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ESSAY

Hösle, Vittorio: Der Wert des eigenen Glücks. Über Selbstliebe und Anforderungen an sich selbst

aus Heft 4/2014, S. 8-20

Kants Widerlegung der These, Ethik lasse sich auf das Streben nach dem eigenen Glück reduzieren

Warum hat Kant mit einer Jahrtausende alten Tradition gebrochen, die das Wesen der Moral darin sah, nach dem eigenen Glück zu streben, und den Sinn der Ethik darin, dieses Glücksstreben richtig zu lenken? Ein Argument ist denkbar einfach: Es kann sein, dass jemand nur dadurch glücklich werden kann, dass er andere Menschen quält. In diesem Fall, so kann man auf Kantischer, aber nicht ohne weiteres auf eudämonistischer Grundlage sagen, muss er eben auf sein Glück verzichten; und der Ethiker handelt unmoralisch, der ihm Tipps gibt, wie er sein Glück maximieren kann.

Der Eudämonist wird erstens entgegnen, das Glück dieses Sadisten sei kein wahres Glück. Auch wenn interpersonale Glücksvergleiche notorisch schwierig sind, bin auch ich davon überzeugt, dass das Glück des sadistischen Menschen sich anders anfühlt als das Glück des tätigen Altruisten, der sich am Glück anderer mitfreuen kann. Jeder, der beide Formen des Glückes kennt, wird die zweite vorziehen. Aber vielen Menschen, unter anderem unserem Sadisten, ist das Glück des Altruisten durch ihre psychische Konstitution versagt. Jedenfalls scheint mir das eine plausible empirische Annahme.

Jeder vernünftige Erzieher hat darauf hinzuwirken, dass das ihm anvertraute Kind Präferenzen entwickelt, die dem, was moralisch statthaft oder sogar geboten ist, weitgehend entsprechen, und indem er das tut, trägt er mit großer Wahrscheinlichkeit auch dazu bei, das Kind glücklicher zu machen. Aber es kann sein, dass alle Erziehungsbemühungen an einer renitenten Bösartigkeit scheitern; und gewiss scheitert die eudämonistische Konvergenzhoffnung bei den Sadisten, bei denen sich das Entwicklungsfenster für immer geschlossen hat, deren Präferenzen also nicht mehr geändert werden können.

Zweitens wurde gegen Kants Antieudämonismus eingewendet, der Bösewicht werde doch meistens bestraft, erleide also Unglück nach seinen eigenen Kriterien. Doch die bloße Möglichkeit, dass er unbestraft davonkommt, reicht aus, um die Identifikation des Moralischen mit dem Streben nach dem eigenen Glück zu Fall zu bringen. Und ich fürchte, es würde leicht fallen, Schwerverbrecher, zumal politische Tyrannen, zu finden, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Ja, selbst wo dies der Fall war, mag es wohl sein, dass der Tyrann die Hinrichtung am Ende einer langen und erfolgreichen Laufbahn des Quälens seiner Mitmenschen keineswegs als zu hohen Preis für das Kühlen seines Mutes ansah und seinen Weg, auch im Wissen um sein Ende, nochmals beschritte. Aber leidet nicht der unentdeckte Verbrecher wenigstens Gewissensqualen? Auch diese Annahme scheint mir reichlich optimistisch. Doch selbst wenn sie zuträfe, hat Kant zu Recht gegen Christian Garve eingewendet: “Wollte man dagegen sagen: dass durch die Abweichung von der letzteren [sc. der Tugend] der Mensch sich doch wenigstens Vorwürfe und reinen moralischen Selbsttadel, mithin Unzufriedenheit zuziehen, folglich sich unglücklich machen könne, so mag das allenfalls eingeräumt werden. Aber dieser reinen moralischen Unzufriedenheit (nicht aus den für ihn nachtheiligen Folgen der Handlung, sondern aus ihrer Gesetzwidrigkeit selbst) ist nur der Tugendhafte, oder der auf dem Wege ist es zu werden, fähig. Folglich ist sie nicht die Ursache, sondern nur die Wirkung davon, dass er tugendhaft ist.” (Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis A 220)

Drittens kann man lesen, Aristoteles, der den Eudämonismus zwar nicht geschaffen, aber ihn doch wie keiner vor ihm ausführlich und unter Ausschluss alternativer Begründungsideen, wie man sie bei Platon noch findet, entwickelt hat, habe nie eine naturalistische Definition des Guten gegeben. Er definiere die Tugend keineswegs als das Mittel, das einen glücklich mache, sondern umgekehrt sei die Eudaimonia die Lust, die man an den eigenen tugendhaften Handlungen empfinde. (Nikomachische Ethik 1099a17 ff.) Ja, in seiner berühmten Verteidigung der Selbstliebe lehre er ausdrücklich, nur der ethisch hochstehende Mensch solle sich selbst lieben (a. a. O. 1169a11 ff.)

Man kann gerne zugeben, dass Kants Kritik nur dort Sinn gibt, wo der Begriff des Glücks von normativen Konnotationen befreit worden und zum Gegenstand der empirischen Psychologie geworden ist, also in der Neuzeit. Aber das macht Aristoteles’ Theorie noch nicht akzeptabel. Denn welcher Habitus tugendhaft ist und daher Glück hervorrufen kann, kann nach ihm letztlich nur durch die Berufung auf den in praktischen Dingen Vernünftigen ausgemacht werden. Aristoteles leistet wesentlich mehr bei der Beantwortung der Frage, wie man zu ethischem Verhalten erziehen kann – seine einseitige, aber zu gutem Teil richtige Antwort lautet bekanntlich: durch Habituierung – als bei der Klärung dessen, was moralisch ist.


Moralischer Realismus


Kant hat also, wie mir scheint, die These zu Recht widerlegt, Ethik lasse sich auf das Streben nach eigenem Glück reduzieren – was keineswegs bedeutet, dass seine formalistische Version des moralischen Realismus richtig ist. Mit moralischem Realismus ist gemeint, dass es objektiv Richtiges unabhängig von unseren Strebungen gibt: Das, was wir wollen sollen, ist nicht einfach eine Funktion dessen, was wir faktisch präferieren. Zuzugeben ist allerdings, dass alle moralischen Realisten mit einem Problem kämpfen, das der moralische Subjektivismus vermeidet, der moralische Werte mit präferierten Zuständen identifiziert: Sie können nicht ohne weiteres erklären, wie es zu moralischem Handeln kommt – Kant behauptet sogar, dass niemand sicher sein kann, dass es auch nur eine einzige Handlung aus Pflicht je gegeben hat. Denn die Motive anderer kennen wir nicht, und über unsere eigenen können wir uns täuschen.

Eudämonisten haben es da einfacher – Glücksstreben ist natürlich, und im Grunde bedarf es nur intellektueller Schulung, um dabei erfolgreich und, nach dieser Position, dadurch auch moralisch zu sein. Aber Einfachheit kann nicht das einzige Kriterium einer Theorie sein – besonders dann nicht, wenn sie zur Verleugnung entscheidender Intuitionen und zu einer Primitivisierung unseres Empfindens führt. So kann man den Gegensatz von Sein und Sollen dadurch loswerden, dass man Macht und Recht zusammenfallen lässt. Aber in den meisten Menschen sträubt sich etwas gegen diesen Vorschlag, und zwar mit einer Wucht, die andere theoretisch abwegige Lehren gar nicht provozieren. Es ist analog meines Erachtens besser, sich damit abzufinden, dass es weniger moralisches Verhalten in der Welt gibt, als wir es gerne hätten, als jeden moralischen Standard abzulehnen, der unser natürliches Glücksstreben transzendiert. Sicher müssen wir eine Antwort auf die Frage finden, warum vermutlich wenigstens einige Menschen moralisch handeln, und wenn man Kants unhaltbare konkrete Ausgestaltung des Dualismus von phänomenaler und noumenaler Welt aufgibt, wird man innerhalb des uns phänomenal zugänglichen Innenlebens etwas finden müssen, was auf das Sittengesetz gleichsam “anspringt”. Der späte Kant geht durchaus in diese Richtung, indem er etwa das moralische Gefühl rehabilitiert. Und sollte es Menschen geben, die dieses Gefühls bar sind, durch Appelle an das sittlich Gebotene also nicht in Schranken gehalten werden, dann bleibt es wenigstens für diejenigen, die sie negativen Sanktionen unterwerfen, wichtig, sich der Geltung der richtigen Normen zu versichern. Denn nur dies kann sie zu jenen Sanktionen motivieren, deren Verhängung manchmal Pflicht ist, auch wenn sie bei einem guten Menschen keineswegs das Glück steigert: Man denke an die Last der Prophetie etwa bei Jeremia oder Jona.

Ist man Kompatibilist, wird man dieses “Anspringen” kausal mit anderen Faktoren unseres Bewusstseins wie etwa unserer Erziehung verknüpfen wollen – auch wenn die Untersuchung dieser Verknüpfung nie eine Antwort auf die Frage zu geben vermag, warum etwas moralisch ist. Denn die Geltungsfrage gehört einer anderen Ordnung an als der kausale Mechanismus: Weder beantworten Kausalerklärungen normative Fragen noch tragen normative Theorien zur Erklärung von Ereignissen bei. Das schließt freilich nicht aus, dass man zwar nicht nach Ursachen, aber doch nach Gründen suchen darf, warum unsere Welt gerade diese Kausalgesetze hat, und dass man unter solchen Gründen den finden mag, dass auf diese Weise moralisches Verhalten ermöglicht wird.

Da das Sittengesetz oder ideal geltende Werte keine empirischen Gegenstände sind, ergeben sich zwei Probleme, ein metaphysisches und ein epistemologisches, deren Schwierigkeit oft zu einer Ablehnung des moralischen Realismus führt. Erstens ist John Leslie Mackies Argument aus der Absonderlichkeit (argument from queerness) zu nennen: Objektive Werte oder ein objektives Sittengesetz sind in ihrem Seinsstatus von allen empirischen Dingen, die kausal miteinander verknüpft sind, so verschieden, dass Zweifel an ihrer Existenz angebracht sind. Darauf ist zu erwidern, dass die Wirklichkeit eben komplexer ist, als wir sie gerne hätten, und dass eine mehrschichtige Ontologie die einzige Weise ist, ihr gerecht zu werden. Dass gerade unsere so liberale Zeit, in der an den besten Universitäten Programs for Queer Studies aus dem Boden schießen, Queerness in der Ontologie ablehnt, steht ihr schlecht an: Warum sollte das Seiende weniger vielfältig sein dürfen als menschliche Sexualität? Und seit Platon hat man in mathematischen Gebilden durchaus etwas gefunden, das, obgleich in vielem von ihnen unterschieden, doch Werten ähnlicher ist als alles Empirische.

Das zweite Argument ist analog zu Paul Benaceraffs berühmtem Argument gegen den Platonismus in der Mathematik. Abstrakte, nicht-räumliche und nicht-zeitliche Gegenstände sind mit uns nicht kausal verknüpft, und daher seien sie epistemisch unzugänglich. Das Argument setzt allerdings voraus, dass jedes Erkennen einen kausalen Prozess zwischen Erkenntnissubjekt und Gegenstand darstellt; und wiederum gibt es keinen Grund, diese Prämisse zu teilen. Ja, als Argument setzt es selbst voraus, dass wir gültige Schlussfolgerungen einsehen können; und zumindest versteht es sich nicht von selbst, wie logische Erkenntnis je auf kausale Prozesse zurückgeführt werden kann. Wer annimmt, dass die ideale Welt die reale prinzipiiert, mag eher eine Antwort darauf haben, warum bestimmte Denkprozesse, die immer nur durch andere derartige Prozesse und letztlich durch physische Ereignisse ausgelöst werden, etwas erfassen können, was sie selbst zwar nicht verursacht, aber was doch der letzte Grund der Wirklichkeit ist, der physischen wie der mentalen.

Die Revolution der Denkungsart

Sicher hat Kant nicht nur negative Gründe für seine Ablehnung des Eudämonismus. Man darf getrost behaupten, dass seine Entdeckung einer Sphäre, deren Erfassung aus den Menschen mehr macht als intelligente nutzenmaximierende Wesen, die als solche reine Naturwesen wären, ihm und den durch ihn beeinflussten Dichtern und Denkern eine Begeisterung für nicht-empirische Erkenntnis, ja eine Art Freiheitsrausch verschaffte, der religiöse Wurzeln hatte und gleichsam ein rationales Surrogat für das Erweckungserlebnis des Pietismus war. Auch wenn Kant nicht bestreitet, dass die Sinnesart nur reformiert werden kann (ganz wie bei Aristoteles durch Habitualisierung), müsse ihr doch eine Revolution der Denkungsart vorausgehen, die der Platonischen Umwendung der Seele verwandt ist, die er aber mit der Taufe aus dem Geist in Verbindung bringt. “Das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muss durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2), und Änderung des Herzens werden.” (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft A 50/B 54) Nach dieser Revolution freilich darf der Mensch durchaus nach Glück streben. Dieses Streben steht jedoch unter Moralvorbehalt; ich muss innerlich bereit sein, auf mein Glück zu verzichten, wenn dieses nur durch die Verletzung des Sittengesetzes gerettet werden kann.

Kants Formulierung des kategorischen Imperativs suggeriert auf den ersten Blick, dass er uns sagen will, was moralisch geboten ist. Freilich umfasst das Generalisierbarkeitspostulat – der rationale Kern des kategorischen Imperativs – Verbote, Gebote und Erlaubnisse gleichermaßen; es besagt, dass nur dann etwas für mich erlaubt bzw. geboten bzw. verboten ist, wenn es ceteris paribus auch für alle anderen erlaubt bzw. geboten bzw. verboten ist. So darf ich nicht lügen – und damit auch kein anderer –, weil ich das jedem zugestehen müsste und ein Zustand allgemeinen Lügens jedes Vertrauen zerstören und damit selbst das Lügen unmöglich machen würde. Kant bringt damit die allgemeine Tendenz des achtzehnten Jahrhunderts auf den Begriff, das Rechtssystem im universalistischen Sinne zu reformieren, also auf allgemeine Rechtsgleichheit zu gründen. Dennoch hat Kant höchstens eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Moralität einer Handlung angegeben. Immerhin führt schon die Fassung des kategorischen Imperativs in der Selbstzweckformel – also das Gebot, weder sich noch andere Personen bloß als Mittel zu gebrauchen – zu einem materialen Prinzip, nämlich der Person. Im zweiten Teil der leider viel zu selten gelesenen Metaphysik der Sitten, seines eigentlichen ethischen Hauptwerks, hat Kant zwei Zwecke angegeben, die zugleich Pflichten sind und seinem System der Tugenden zugrunde liegen: die eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Eigene Glückseligkeit sei deswegen kein Zweck der Pflicht, weil alle Menschen nach Glück strebten und die Pflicht eine “Nötigung zu einem ungern genommenen Zweck” sei; ebensowenig könne ich mir die Vollkommenheit eines anderen Menschen vorsetzen, weil ich das nicht tun soll, “was kein anderer als er selbst tun kann”. (Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre A13 f.)

Der Wert des eigenen Glücks

Ist Kants Argument gegen eine Pflicht zum Streben nach dem eigenen Glück überzeugend? Nun, das hängt ganz von der Definition von Pflicht ab. Akzeptiert man diejenige Kants, hat er im allgemeinen recht – freilich auch nicht immer, da es Selbsthasser und auf ihr Leiden Stolze gibt, die enorme Widerstände überwinden müssen, bevor sie sich auf die Suche nach eigenem Glück einlassen, Da die Existenz von Widerständen eine empirische Frage ist, scheint es mir viel klüger, nicht den Pflichtbegriff, wie ihn Kant versteht, also unter Einschluss psychologischer Faktoren, als Grundbegriff der Ethik anzusehen, sondern statt dessen rein deontische Begriffe, also “geboten”, “erlaubt” und “verboten”. Dass es erlaubt sei, wenn auch unter Moralvorbehalt, nach eigenem Glück zu streben, betont Kant selber; aber es scheint mir offenkundig, dass es sogar geboten ist. Warum? Es folgt aus dem Generalisierbarkeitspostulat und dem Gebot, sich um das Glück anderer zu kümmern – warum sollte ich mich schlechter als diese stellen? Da ich mich nicht um jeden kümmern kann, werde ich mich auf diejenigen konzentrieren müssen, denen ich am ehesten helfen kann, etwa weil ich sie besser kenne; in der Regel ist man aber selber derjenige, den man am besten kennt. Eine eloquente Verteidigung der Selbstliebe findet sich ja nicht nur Nikomachische Ethik 1168a28ff. Auch Thomas von Aquin räumt der Selbstliebe einen wichtigen Platz ein (Summa theologiae II/II q. 25 a. 4). Während man seinen Nächsten mehr lieben könne als den eigenen Körper (q.26 a. 5), gelte dies nicht, wenn es um das eigene Seelenheil gelte, das man auch dann nicht aufs Spiel setzen dürfe, wenn man damit einen anderen rette. Man fragt sich, wie das mit Römerbrief 9.3 (eigenwillig gedeutet q. 28 a.8 ad 1) und 1. Klemensbrief 53 vereinbar ist.

Gerade wer sich vornimmt, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, ist gut beraten, keinen Selbsthass zu pflegen. Ich darf also nicht nur, ich soll mich um mein Glück bemühen. Das bedeutet keineswegs, dass rücksichtsloses Streben nach eigenem Wohlbefinden geboten ist. Denn was nicht erlaubt ist, kann a fortiori nicht geboten sein. Ich darf meine Interessen erstens nicht auf Kosten der Rechte anderer durchsetzen (wobei sich “Recht” nicht auf das positive Recht des eigenen Staats bezieht, sondern auf das, was in einem rationalen Staat Recht sein sollte, etwa das Recht kommender Generationen auf eine intakte Umwelt). Und ich bin zweitens moralisch durchaus aufgefordert, so großzügig wie möglich zu sein und mir etwa die Erfüllung bestimmter Wünsche zu versagen, um anderen bei der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu helfen. Denn auch wenn ich eine größere Verantwortung für mich habe, kann ich sehr wohl erkennen, dass die Befriedigung meiner Luxusbedürfnisse einen viel geringeren Wert hat als die Befriedigung von Grundbedürfnissen von Menschen, die nicht Faulheit, sondern schreckliche Umstände daran hindern, dies selber zu tun.

Eigenes Glück hat also ebenso einen intrinsischen Wert wie das Glück anderer. Kant erkennt immerhin explizit an, dass ich nach eigenem Glück insoweit streben soll, als dies der Erfüllung meiner sonstigen Pflichten dient. Relativ trivial ist es, dass ich für meine elementaren Bedürfnisse und durchaus auch für deren langfristige Befriedigung im Alter sorgen darf, ja, muss, weil ich nur so auf lange Sicht hinaus ein moralischer Akteur bleiben darf. Aber über Nahrung, Wohnung und Kleidung hinaus gibt es Bedürfnisse, deren Stillung uns mit einer Lebensfreude ausstattet, die unserem Einsatz für das moralisch Gebotene einen besonderen Elan verleiht. So kann man etwa argumentieren, wie der weise Wirtschaftspolitiker die Steuern nicht bis zu dem Punkt erhöhen solle, ab dem die Steuereinnahmen zu fallen beginnen, weil die Menschen verärgert zu arbeiten aufhören, so solle auch jeder Mensch sich selbst das gönnen, dessen Verlust ihn seiner moralischen Leistungsfähigkeit berauben würde. Gewiss gibt es hier den wichtigen Unterschied, dass Subjekt und Objekt zusammenfallen; und es mag sein, dass ich die Pflicht habe, daran zu arbeiten, meine persönliche eudämonische Hemmschwelle zu senken. Aber solange mir das nicht gelungen ist, ist Selbstzwang kontraproduktiv.

Das Gute und das Glück

Max Scheler hat zwar, Kant folgend, die Ausrichtung des Guten auf das eigene Glück abgelehnt, aber die These vertreten, umgekehrt bestehe durchaus eine Beziehung zwischen dem Guten und dem Glück. “Nur die selige Person vermag einen guten Willen zu haben, und nur die verzweifelte Person muss auch im Wollen und Handlen böse sein. … Alle gute Willensrichtung hat ihre Quelle in einem Überschuss der positiven Gefühle der tiefsten Schicht…”. (Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern / München 6. Aufl., 1980, S. 350). Damit ist etwas Richtiges gesagt: Wer selber unglücklich ist, ist viel seltener großzügig gegenüber anderen – vielleicht weil ein geradezu metaphysischer Gleichheitswille ihn dazu verleitet, auch die anderen auf das eigene Glücksniveau herabzuzerren. Aber dabei handelt es sich um eine empirische Regelmäßigkeit, keineswegs um ein Wesensgesetz, wie Scheler behauptet. Es gibt zumindest zwei Typen von Ausnahmen. Erstens kann es durchaus Menschen geben, die gerade aus ihrer existenziellen Verzweiflung heraus sich zu heroischen Taten der Selbstaufopferung aufschwingen – ich denke an Sydney Carton in Charles Dickens’ A Tale of Two Cities – oder die, was vielleicht noch bewundernswerter ist, auch wenn sie aufgrund einer Katastrophe jede persönliche Glückshoffnung aufgegeben haben, weiter ihren Pflichten nachkommen, wie etwa der zwar Pflanzen und Tieren gegenüber fürsorgliche, anfangs aber wegen seiner abweisenden Art seiner Nachbarin gegenüber abstoßende, doch in seiner Verantwortung für seine Patienten unbeirrbare Arzt, den Aleksander Bardini im zweiten Teil von Krzysztof Kieślowskis Dekalog so meisterhaft spielt. Dass er seinen Beruf weiter ausübt, obgleich seine ganze Familie ausgelöscht wurde, gibt ihm eine Würde, die an die bekannte Passage in Kants “Grundlegung” erinnert: “Wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.” (A 10) Gegen Kant finde ich freilich, dass die Würde jenes Arztes noch bedeutend dadurch gesteigert wird, dass er die ihn konsultierende schwangere Nachbarin durch eine Lüge zum Austragen ihres Kindes bringt, auch wenn ihn dessen schließliche Geburt angesichts seines eigenen Verlustes nicht wirklich zu erfreuen vermag.

Es gibt auch den umgekehrten Fall, dass jemand, gerade weil er glücklich ist, sich nicht um bestimmte Veränderungen bemüht, die wünschenswert wären, und somit eine prima-facie-Pflicht nicht erfüllt. Viel spricht dafür, dass sozialer Wandel – und zwar im Guten wie im Bösen – von Menschen ausgeht, die weder katastematische Lust im Sinne Epikurs noch jene innere Ruhe kennen, die aus der Kontemplation resultiert.

Die empirische Glücksforschung

Die empirische Glücksforschung ist eine relative junge Disziplin, die keineswegs schon den Weg einer sicheren Wissenschaft beschritten hat. Es existieren verschiedene Glücksbegriffe, und das Problem der Messung von Glück und zumal interpersoneller Glücksvergleiche ist schwer zu lösen. Die Parameter, die Glück, und erst recht Glücksäußerungen, bestimmen, sind zahlreich, bloße Korrelationen lassen die Richtung der Kausalität offen lassen, ja, unser Glücksempfinden reagiert auf Glückstheorien von Glücksforschern.

Wir verdanken dieser Disziplin verschiedene Paradoxa des Glücks. Neben dem nicht unbestrittenen Easterlin-Paradox, nach dem zwar in jedem Land größerer Reichtum (bis zu einem bestimmten Wert) mit größerem Glück korreliere, jedoch, wenn ein Land mit einem anderen oder eine frühere mit einer späteren Epoche desselben Landes verglichen werde, das Glücksniveau kaum variiere, sind drei andere Paradoxa bekannt. Carol Graham (Happiness around the World, Oxford 2009, 146-158) spricht vom Paradox des Wachstums, der glücklichen Bauern und frustrierten Überflieger sowie des Erstrebens. Das erste Paradox hat damit zu tun, dass auch dann, wenn Zufriedenheit mit dem Bruttosozialprodukt pro Kopf korreliert, während der Wachstumsphase einer Wirtschaft die Zufriedenheit stark sinkt; das zweite verweist darauf, dass arme Bauern oft zufriedener sind als wirtschaftlich erfolgreiche Menschen; das dritte schließlich beruht darauf, dass in reicheren Ländern die Zufriedenheit mit guter Gesundheit geringer, in armen Ländern die Toleranz von Krankheiten höher ist. Doch im Grunde sind diese Paradoxe alle nicht überraschend. Es gibt zwar elementare Güter, deren Fehlen unweigerlich das Glück senkt, aber jenseits der Schwelle absoluter Armut passen wir uns unseren Möglichkeiten an. Geht es uns oder auch nur unseren Nachbarn besser, entwickeln wir höhere Erwartungen, deren Enttäuschung uns unzufrieden macht. Reichtum erhöht die Erwartungen und macht uns dadurch verletzlicher, wenn Rückschläge einsetzen. Insbesondere wenn eine traditionelle Wirtschaft sich zu einer modernen entwickelt, nimmt die Konkurrenz zu, damit auch der Druck auf die eigene Arbeitsleistung und der Stress; hinzu kommt die langsame Unterhöhlung des tradierten Wertsystems mit seiner Hochschätzung persönlicher Beziehungen. Ist aber der Übergang erfolgt, mag es sein, dass das Glück insgesamt größer ist. Doch ist das erkauft worden mit Verlust an Glück; ja, es kann sogar sein, dass unzufriedene Menschen den eigentlichen Motor des Wirtschaftswachstums ausmachen.

Das Glück gelungener Innovationen

Wirtschaftswachstum ist kein letzter Zweck, sondern nur ein Mittel. Aber das Problem ist allgemeiner. Jeder Neuerer, auch in Sphären, die mit intrinsisch Wertvollem wie Politik, Religion, Kunst und Wissenschaft zu tun haben, ist von einer inneren Unruhe getrieben, die demjenigen abgeht, der mit dem, was da ist zufrieden ist. Robert Spaemann, ja, schon unsere Alltagssprache unterscheidet zwischen Zufriedenheit und Glück: Zufriedenheit ist passiver als Glück (im Extremfall wird sie zur Ataraxie, die sich durch nichts aus der Fassung bringen lässt und daher auch weitgehend das Interesse an der Welt verliert), während zum Glück eigener Einsatz um etwas einem nicht unmittelbar Gegebenes zu gehören scheint. So zeitigt der Erfolg einer gelungenen Innovation ein Glückserlebnis, das dem bloß Zufriedenen versagt ist. Aber das Risiko des Scheiterns bei der Suche nach Innovation ist hoch, und selbst der erfolgreiche Innovator versteht oft nicht, wann er sich zur Ruhe setzen sollte, weil ihm weitere Innovation nicht mehr vergönnt ist. Ja, selbst wenn ihm das gelingt, wie Giacchino Rossini, der fast die Hälfte seines langen Lebens als Komponist a. D. verbrachte, wird die Erinnerung an die verflossene Kreativität oft schmerzlich sein. Daher gibt es keine evidente Antwort auf die Frage, ob der leicht Zufriedenzustellende oder der nach Glück Strebende auf die Dauer “glücklicher” ist. Das erotische Ideal der Neuzeit, das im Abendland seit der Romantik die Vorstellung einer Ehe verdrängt hat, mit der man zufrieden sein kann, hat ohne Zweifel neue Glückserfahrungen ermöglicht – daneben aber auch tiefere Leiden. Ich gestehe, dass ich nicht weiß, wie man unter eudämonistischem Gesichtspunkt beide gegeneinander aufwiegen soll. Das ist freilich deswegen nicht nötig, weil die Frage, welchen Weg jemand geht, ohnehin nicht durch Reflexion, sondern durch den Dämon des eigenen Charakters beantwortet wird. Vermutlich ist es ein Zeichen von Weisheit, und damit auch von Glück, wenn man jedem die Erfüllung gönnt, die ihm gemäß ist. Umgekehrt ist das aggressive Predigen von Nietzsches Zarathustra gegen die verkleinernde Tugend und das kleine Glück ein Anzeichen dafür, dass Nietzsches eigenes, hochriskantes Unternehmen nicht gut ausgehen würde.

Die grundlegendste Paradoxie des Glückes ist noch gar nicht berührt worden. Sie besteht darin, dass Glücksgefühle nicht intentione recta erstrebt werden können. Wer direkt auf Gefühle abzielt, müsste sich ja mit einer Glücksdroge als einer billigeren Abkürzung zufriedengeben. Es mag sein, dass für bestimmte sinnliche Vergnügen in der Schönen Neuen Welt, die Aldous Huxley vorwegzunehmen sucht, ein derartiges Surrogat gefunden werden kann – die Tablette, die wirklich genauso schmeckt wie der Apfelstrudel, oder direkter noch eine Injektion ins Gehirn. Aber es ist nichts weniger als absurd, bei komplexeren Gefühlen, die durch die Auseinandersetzung mit der Welt in ihrer ganzen Komplexität entstehen, solche Surrogate anzunehmen. Ja, selbst wenn es sie je geben könnte, wer wollte ein solches Glück? Glück ist zwar ein mentaler Zustand, aber es ist seinem Wesen nach intentional – es ist Glück über etwas, und zwar etwas, das man für real hält. Ich muss nach bestimmten realen Gütern streben, wenn auch vielleicht aufgrund der Erfahrung, dass ihr Besitz – und, mehr noch, die Arbeit an ihrem Erwerb – mein Glück erhöht, nicht nach den Gefühlen selbst. Vor “Menschen, die die Liebe lieben, aber nicht den Gegenstand”, warnt schon Grillparzers Bertha (im Zweiten Aufzug der “Ahnfrau”). Glück kann nur das Resultat sein einer Selbsttranszendierung in die Welt hinein, und man spürt es dann am ehesten, wenn man nicht mehr daran denkt, weil man selbstvergessen in einer Aufgabe aufgeht, es also gleichsam von hinten aufscheint. In Abwandlung eines bekannten Satzes von Wittgenstein lässt sich formulieren: “Die Lösung des Problems des Glücks merkt man am Verschwinden dieses Problems.”

Auch wenn dies alles bei Kant nicht artikuliert ist, der als Psychologe nicht von gleicher Tiefe ist wie als Ethiker, kann man hierin vielleicht doch eine Rechtfertigung seiner eigentlich das Generalisierbarkeitspostulat verletzenden Ungleichbehandlung von eigenem und fremdem Glück erblicken. Denn fremdes Glück ist etwas mir gegenüber anderes, das ich daher durchaus intentione recta anstreben kann – so wie ich umgekehrt zwar jemandem Hilfestellungen geben kann bei der Entwicklung seiner Talente, die eigentliche Arbeit an ihnen ihm aber nicht abnehmen kann, ohne diese Talente zu zerstören. Verständlich wird aus dem Gesagten auch für denjenigen, der dem eigenen Glück ein größeres Gewicht einräumt als Kant, warum Kant auf die Arbeit an der eigenen Vollkommenheit abhebt. Aus ihr mag nämlich vielleicht jenes Glück resultieren, das nicht direkt angestrebt werden kann. Kant unterscheidet dabei zwischen der Vervollkommnung des Verstandes und der des Willens. In jener geht es um die Ausdehnung unseres Wissens und die Verbesserung von Irrtümern, um die Kultur unserer Naturanlagen, in dieser darum, unseren Willen dem Pflichtgemäßen anzupassen, also sich dahin zu bringen, aus Pflicht zu handeln. Beide Vermögen sollen ausgebildet, d. h. aus der Tierheit herausgeführt werden. In vielem erinnert das an Aristoteles’ Satz, wahre Selbstliebe bestehe in der Pflege dessen, was der eigentliche Mensch sei, und das sei eben der Geist (Nikomachische Ethik 1168b28 ff.). Neu ist an Kant nicht einfach die Verwandlung der Selbstliebe in Pflicht (und zwar eine Pflicht weiter Verbindlichkeit, weil nicht genau vorgeschrieben ist, wieweit man in der Ausbildung seiner Vermögen gehen soll). Mit seiner Forderung ständiger Arbeit an sich selbst geht Kant weit über die antike Hochschätzung der Kontemplation hinaus und bejaht die innovativen und dynamischen Aspekte der Moderne. Kant bestreitet zwar nicht die Glücksgefühle primitiver Völker, aber er betont mit Nachdruck, es gebe eine – eudämonistisch gerade nicht zu begründende – Pflicht, deren idyllischen Zustand zu verlassen. (Kritik der Urteilskraft B 390 ff.; Anthropologie A 314 ff.).

Der Moderne ist es offenbar gelungen, das verum-factum-Prinzip, das die neuzeitliche Erkenntnistheorie bestimmt (wahr ist das, was wir konstruieren können), auch auf die Ethik auszudehnen. Gut ist danach nicht einfach die vorgängige Ordnung der Welt, und auch nicht unsere bejahende Antwort auf sie – gut ist, wenn nicht gar die von uns hervorzubringende neue soziale Ordnung, zumindest die konkrete Arbeit an unserer bejahenden, oder verneinenden, Antwort auf die Welt. Ohne eine Revolution zumindest der Denkungsart geht es nicht mehr. Was bedeutende Denker von Lionel Trilling bis Charles Taylor die Ethik der Authentizität genannt haben, hat in dieser neuen Anforderung an sich selber seinen letzten Grund. Auch hier sehe ich mich außerstande, eine Glücksbalance aufzustellen. Die tragikomische Selbst-Überforderung so vieler Figuren der Gegen-wart, die wirklich zu meinen scheint, die Welt habe auf ihren ganz persönlichen Ausdruck der albernsten Gemeinplätze in irgendeiner Talkshow gewartet, lässt den Verdacht aufkommen, sie wären in einer vormodernen Welt glücklicher geworden, in denen ihnen ihr Platz ohne die Illusion zugewiesen worden wäre, sie hätten ihn sich selber ausgesucht. Aber es ist ebenso richtig, dass die Transformation der Welt durch die moderne Wissenschaft und Technik, die Überwindung Jahrtausende alter abscheulicher Ungerechtigkeiten nicht ohne das Pathos der Innovation in die Wege gekommen wäre, das in der Pflicht zur Selbstvervollkommnung gründet.

Es geht vom Gedanken dieser Pflicht eine Größe aus, die dort verschwindet, wo sich die Sorge um das eigene Wohl, die ausgiebige Suche nach bisher unbekannten eigenen Präferenzen und deren marktförmige Befriedigung (und Kreierung) durch Glücksshops aller Art als sittliche Endaufgabe der Menschheit durchsetzt. Das Pathos der Selbstvervollkommnung hat eine Würde, die dem brutalen Egoismus abgeht, auch wenn es stets dem Risiko ausgesetzt ist, in Egozentrismus, ja, Narzissmus abzugleiten.

Die Konvergenz von Glück und Pflicht

Auch wenn Ethik sich nicht auf Glücksstreben reduzieren lässt, gibt es ein legitimes Streben nach eigenem Glück. Ich brauche mich keineswegs schlechter zu stellen als andere, teils weil dies meinem anderweitigen moralischen Handeln abträglich wäre, teils aber weil Glück zwar nicht der Güter höchstes ist, aber durchaus ein intrinsisches Gut darstellt, das nicht ohne Not preiszugeben ist, auch nicht in meinem eigenen Fall. Ideal ist, wie schon Schiller erkannt hat, eine Konvergenz von Glück und Pflicht – sofern ich mir dessen bewusst bleibe, dass im Konfliktfall, dessen niemaliges Eintreten zu hoffen statthaft ist, das Glück zu opfern ist. Um diese Harmonie herzustellen, ist folgendes entscheidend. Da Glück ein emotionaler Zustand ist, ist erstens Gefühlsbildung zentral, wenn man glücklich werden will. Doch da wir moralische Menschen werden sollen, geht es darum, die moralisch richtigen Gefühle zur Quelle von Glücksgefühlen zu machen. Kants Ethik ist darin unvollständig, dass sie eine reine Willens- und keine Gefühlsethik ist – nicht zu Unrecht, wenn man an den Geltungsgrund der Moral denkt, den Hutcheson und Hume verfehlen, jedoch insofern fragwürdigerweise, als Gefühle, und nicht nur Willensakte, einen intrinsischen moralischen Wert haben. Zwar hat Kant recht darin, dass sich Gefühle nicht erzwingen lassen. Aber einesteils ist nicht nur Erzwingbares wertvoll, und andernteils lassen sich moralische Gefühle durchaus bilden, u. a. durch den Umgang mit den richtigen Freunden und durch ästhetische Erfahrung.

Da wir eine Pflicht zur Wohltätigkeit haben und diese durch Empathie erleichtert wird, ist etwa deren Ausbildung wünschenswert. Analog sind auch jene Glücksgefühle selbst wertvoll, die auf objektiv Werthaftes reagieren. Wer sich etwa über Schönes in Mathematik, Natur oder Kunst freut, reagiert auf Werthaftes auf angemessene und damit selbst werthafte Weise. Eine derartige Freude basiert auf allgemein-menschlichen Anlagen, aber diese bedürfen der Schulung; und die ständige Schulung unseres Geistes ist in der Tat erforderlich, um auf die Wertfülle des Universums zu reagieren.

Da es zweitens eine Pflicht sich selbst gegenüber gibt, nämlich die der Selbstvervollkommnung, ist es weise, diese Pflicht mit unserem Glücksstreben konvergieren zu lassen, also Glückserfahrungen aus unserer Selbstvervollkommnung hervorgehen zu lassen. Das ist deswegen aussichtsreich, weil das Ausleben der eigenen Talente tatsächlich fast immer lustvoll ist – teils aus dem nicht notwendig moralischen Motiv, dass es einem Überlegenheitsgefühle gegenüber den Mitmenschen verschafft, teils weil es einem eine besonders intensive Nähe zur Wirklichkeit und ihrem Wertreichtum verschafft. Schon das Evangelium (Mt. 25.14 ff., Lk. 19.12 ff.) hat die Arbeit an dem, was einem anvertraut wurde, nicht ins Belieben gestellt, sondern zur Pflicht gemacht; und in der Tat sind die eigenen Talente kein Privateigentum, da sie uns auf rätselhafte Weise gegeben sind; sie schreien gleichsam nach Kultivierung und werfen uns unsere Faulheit vor, wenn wir sie vernachlässigen. Doch ist ihre Ausbildung nicht nur Pflicht; sie lässt sich zugleich unter Selbstliebe subsumieren.

Liebe und Wertwahrnehmung

Denn Liebe ist, wie Scheler zu Recht lehrt, nicht eine Reaktion auf das, was einem Lust bereitet, und auch nicht der Wunsch, dem Geliebten selbst Lust zu bereiten. Liebe hat entscheidend mit Wertwahrnehmung zu tun. Gleichzeitig ist sie nicht einfach Erfassen eines vorgegebenen Wertes; sie ist insofern wertschöpferisch, als der Geliebte durch die Erfahrung des ihm entgegengebrachten Vertrauens und der Anerkenntnis seines Wertes einen Wertzuwachs erfährt. Gewiss gibt es sachlich abwegige „Kristallisationen“; aber es bleibt richtig, dass die meisten Geliebten zwar weniger erreichen, als ihnen unterstellt wurde, aber mehr, als ihnen ohne diese Unterstellung vergönnt gewesen wäre. Eben dieser Wertzuwachs durch Unterstellung einer über das Faktische, das Gegenwärtige wie das Zukünftige, hinausgehenden Möglichkeit gilt auch bei der Pflege der eigenen Talente, und daher lässt sie sich mühelos unter Selbstliebe subsumieren.

Glückt der Prozess der Ausbildung der eigenen moralisch relevanten Talente (wenn auch fast immer in geringerem Maße als erhofft), kann der oder die Betroffene das Gefühl haben, sein eigentliches Telos gefunden zu haben, ja, es sei der objektive Sinn seiner Existenz gewesen, einem besonderen Wert in der Erfahrungswirklichkeit Ausdruck gegeben zu haben – etwa Elzéard Bouffier durch die Wiederaufforstung einer Landschaft in Jean Gionos L’homme qui plantait des arbres. Er wird dann von Berufung reden. Phänomenologisch gehört zur Berufungserfahrung das Gefühl, auf etwas einen selbst Auszeichnendes und zugleich objektiv Gültiges aufmerksam geworden zu sein, dessen Entfaltung nicht mehr im eigenen Ermessen liegt. Darin liegt eine eigentümliche Verschränkung von Autonomie und Heteronomie: Ich habe gleichsam das gefunden, was mein Zentrum bildet, aber ich darf mich der sich nun stellenden Aufgabe auch nicht mehr entziehen.

Das ist sowohl eine Last als auch eine Befreiung von der Qual der Suche, was ich eigentlich aus mir machen soll. Das erlaubt die psychologisch-reduktionistische Erklärung, Berufungserfahrungen seien nichts anderes als Formen, sich dieser Qual zu entledigen. Und sicher gibt es zahllose Beispiele von prätendierten Berufungen, mit denen man anderen und, öfter noch, nur sich selbst imponieren möchte. Wer allerdings daran glaubt, dass Werte nichts rein Subjektives sind und dass ihr Auftreten in der Wirklichkeit ebenfalls nicht reiner Zufall ist, wird den Gedanken an ein Prinzip der Wirklichkeit, das dafür Sorge trägt, dass Werte in ihr erscheinen können, nicht verwerfen und daher die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es wahrhafte Berufungen gibt.

Die Entdeckung der eigenen Berufung ist Glücksquelle und Erfüllung der Pflicht zur eigenen Vervollkommnung. Sie bedarf als solche nicht der Sanktionierung durch andere. Gerade wenn die Berufung eine besonders innovative Leistung betrifft, liegt es in der Natur der Sache, dass ihr, für einen bestimmten Zeitraum, der sich durchaus über die eigene Lebenszeit hinaus erstrecken kann, eine gewisse Selbstmaßstäblichkeit eignet. Vincent van Gogh schreibt seinem Bruder Theo: “Ich habe mich in der letzten Zeit besonders wenig mit Malern unterhalten und habe mich dabei nicht schlecht befunden. Man muss nicht so sehr auf die Sprache der Maler wie auf die Sprache der Natur horchen. … Auf den Verkauf hin zu arbeiten, ist meiner Ansicht nach nicht der richtige Weg.” (Briefe, Berlin 1906, 7f. und 10). In der Tat war van Gogh beim Verkauf seiner Bilder, die die Geschichte der Malerei revolutionierten, alles andere als erfolgreich. Seine Berufung wurde nicht zum Beruf, wenn man darunter eine Weise versteht, für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.

Und doch ist ebenso klar, dass wir nicht nur Pflichten uns selbst gegenüber, sondern auch gegenüber anderen Menschen haben – ihnen nicht zu schaden, in Notlagen zu helfen und an gemeinsamen politischen Institutionen zu arbeiten, die der Rechtsidee stärker entsprechen als die gegenwärtigen, aber eben auch in einen System der Arbeitsteilung ein Äquivalent ihrer eigenen Arbeit für uns zu erbringen. “Es wurde ein bestimmter Stand, die weitere Ausbildung eines bestimmten Talents gewählt, um der Gesellschaft dasjenige, was sie für uns gethan hat, wiedergeben zu können; demnach ist jeder verbunden, seine Bildung auch wirklich anzuwenden zum Vortheil der Gesellschaft. Keiner hat das Recht, bloß für den eigenen Selbstgenuss zu arbeiten...” (J.G. Fichte , Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95, Hamburg 1971, 30). Wie der moderne Begriff des Berufs aus der ursprünglich religiösen Kategorie der Berufung, des Rufes Gottes an ausgewählte einzelne, abgeleitet wurde, ist oft erzählt worden. Luther spielt in dieser Geschichte bekanntlich eine zentrale Rolle – für ihn wird die Berufung Gottes gerade nicht mehr im Mönchtum, sondern im weltlichen Beruf verwirklicht. Hegel folgt Luther, indem er in seinem kantischsten Werk, der Nürnberger Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse, mit der Kategorie des Berufs gerade den Übergang von den Pflichten gegen sich selbst zu den Pflichten gegen andere leistet. Ich schulde es im wesentlichen mir selbst, mich zu einem Beruf auszubilden, auch wenn dies unweigerlich eine Beschränkung bedeutet, weil es Eitelkeit und Eigendünkel bricht und mit dem Allgemeinen, d. h. Göttlichen, in Verbindung bringt. “Wenn der Mensch etwas werden soll, so muss er sich zu beschränken wissen, d.h. seinen Beruf ganz zu seiner Sache machen. Dann ist er keine Schranke für ihn. Er ist alsdann einig mit sich selbst, mit seiner Äußerlichkeit, seiner Sphäre. Er ist ein Allgemeines, Ganzes.” (IV, 263).

Gewiss schildert Hegel eine ideale Möglichkeit, nicht den Normalfall. Die Freiheit der Berufswahl, die Fichte und Hegel gegen die Zunftordnung ihrer Zeit einfordern, ist ein notwendiges, aber leider kein hinreichendes Mittel dafür, in der Beschränkung zugleich ein Ganzes zu bleiben. Goethe nennt in Dichtung und Wahrheit den Pastor Lavater einen der “wenigen glücklichen Menschen, deren äußerer Beruf mit dem innern vollkommen übereinstimmt”. (Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, X 16.) Man spürt, dass er Lavater für einen besonderen Glückspilz hielt. Teil der Entsagung, die in mannigfachen Formen, erotischen wie beruflichen, das Thema von Goethes letztem Roman, Wilhelm Meisters Wanderjahren, bildet, ist der Verzicht auf das Renaissanceideal der vollständigen Ausbildung unserer Natur. “Es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; …” lehrt Jarno/Montan Wilhelm. “Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.” (ebd., VIII 37.) Ein zentraler Schlüssel zum Glück bleibt es freilich, wenigstens eine partielle Übereinstimmung von Beruf und Berufung zu finden. Dem Bedürfnis nach Ganzheit leistet jedoch kein einzelner Beruf Genüge, auch nicht der des modernen Professors. Immerhin mag intelligent betriebenes Philosophieren uns einen Eindruck davon vermitteln, wo innerhalb des Ganzen unsere Berufung und unser Beruf ihren Platz haben. Es wurmt mich nicht, zu bekennen, dass es für mich beglückend war, hier mit Ihnen zu philosophieren.

Von der Redaktion überarbeiteter und leicht gekürzter Text der Rede anlässlich der Verleihung des Meckatzer-Philosophie-Preises 2014 Anfang Mai 2014 in Bad Hindelang.

UNSER AUTOR:

Vittorio Hösle ist Professor für Philosophie an der University of Notre Dame in Indiana.