PhilosophiePhilosophie

EDITIONEN

Averroes

AVERROES

1875 erschien zum ersten und letzten Mal eine deutsche Übersetzung der „Entscheidenden Abhandlung“ von Averroes. Der emeritierte Paderborner Philosophieprofessor Franz Schupp hat den Text nun zusammen mit dem arabischen Originaltext, einer Einleitung und kommentierenden Anmerkung neu übersetzt:

Averroes: Die entscheidende Abhandlung und die Urteilsfällung über das Verhältnis von Gesetz und Philosophie. 338 S., Ln., € 68.—, 2009, Philosophische Bibliothek Band 600, Felix Meiner, Hamburg,

Bei dieser „Entscheidenden Abhandlung“ handelt es sich nicht um einen philosophischen Text im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern um ein Rechtsgutachten eines islamischen Juristen über die Frage der Berechtigung der Ausübung der Philosophie durch einen Muslim vor dem Hintergrund der im Koran niedergeschriebenen Bestimmungen und Vorgaben.

Ibn Rusd, heute unter dem Namen Averroes bekannt, der dieses Gutachten nach westlicher Zeitrechnung um 1179/1180 verfasste, war zu diesem Zeitpunkt Kadi von Sevilla und bekannt als kompetenter AristotelesKommentator. Doch in diesem Text argumentiert er nicht als Philosoph, der sich vor dem Koran zu rechtfertigen sucht, sondern als philosophisch kompetenter Gelehrter des islamischen Rechts.
Die arabischen und islamischen Gelehrten kannten diesen Text seit dem 13. Jahrhundert zwar dem Namen nach, nahmen ihn aber bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht zur Kenntnis. Gegenwärtig wird er von einigen Autoren als „aktuell“ eingesehen, aber in kulturelle und ideologische Kontexte eingebracht, die mit der Entstehungssituation des Textes nur noch wenig zu tun haben.

Die Entscheidende Abhandlung ist in deutlich apologetischer Absicht zur Verteidigung der Beschäftigung mit der Philosophie abgefasst. Als strenggläubiger Muslim fragt sich Averroes, ob die Tätigkeit des Philosophierens für ihn verboten, erlaubt oder sogar geboten war. Den Hintergrund dazu bildet die Ablehnung der Philosophie in den Schriften alGazalis, die für Averroes eine „dramatische“ (Schupp) Herausforderung ganz persönlicher Art darstellen. AlGazali kannte die Philosophie wie kaum ein anderer, und er erfasste, dass in der griechischen Philosophie ein Verständnis von Mensch und Welt zur Sprache kam, das mit dem der islamischen Offenbarung nur schwer oder gar nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Der Gott, der sich im Koran geoffenbart hatte, war ein ganz anderer als der „unbewegte Beweger“ des Aristoteles oder „das Eine“ der Neuplatoniker. Entsprechend war die Welt, die im Koran beschrieben wurde, eine andere als die der Physik des Aristoteles oder die der Emanationen der Neuplatoniker.

Es ergibt sich nun eine etwas paradoxe Situation: Der PhilosophieKritiker alGazali argumentiert streng philosophisch gegen die Philosophen, während der PhilosophieVer¬teidiger Averroes theologischjuristisch argu¬mentiert und nachweisen will, dass die Lehren der Philosophen mit den geoffenbarten Religionen übereinstimmen: Was für alGazali ein „existentielles“ Problem darstellt, wird bei Averroes zu einem hermeneutischen.

Averroes sieht zwei Textgruppen, Koran und Sunna auf der einen, das Corpus Aristotelicum auf der anderen Seite. Es wird nun vorausgesetzt, dass es nur eine Wahrheit geben kann. Also kann es nur darum gehen, die Hermeneutik zu finden, mit der scheinbare – zahlenmäßig auf ein Minimum reduzierte – Widersprüche der beiden Textgruppen beseitigt werden. Diese Hermeneutik wird in der Interpretation gefunden.

Averroes macht schon auf der ersten Seite der Entscheidenden Abhandlung deutlich, dass er eine selbständige, von Glaubensvorgaben unabhängige Philosophie betreibe und zwar nicht, weil dies an und für sich von Interesse wäre, sondern weil sie eine religiöse, vom Gesetz verbindlich auferlegte Verpflichtung darstellt. Philosophische Tätigkeit ist also in seinen Augen eine Form des Gottesdienstes. Sein Rechtsgutachten behandelt also nicht bestimmte philosophische Thesen oder ein philosophisches System, sondern das Philosophieren als eine Handlung oder eine Tätigkeit, die wie jede andere Handlung eines Muslims dem Gesetz unterworfen ist. Erst im zweiten Teil behandelt er bestimmte philosophische Auffassungen wie Zeitlichkeit oder Ewigkeit der Welt, Gottes Erkenntnis der Einzeldinge und die Unsterblichkeit der Seele. Und auch hier geht es nicht um den philosophischen Beweis solcher Thesen, sondern nur um die rechtlich einzig relevante Frage, wie jemand zu beurteilen ist, der bestimmte Auffassungen äußert.

Erwartungsgemäß fällt das Rechtsgutachten des Averroes über die Tätigkeit des Philosophierens positiv aus. Seine zentrale Argumente lauten:
Es gibt einen äußeren Grund dafür: Der Koran fordert zu einer solchen Tätigkeit auf.
Es gibt einen inneren Grund: Es gibt Stellen im Koran, deren Interpretation ausschließlich durch philosophische Tätigkeit geliefert werden kann. Schon der Koran beschränkt allerdings diese Tätigkeit der Interpretation auf eine bestimmte Gruppe von Auserwählten. Somit ist die Rechtfertigung philosophischer Tätigkeit mit einer Begrenzung verbunden.
Averroes argumentiert hier im Sinne der almohadischen Lehre. Darin wurde eine rationale – wenn auch nicht im technischen Sinne philosophische – Gotteserkenntnis für alle Gläubigen gefordert. Es gibt nach der almohadischen Lehre ein allgemein verpflichtendes „rationales Minimum“, ohne das der Glaube der Muslime keinen Bestand hat.

Der jüdische Philosoph Moses ben Maimon (Maimonides) verfolgte genau dieselbe Strategie bei genau denselben theoretischen Fragen wie Averroes. Auch in der jüdischen Kultur bestand eine Spannung zwischen der Tendenz einer wörtlichen und einer philosophisch erforderlichen Auslegung der Heiligen Schriften. Die Übereinstimmung ergibt sich aus der in Bibel und Koran ähnlichen sprachlichen und theologischen Problemstellung und aus der beiden gemeinsamen Tradition der arabischen, von alFarabi geprägten Philosophie.

In der Strategie des Averroes sind jene Stellen interpretationsbedürftig, die nicht oder nicht in ausreichendem Maß mit den philosophischen Auffassungen übereinstimmen. Die „dunklen Stellen“ drängen sich nicht vom Wortlaut des Textes, sondern vom philosophischen Interesse her auf. Deshalb ist es nicht nur nicht erforderlich, sondern sogar schädlich, solche Interpretationen dem Volk darzulegen. Averroes spricht von zwei Methoden, der „Methode der Auserwählten“ und der „Methode der großen Menge“. Diesen Unterschied nicht beachtet zu haben, ist einer der wichtigsten Vorwürfe in der Auseinandersetzung mit alGazali. Dieser habe, so klagt Averroes, seine Interpretationen auch dem einfachen Gläubigen vorgelegt und sie damit unter der „Menge“ verbreitet. Denn für alFarabi finden die theoretischen und praktischen Wahrheiten der Philosophie in der Religion einen poetischen, dem Volk verständlichen Ausdruck, und das, was in der Philosophie mit Beweisen erkannt wird, wird in der Religion ohne Beweise mit Hilfe der Rhetorik und mit geeigneten Bildern, also mit Hilfe der Poetik, vermittelt