Diskursen konkretisiert und vereinbart werden. Dieses Erbe darf nicht durch eine Konzeption verleugnet werden, die einerseits „Realität“ auf naturwissenschaftlich Erfassbares reduziert und andererseits Werte allein als Projektionen privater Wünsche auf eine wertfreie Natur versteht. Als Folge davon könnte nämlich das für viele Werte unseres Selbstverständnisses und unserer Gesellschaftsordnungen konstitutive natürliche Erbe durch eine Technologie der radikal wunschangepassten Natur oder durch eine grenzenlos „verbessernde“ Medizin abgeschafft werden.

In einer solchen Konzeption der praktischen Philosophie als „Konkrete Ethik“ kommt der Anerkennungstheorie für die sozialen Beziehungen weiter eine wichtige Funktion zu. Wenn aber die Beziehung des Menschen zur Natur in das Zentrum der praktischen Philosophie gehört, muss man bezweifeln, dass „Anerkennung“ ihr umfassendes Prinzip sein kann.

UNSER AUTOR:
Ludwig Siep ist Professor für Philosophie an der Universität Münster.
Der vorliegende Beitrag ist eine stark gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der in „Anerkennung“, hg. v. H.-C. Schmidt am Busch und C. F. Zurn, Berlin, Akademie Verlag, 2008, erscheinen wird.


Im Text genannte zeitgenössische Literatur:

Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 301 S., kt., 1994, stw, Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Siep, Ludwig: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. 1979, Freiburg.

Siep, Ludwig, Konkrete Ethik, Grundlagen der Natur- und Kulturethik. 396 S. kt. 2004 stw 1664, Surkamp, Frankfurt a. M.

Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas. 198 S., kt., 1997, Fischer-Taschenbuch, Fischer, Frankfurt a. M.