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Kant-Studien 2010-

Kant-Studien

2/2010

 

Der Leser von Kants Metaphysik der Sitten stößt bei den Ausführungen über die Pflichten, die der Mensch als ein moralisches Wesen sich selbst gegenüber hat, auf eine bemerkenswerte Formulierung. Es geht darum, den bösen Willen wegzuräumen und den guten zu entwickeln. Dann folgt, in Klammern gesetzt, eine Formulierung, die sich bereits im Duktus vom übrigen Text absetzt: „nur die Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses bahnt den Weg zur Vergötterung“ (MS, AA 06: 441). Jürgen Goldstein, seit kurzem Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau, ist dieser Formulierung nachgegangen. „Höllenfahrt“ steht in der Kant noch unmittelbar geläufigen christlichen Tra­dition für den Mythos vom Abstieg Christi in die Unterwelt in der Zeit zwischen der Kreuzigung und der Auferstehung. Die Sentenz selber ist ein Zitat aus Johann Georg Hamanns Schrift Chimärische Einfälle. Was aber hat Kant bewogen, ausgerechnet Hamann – seinen Königsberger Antipoden – zu zitieren? Hamanns Sprachspiele sind eine Kritik der Rationalität durch Irritation – etwas, womit Kant nichts anfangen kann. Er bittet denn auch Hamann, „wo möglich in der Sprache der Menschen“ zu sprechen.

 Die gewollte Unverständlichkeit als Widerstand gegen die Monokultur der aufgeklärten Vernunft macht die Originalität Hamanns aus, bedingt aber auch die Schwierigkeit, seine Aussagen zusammenhängend interpretieren zu können: Seine Schriften gleichen einer Vielzahl unverbundener kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlen. Hamann verhält sich gegenüber einer Festlegung so abweisend,  dass er von sich selber sagen konnte: „Ich versteh mich selbst nicht mehr“.  Für Goethe und Herder war dieser „wunderliche Mann“  eine hochrangige Quelle der Inspiration.  „Nur muss man“, so Goethe, „durchaus auf das Verzicht thun, was man gewöhnlich Verstehen nennt.“

 Goldstein zeigt, dass Hamanns Sentenz eine Reaktion auf Moses Mendelssohn ist. Dieser hatte Rousseaus 1761 erschienenen Roman  Julie ou La Nouvelle Héloise kritisiert: Rousseau hätte „lieber philosophische Aufsätze als einen Roman“ schreiben sollen. Im französischen Original taumelt der vor Liebe Rasende „de caverne en caverne“, „von Höhle zu Höhle“ – auch wenn das im strikten Wortsinn und angesichts der Szene des Romans keinen Sinn ergibt. Mendelssohn schreibt „Höle“, was der hochgradig assoziativ denkende Hamann durchaus als „Hölle“ verstanden haben kann. Hamann nutzt aber dieses Bild, um in seinem Anspruch über Rousseau hinauszugehen: Während dieser auf   ästhetische Weise die Gefühle der Leser stimuliere, komme es im echten Leben auf ein noch tieferes Gefühl an: „nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung“.

Hamann verteidigt hier rückwirkend seine eigene biographische Wende. Die Höllenfahrt meint sein berufliches Fiasko und die Vergötterung den entscheidenden Eingriff Gottes in sein Leben. Die schmerzhafteste Selbsterkenntnis wurde bei ihm zur existentiellen Wende. Der Abstieg in die eigene Hölle ist die Bedingung des ermöglichten Aufstiegs zu Gott.

 

Aber warum gibt Kant die Formel wortwörtlich wieder? Goldstein: Sie hat ihn beeindruckt. Über alle Unterschiede hinweg sind sich Hamann und Kant in einem Punkt nahe: Es gibt einen natürlichen Hang des Menschen zum Bösen. Da nichts böse sein kann, „als was unsere eigene That ist“, muss der Hang zum Bösen Kant zufolge der Freiheit entspringen, das Böse muss seinen Ursprung in der intakten Vernunft haben. Anstatt die egoistische Selbstliebe zugunsten des Allgemeinen unterzuordnen, stellt der Böse sie innerhalb der Hierarchie der Maximen zuoberst. Damit ist definiert, was der formale Hintergrund einer bösen Handlung ist: Sie ist eine Verkehrung der Maximen. Die Überwindung des Bösen als eine Änderung des Herzens gelingt nur „durch eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung“. Allerdings besteht ein Unterschied in der Art dieser neuer Schöpfung: Für Kant ist sie ein Akt der Selbständigkeit, für Hamann ein widerfahrendes Ereignis.

Weitere Texte:
Vanzo, A.: Kant on the Nominal Definition of Truth; P. Jesus: Le „Je pense“ comme facteur de vérité: adéquation, cohérence et communauté sémantique; S. Naragon: Three Problems in Westphal’s Transcendental Proof of Realism; S. Bacin/D. Schönecker: Zwei Konjekturvorschläge zur Tugendlehre, § 9