PhilosophiePhilosophie

BERICHT

Martin Düchs:
Ästhetik: Architekturphilosophie. Eine Kartierung

aus: Heft 2/2015, S. 26-35



architektur war eine niederung, zu der die philosophie selten herabstieg.

Dieser 1991 geäußerte Satz des Designers Otl Aicher hat noch immer Gültigkeit. Zwar gab es immer wieder einzelne Philosophen wie Hegel oder Schopenhauer, die auch die Architektur würdigten – aber fast immer nur am Rande im Rahmen von Überlegungen zur Ästhetik. Spezialisierte philosophische Untersuchungen zur Philosophie der Architektur fehlten zumindest bis in die jüngste Zeit. Umgekehrt haben aber auch Architekten kaum je versucht, das Wissen der Philosophie systematisch in ihre Arbeit einzubinden. Auf den ersten Blick ist das nicht erstaunlich, unterscheiden sich doch die Disziplinen scheinbar stark voneinander. Bei der Architektur handelt es sich um eine Praxis, wohingegen die Philosophie selbst in ihrer praktischen Ausprägung eine theoretische Wissenschaft bleibt. Das primäre Kommunikationsmittel des Philosophen ist die Sprache, wohingegen der Architekt seine Ideen über Bilder vermittelt. Einige wenige Philosophen erkannten, dass sich eine gegenseitige Verbindung trotz der fundamentalen Unterschiede in Ziel, Sprache und Methode lohnen würde. So konstatierte Ludwig Wittgenstein, der einmal selbst als Architekt tätig war:

Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst. An der eignen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht. (Und was man von ihnen verlangt.)

Die enge Verbindung beider Disziplinen von denen Wittgenstein spricht, sieht auch der eingangs genannte Otl Aicher

architektur und philosophie haben wenig berührungspunkte, meint man. aber das scheint nur so. (1991, S. 82)
Diese Einsicht hat sich in den letzten Jahren zunehmend verbreitet und damit die Versuche, das Gebiet der Architektur philosophisch zu erkunden. Entsprechende Gesellschaften, Konferenzen und Buchreihen wurden gegründet:

● 2009 wurde die „International Society for the Philosophy of Architecture“ ins Leben gerufen, um eine gemeinsame Plattform zu schaffen für „the relatively few philosophers of architecture“ (www.isparchitecture.com).
● Besagte ISPA veranstaltete 2014 an der TU-Delft bereits die zweite größere Konferenz zur Architekturphilosophie (nach 2012 in Newcastle).
● 2012 wurde in Deutschland die „Internationale Gesellschaft für Architektur und Philosophie e.V.“ ins Leben gerufen.
● Das „Netzwerk Architekturwissenschaft“ integriert die Sichtweise der Philosophie, indem es sich zum Ziel gesetzt hat, „die Reflexion über Architektur in den unterschiedlichen Disziplinen sowie deren Forschungspraktiken und -methoden am Gegenstand der Architektur in einen Dialog zu bringen, um einer verbindenden Architekturwissenschaft den Boden zu bereiten.“
● Renommierte Verlage (z. B. Princeton Architectural Press) nehmen zunehmend das Thema Architekturphilosophie auf und publizieren Einzeltitel und Reihen. So veröffentlichte z. B. der Routledge-Verlag seit 2007 bislang 10 Bände in der „Thinkers for architects“-Serie, in denen jeweils das Werk eines bedeutenden Philosophen in Bezug auf Architektur und für Architekten dargestellt wird.

Themen der Architekturphilosophie

Der Kompositcharakter der Architektur


Wesentlich ist der Architektur als Disziplin eine „Kompositstruktur“, d. h. die Tatsache, dass sie aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetzt ist, wobei von einzelnen Architekten und Autoren jeweils andere Elemente in den Vordergrund gestellt werden. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts betonten der Architektur-Moderne zuzurechnende Architekten wie Le Corbusier oder Ludwig Mies van der Rohe im Rahmen ihrer theoretischen Äußerungen eher die technischen und funktionalen Aspekte, wohingegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts postmoderne Architekten wie Robert Venturi den Aspekt der Schönheit und der Symbolhaftigkeit von Architektur hervorhoben. Über das Merkmal des Kompositcharakters hinaus besteht keine Einigkeit über Anzahl und Gewichtung der verschiedenen Elemente der Architektur. Jeder Versuch einer Definition von Architektur, der darin mehr als ein flexibles und offenes System von Antworten auf das basale Bedürfnis des Menschen nach Behausungen, die funktional hilfreich, atmosphärisch wirksam und symbolisch bedeutsam sind, hinausgeht, kommt eine Vorläufigkeit zu.


Im deutschsprachigen Raum wird im universitären Bereich unter Architekturtheorie zumeist Architekturgeschichte verstanden und gelehrt – eine Gleichsetzung, die angesichts der Tatsache, dass die Kunstgeschichte nicht der einzige theoretische Zugang zur Architektur ist, problematisch ist. Architekturtheorie kann daneben auch als theoretische Auseinandersetzung „bauender“ Architekten mit dem eigenen Tun verstanden werden, wobei derlei Überlegungen methodisch nicht selten keinen disziplinären Standards folgen und dazu tendieren, manifestartig und persuasiv für die eigene Art von Architektur zu werben. Angesichts dieser heterogenen Begriffsverwendung wäre es sinnvoll, für die theoretische Auseinandersetzung verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen mit der Architektur den Oberbegriff „Theorie der Architektur“ zu wählen, wobei die „Architekturphilosophie“ ein Teil davon wäre. Umstritten ist, inwiefern eine Architekturphilosophie normativ sein kann. Einige Autoren sehen es allein als Aufgabe der Architekturtheorie konkrete Vorschläge zu machen (Baumberger 2013), andere (Scruton 1979) stehen einem Verständnis von Architekturphilosophie nahe, das den Versuch einschließt, architektonische Qualität bzw. die Prinzipien guter Architektur zu bestimmen.

Architekturphilosophie und die Frage nach dem Schönen

Architekten sehen ihre Aufgabe nicht darin erfüllt, rein funktionale Behausungen zu entwerfen, sie wollen auch gut gestaltete und, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als der Begriff „schön“ in Misskredit geraten ist, auch schöne Häuser bauen. Insofern spielt die Frage nach Schönheit in der täglichen Arbeit eine wichtige Rolle und durch diese Frage ergibt sich wie selbstverständlich eine Berührung zwischen Architektur und Philosophie. Dementsprechend ist die Ästhetik auch diejenige philosophische Subdisziplin, in der die meisten Überlegungen zur Architektur angestellt wurden. Und die Frage nach dem Schönen ist eine der Fragen, denen auch von Seiten der Architekten durch die Geschichte am systematischsten nachgegangen wurde, was die zahlreichen Musterbücher, Säulenordnungen und Maßsysteme zeigen, wenn auch im gegenwärtigen Architekturdiskurs der Begriff der Schönheit zumindest diskreditiert ist.

Architekturphilosophie und die Frage nach dem Guten

Architektur ist öffentlich. Dies ist eine ihrer wesentlichen Eigenschaften. Häuser mögen zwar auf privaten Grundstücken stehen, sie wirken allerdings so gut wie immer auf die eine oder andere Weise in den öffentlichen Raum und auf andere private Grundstücke ein. Das führt dazu, dass stets eine Vielzahl von Akteuren Partikularinteressen an einzelnen Gebäuden haben Dazu kommen übergeordnete Interessen gesellschaftlicher Art. Das hat zur Folge, dass einige der Interessen und Ziele einander widersprechen. Derjenige, der zwischen den verschiedenen Konfliktparteien steht und eine Lösung zu finden hat, ist der Architekt.

Sind die einander widersprechenden Ziele moralischer Art, kommt die Ethik ins Spiel, die auf ihrer normativen Eben Konflikte wenn nicht lösen, so doch strukturiert zu analysieren vermag.

Wenn es in der Architektur im Prinzip betrachtet darum geht, einen gegebenen Zustand zu verbessern, ist, um die Verbesserung zu antizipieren, ein Maßstab erforderlich. Architektur bezieht sich aber nicht auf eine messbare Größe, sondern auf das Leben des Menschen insgesamt, weshalb der Maßstab nur das gute Leben sein kann. Wenn Ethiker das gute Leben theoretisch zu ergründen suchen, wenden Architekten deren Intuitionen und Ideen dazu praktisch an. Dies gilt dabei auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene. Letztere wird dabei zum einen durch die Öffentlichkeit von Architektur beeinflusst und zum anderen kann man das, was der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl dazu schreibt, kaum in Abrede stellen:

Es gibt keine guten lebensfähigen Gemeinschaften ohne gut gestaltete Räume. Menschliche Beziehungen sind erst dann gestaltet, wenn sie in gestalteten Räumen Platz finden. Humane Beziehungen können nicht auf Bäumen und Straßen stattfinden, die benötigen Behausungen. (1997, S. 36)

Architekturphilosophie und die Frage nach dem Menschen

Um zu wissen, welche basalen biologisch-funktionalen Bedürfnisse eine Architektur erfüllen muss, braucht der Architekt eine Vorstellung vom Wesen, für das er baut. Erst recht gilt dies, wenn es darum geht, das gute Leben eines Menschen und/oder einer Gesellschaft zu ermöglichen oder zu befördern. Trotzdem muss man aber konstatieren, dass bei vielen Architekturtheoretikern und -praktikern die Frage nach dem Menschen immer noch eine untergeordnete Rolle spielt oder nur gänzlich intuitiv-implizit behandelt wird.

Aber auch umgekehrt wurde der Tatsache, dass sich der Mensch mit Architektur behausen muss und dies seit Jahrhunderten mit Architektur tut, von Seiten der Philosophie überraschend wenig Aufmerksamkeit zuteil. Selbst von den Klassikern der philosophischen Anthropologie, Gehlen, Scheler oder Plessner, wurde die Bedeutung der Architektur für das Menschsein nicht diskutiert. Erst jüngere Arbeiten (Delitz 2010; Hahn 2008) beginnen die Rolle von Architektur im Lichte der Einsichten der genannten „Klassiker“ zu beleuchten.

Daneben besteht eine Tendenz darin, eine gewisse Einseitigkeit in der Architekturtheorie zu kritisieren. So beklagt Meisenheimer (2004; 1985), Moderne, aber auch Postmoderne und Dekonstruktivismus betonten zu stark die geistige Dimension des Menschen. Im Gegensatz dazu wird dann aber nur die körperliche Seite des Menschen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt und der Schwerpunkt der Untersuchungen auf die Beziehung des menschlichen Körpers zum Raum gelegt. Exemplarisch kann man dies an einem Gespräch zwischen Peter Eisenman und Christopher Alexander (1995) verdeutlichen: Christopher Alexander hält „die ganzen Spielereien der Strukturalisten und die ganze Spielereien der Postmodernen“ (gemeint sind Architekten) für „nichts als Intellektualismen“ und betont, dass „der Kern der Architektur […] wie eh und je mit Gefühlen zu tun hat“ (S. 229). Er sieht die Aufgabe der Architektur in erster Linie darin, durch eine Berücksichtigung der „Gefühlsebene“ Harmonie zu erzeugen. Dem widerspricht Peter Eisenman, indem er feststellt, dass der Zugang zur Architektur nicht über Gefühle, sondern nur über Ideen möglich sei. Zudem sieht er es als Aufgabe der Architektur, zu verunsichern und auf zurütteln. Beide Positionen sind also im Ergebnis absolut konträr, gemeinsam ist ihnen aber, dass nur einzelne Aspekte des Menschen betont werden.

Strömungen

Phänomenologische Architekturphilosophie

Zu den wenigen „Klassikern“ einer Architekturphilosophie avant la lettre gehört Martin Heideggers Vortrag „Bauen, Wohnen, Denken“ von 1951, in dem die Architektur als conditio sine qua non für das Wohnen des Menschen – und das heißt für Heidegger weitreichend für das In-der-Welt-Sein des Menschen-als-Mensch – vorgestellt wird. Dieser Aufsatz stellt den bedeutendsten Ausgangspunkt einer phänomenologischen Zugangsweise in der Philosophie der Architektur dar, wenn auch nicht den einzigen. Die von Heidegger ins Zentrum gestellten Fragen nach dem Wohnen des Menschen und den spezifischen Wohnmöglichkeiten, die unterschiedliche Architekturen bieten, haben einen großen Einfluss auf die (insgesamt trotzdem eher spärlichen) späteren philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Architektur insgesamt. Phänomenologisch orientierte Autoren wenden sich gegen reduktionistische Tendenzen der Architekturmoderne und fordern, dass alle „Dimensionen des Menschen“ in der Architektur zu berücksichtigen seien. Hervorgehoben wird dabei die sinnliche Dimension des Architekturerlebens (Pallasmaa 2007, Böhme 2006), und konstituierend ist das Bemühen um eine „reichere“ und insofern auch angemessenere Konzeption des Menschen als Grundlage der Architektur.

Christian Norberg-Schulz vertrat zunächst einen analytischen Zugang zur Architektur. (1980, orig. 1963), änderte später (1982, orig. 1976) seine Auffassung und sprach sich für eine phänomenologische Herangehensweise aus, wobei er dezidiert auf die Philosophie Heideggers hinwies, die er als „Katalysator“ und bestimmend für seine eigenen Gedanken bezeichnet. Sein Buch „Genius Loci“ sieht er als „ersten Schritt zu einer Phänomenologie der Architektur“, das heißt einer Theorie, welche „die Architektur in konkreten existentiellen Kategorien versteht.“ Er vertritt dabei den Standpunkt, „dass die Architektur ein Mittel darstellt, dem Menschen einen ‘existentiellen Halt’ zu geben.“ Dafür sei die phänomenologische Methode unerlässlich: „Nach Jahrzehnten der abstrakten, „wissenschaftlichen“ Theorie ist die Rückkehr zu einem qualitativen, phänomenologischen Verständnis von Architektur dringend geboten.“ (1982, S. 5) Auf ähnliche Weise versuchen Autoren wie Burkhard Biella (1998), Jeff Malpas (1999), Alain Botton (2007), Eduard Führ (1996-dato; 1998), Achim Hahn (2008), Juhani Pallasmaa (2007, 2007a) oder Fred Rush (2007) den phänomenologischen Ansatz des „Wohnens“ weiter zu entwickeln und an heutige Anforderungen anzupassen. Die dabei verwendeten Begriffe, Konzepte und Schwerpunktsetzungen variieren dabei allerdings zum Teil erheblich. So spricht Karsten Harries (1997) im Kontext der existentiellen Dimension von Architektur von der „ethischen Funktion von Architektur“. Für Pérez-Gómez (2006) muss die Architektur in einem umfassenden Sinn Antworten auf menschliches Begehren geben und sich dabei an der Liebe orientieren, einem Gefühl, das er als ein den Menschen als Menschen konstituierendes versteht.

Poststrukturalistische Architekturphilosophie

Neben der phänomenologischen Herangehensweise haben in jüngerer Zeit Ansätze, die sich mehr oder weniger direkt auf das Erbe vor allem französischer poststrukturalistischer Denker berufen, die philosophische Auseinandersetzung mit der Architektur beeinflusst. Mit Architektur auseinandergesetzt haben sich Jean Baudrillard (1999), Gilles Deleuze (2000) oder Andrew Benjamin (2000). Zudem ist bei einigen der herausragenden französischen Architekten eine gewisse Philosophie-Affinität festzustellen. Man denke etwa an Jean Nouvel, der ausführliche Diskussionen mit Jean Baudrillard geführt und auch veröffentlicht hat (2004). Als Klassiker ist Michel Foucault (1994) anzusehen, der Architektur auf kritische und pessimistische Weise in erster Linie als Macht- und Kontrollinstrument verstand. Ludger Schwarte (2009), der zu den wenigen Autoren zählt, die eine umfassende und anspruchsvolle (Sozial-)Philosophie der Architektur vorgelegt haben, begreift Architektur in Weiterführung und in Abgrenzung von Foucault und auf positive Art und Weise als etwas, das die Möglichkeit des Bestehens und des Gelingens von menschlicher Gesellschaft erst schafft. Daneben finden sich Ansätze, die nominell der Architektursoziologie zuzurechnen sind. Heike Delitz (2010) hat gezeigt, dass sich aus der Philosophie Henri Bergsons gepaart mit Erkenntnissen aus der klassischen philosophischen Anthropologie eine neuartige oder zumindest neu akzentuierte Architektursoziologie (bzw. Sozialphilosophie der Architektur) entwickeln lässt, die dem Anspruch gerecht wird, Architektur nicht nur als Ausdruck oder als Grundlage des Sozialen zu denken, sondern sie als Medium des Sozialen zu konzipieren und so der „faktischen und daher auch zu denkenden Verschränkung von Architektur und Sozialem, ihrer Unzertrennbarkeit“ (S. 217) besser gerecht zu werden. Das bedeutet für Delitz vor allem, dass Architektur auch konstitutiv für die Gesellschaft ist. In Opposition zu der bisher vorherrschenden Auffassung in der Architektursoziologie, wonach Architektur primär als Ausdruck gesellschaftlicher Werte zu verstehen sei stellt sie fest:

Zu denken wäre, dass sich jede Gesellschaft in ihrer Architektur eine expressive, sicht- und greifbare Gestalt schafft, die ihr keineswegs äußerlich oder sekundär ist. In ihrer Architektur „erkennt“ sich eine Gesellschaft vielmehr erst als diese bestimmte Gesellschaft. (S. 13)


Ihre Erkenntnisse gewinnt Delitz nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung mit Autoren der klassischen philosophischen Anthropologie wie Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner. Delitz deutet die Überlegungen dieser Autoren in Bezug auf die Architektur so, dass der Mensch in seiner „exzentrischen Situation“ (Plessner) die Architektur zum einen braucht, weil sie ihm nach innen eine Privatheit bzw. Abgeschlossenheit mit „Spielraum“ schafft und zum anderen, weil sie ihm gewissermaßen nach außen als Projektionsfläche dienen kann. Die „Mängelhaftigkeit“ des Menschen führt dazu, dass dieser Architektur einerseits zum Ausgleich seiner natürlichen Defizite benötigt, andererseits aber auch als „Außenhalt“ (Gehlen) und „Institution“, d. h. also als etwas in seiner äußeren Umwelt, das ihm auch innere Orientierung bietet.

Für poststrukturalistische Architekturphilosophen ist neben der Rolle von Architektur für menschliche Gesellschaft(en) das Verständnis der menschlichen Existenz als einer Daseinsweise „in extremis“ (Peter Eisenman) von besonderem Interesse. Der Architekt und Architekturtheoretiker Peter Eisenman steht paradigmatisch für dieses Thema. Er charakterisiert in seinen frühen Schriften – den Menschen nach dem Ende von Theozentrismus und dem Versagen des Humanismus als ohne jede Gewissheit oder Sicherheit. Diese Situation nennt er „in extremis“. Seine (frühe) Architektur soll nun explizit dazu dienen, dem Menschen dies bewusst zu machen. In den letzten Jahren versuchte Eisenmann die dekonstruktivistische Philosophie für die Architekturtheorie und -praxis fruchtbar zu machen (Eisenman 1995; 2005). Dabei arbeitete er mit Jacques Derrida zusammen an konkreten Projekten (etwa dem Wettbewerb für die Gestaltung des Parc de la Villette in Paris). Eisenman will im Sinne des Dekonstruktivismus Architektur von einem Zentrum „befreien“ und als ein textuelles Phänomen verstehen, das in potentiell unendlich viele verschiedene Verweise „verwoben“ ist, weder Anfang noch Ende hat und entsprechend „gelesen“ werden muss. Vielfach wurden die Versuche Eisenmans, philosophische Theorien in Architektur zu übersetzen, kritisch gesehen. Besonders schroff äußert sich Jouin (2001, S. 106): „All seine Kunst besteht darin, seine Hermetik als Tiefsinn zu verkaufen (ein altes Rezept). Doch sein Obskurantismus ist vor allem Dilettantismus.“ Und auch Derrida selbst wirft Eisenman vor „viele Tricks, Komplikationen und Fallen“ zu übergehen (1995, S. 165), die ein Philosoph gut kennen würde. Daneben wird kritisiert, dass Eisenman die funktionale Seite von Architektur zu gering schätze und die Bedeutung von Architektur für eine Gesellschaft auf eigenwillige (womöglich sogar idiosynkratische) Art und Weise interpretiere, die überdies davon abhänge, dass die kontroversen philosophischen und anthropologischen Voraussetzungen geteilt werden (Derrida 1995; Eisenman und Alexander 1995; Eisenman und Drobnick 1995).

Analytische Architekturphilosophie


Die Autoren, die in der Tradition der analytischen Philosophie zur Architektur arbeiten, sind im deutschen Sprachraum bislang kaum wahrgenommen worden. „Meist ist nicht einmal bekannt, dass es sie gibt.“ (Baumberger 2013, S. 8). Baumberger selbst verortet den Beginn der analytischen Architekturphilosophie auf das Erscheinen des Buches „The Aesthetics of Architecture“ von Roger Scruton (1979), in dem dieser eine Ästhetik der Architektur entwickelt. Allerdings gab es bereits vorher einige Veröffentlichungen in analytischer Tradition, die von Architekten und Architekturhistorikern stammen.

Der erste war der Mathematiker und Architekt Christopher Alexander (1964), der versuchte, große Architekturaufgaben in kleinere Gestaltungsaufgaben bzw. „Muster“ zu zerlegen. Mit der so entwickelten „Muster-Sprache“ sollten nicht nur Architekten, sondern auch Laien in die Lage versetzt werden, komplexe Gestaltungsaufgaben systematisch zu lösen. Die Methode der Entwurfsmuster beruht auf der Annahme, dass es exemplarische architektonische Lösungen zur Befriedigung bestimmter menschlicher Bedürfnisse gibt, die nur je nach Entwurfsaufgabe neu zu kombinieren seien. Das wiederum hieße, dass sich die architektur-relevanten menschlichen Bedürfnisse tatsächlich vollständig erfassen, katalogisieren und hierarchisieren ließen – eine Annahme, die auf jeden Fall dem Selbstverständnis vieler Architekten widerspricht, eventuell aber auch der Natur architektonischer Werke.

Ebenso wie Alexander und zum Teil mit einer noch stärkeren Betonung empirischer und naturwissenschaftlicher Elemente befürworteten andere Autoren vornehmlich in den 60er Jahren eine logisch-analytische oder empirisch-naturwissenschaftliche Architekturtheorie. Zu nennen ist hier der bereits erwähnte Christian Norberg-Schulz. In seinem zum ersten Mal 1963 erschienenen Buch „Intentions in architecture“ (dt.: Logik der Baukunst 1980, S.98) hält er eine „systematische Theorie der Architekturform [für] notwendig, in der sich die neuen Ergebnisse der Psychologie, der Systemtheorie und der Informationstheorie vereinigen.“ In seinem später erschienenen Buch Genius Loci (1982) wendet er sich allerdings der phänomenologischen Herangehensweise im Anschluss an Heidegger zu.

Auch Peter Eisenman hat zunächst die Position vertreten, „dass Erwägungen logischer und objektiver Art als konzeptuelle, formale Grundlage jeglicher Architektur geeignet sind.“ (2005, orig. 1963, S. 69) und später seine Ansichten stark revidiert, indem er sich dem dekonstruktivistischen Ansatz in der Philosophie „angeschlossen“ hat.

Bei der analytischen Architekturphilosophie allerdings handelt es sich nicht um eine kontinuierliche Tradition. Weitere in der analytischen Tradition stehende Beiträge zur Architektur wurden im Bereich der analytischen Ästhetik verfasst. In letzter Zeit (Baumberger 2010; Capdevila-Werning 2014) wird Nelson Goodman verstärkt im Hinblick auf Architektur rezipiert. Goodman hat der Frage, wie Gebäude symbolisch kommunizieren und der Frage, wie der Charakter einer Stadt verstanden, wird Aufsätze gewidmet (1985; 1991) und das in der Architektur gebräuchliche Notationssystem im Rahmen seiner Kunsttheorie behandelt (1997, orig. 1968, S. 204ff.)

Auch zur Architektur-Ethik wurden in jüngerer Zeit Beiträge aus der analytischen Philosophie veröffentlicht. Erstaunlicherweise handelt es sich dabei um ein Gebiet, das bis dato kaum je behandelt wurde und zwar weder von Seiten der Architekturtheorie noch von Seiten der Architekturphilosophie. Eine Ausnahme bestätigt auch diese Regel: Der Architekt Meinhard von Gerkan hat sich bereits 1982 in seinem Buch „Die Verantwortung des Architekten“ mit ebendieser auseinandergesetzt. Zudem gibt es einige Sammelbände (Fox 2000; Ray 2005) in denen diverse normative und eudaimonistische Probleme in der Architektur zunächst einmal identifiziert und in erster Näherung analysiert werden.

Gegenwärtig untersuchen Christian Illies und Nicholas Ray (2014) den engen Zusammenhang von Architektur und Philosophie. Architektur ist für Illies/Ray selbst schon zum Teil philosophisch. Sie konstatieren die Verbindung und gegenseitige Beeinflussung beider Fächer und gehen dabei insbesondere auf ethische, aber auch auf ästhetische, weniger allerdings auf anthropologische Fragen ein, detaillierte normative Schlussfolgerungen ziehen sie jedoch (noch) nicht. Ähnliches gilt für Tom Spector (2001), der sich ausgehend von Bernard Williams in einer differenzierten Untersuchung mit der moralischen bzw. ethischen Dimension des Architektenberufes in ihrer ganzen Komplexität beschäftigt hat, ohne jedoch in einer, z. B. auch für die Praxis relevanten Weise, spezifische normative Aussagen zu treffen.

Konklusion

Obgleich das Interesse an ihr in den letzten Jahren stark zugenommen hat, ist die Architekturphilosophie immer noch ein in der Entstehung befindliches Fach. Dies ist erstaunlich, da beide Disziplinen am „guten Leben“ des Menschen und der Gesellschaft ein Interesse haben und sich für beide ähnlich grundlegende Fragen nach dem Mensch, dem Guten und dem Schönen stellen.

Innerhalb der Architekturphilosophie argumentiert die Mehrheit in phänomenologischer oder postrukturalistischer Tradition, während eher wenige dies in angelsächsisch-analytischer Weise tun. Das große Thema der phänomenologischen Autoren ist dabei das Wohnen (im Sinne Heideggers). Für die poststrukturalistisch beeinflussten Philosophen steht die soziale Funktion und Aufgabe von Architektur, sowie ihre Rolle für den „postmodernen Mensch“, im Mittelpunkt des Interesses. Die in der angelsächsisch-analytischen Tradition stehenden Autoren beschäftigen sich meist aus Sicht der Ästhetik oder der Ethik mit Architektur.

UNSER AUTOR:

Martin Düchs ist promovierter Philosoph und Architekt. Gegenwärtig arbeitet er als Assistent am Institut für klassische Philologie und Philosophie in Bamberg und als selbständiger Architekt. Zum Thema ist vom ihm erschienen: Architektur für ein gutes Leben: Über Verantwortung, Moral und Ethik des Architekten. Münster 2011.

Literatur zum Thema

Einführungen & Anthologien

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Capdevila-Werning, Remei 2014. Goodman for Architects. New York.
Gleiter, Jörg H. 2008. Architekturtheorie heute. Bielefeld.
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phänomenologische Architekturphilosophie

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poststrukturalistische Architekturphilosophie

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logisch-analytische Architekturphilosophie


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Zur Architektur-Ethik

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