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Ethik: Waldenfels responsive Ethik

ETHIK

Waldenfels’ responsive Ethik

Den Blick schärfen für das, was eine Moral zur Moral macht und den Blick für das öffnen, was von ihr in den Schatten gerückt wird, will Bernhard Waldenfels mit seinem Buch

Waldenfels, Bernhard: Schattenrisse der Moral. 354 S., kt., € 13.—, 2006, stw 1813, Suhrkamp, Frankfurt.

Waldenfels will abseits der offiziellen Wegrouten in das „versteckte Land der Moral“ vordringen und den gelebten Eros aus moralistischen bzw. legalistischen Umklammerungen befreien.

Durch die neuzeitliche Zerklüftung und Zersetzung der kosmischen, sozialen und religiösen Ordnungen ist ein Vakuum entstanden, die Gesamtordnung ist verloren gegangen. Geblieben ist der Rückzug auf eine Grundordnung. Was wir neuzeitlich als Moral bezeichnen, gehört zu den Versuchen, das entstandene Ordnungsvakuum zu füllen. Diese Moral, die unbedingte Gebote und Verbote aufstellt, kann das Sollen selbst nicht wieder gebieten, ohne einem unendlichen Regress zu verfallen. An dieser Stelle schlägt das Sollen um in ein Müssen, das als Pathos auf uns zukommt und uns eine Antwort abnötigt.

Wenn wir von Ansprüchen ausgehen, die uns etwas angehen und auf die wir zu antworten haben, so stellen sich zwei Grundfragen: Erstens fragt es sich, wer gegenüber wem worauf Anspruch erhebt. Zweitens ist zu fragen, worin diese Ansprüche gründen, worin die Verbindlichkeit und der Verpflichtungscharakter normativer Anweisungen bestehen. Als Antwort auf die erste Frage genügt der Hinweis, dass moralische Ansprüche faktisch immer schon erhoben werden, wenn wir mittels geltungsrelevanter Äußerungen miteinander kommunizieren, und dass die Erfüllung dieser Ansprüche sich im Konfliktfall argumentativ überprüfen lässt. Unter den Bedingungen unserer hochkomplexen Gesellschaft nimmt diese Kommunikation im Bereich von Recht und Politik institutionelle Formen an, die – wie Habermas versichert – „moralischer Verfahrensrationalität“ unterliegen.

Vorweg stellt sich die Frage, auf welche Weise und nach welchen Kriterien die Zugehörigkeit zu einer Rechts- oder Moralgemeinschaft oder einem herrschenden Demos festgestellt wird. Es gibt immer Grenzfälle, und Schlupfwinkel entstehen überall dort, wo Gesetze wirksam werden. Nur um den Preis eines unendlichen Regresses kann die Anwendung von Regeln letztgültig geregelt werden. Die bloße Berufung auf eine Regelpraxis oder auf die Legitimität eines Verfahrens überantwortet die Beweggründe der Gesetzesbefolgung letzten Endes einer faktischen Kraft des Normativen. Von Kants Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität bliebe dabei nichts übrig als die Universalisierung der Legalität. Waldenfels bringt hier – gegen Habermas – eine eigene Ethik ins Spiel: die Alternative einer responsiven Ethik.

Unter responsiver Ethik versteht Waldenfels eine lebenspraktische Orientierung, deren Leitidee die Responsivität und nicht die Regularität ist. Für ihn bedeuten die Antworten auf das, was uns widerfährt und in Anspruch nimmt, mehr als das Befolgen von Regeln und das Verfolgen von Zielen. In diesem Mehr, das die anderen Zugangsweisen nicht ersetzt, aber ihre Erschließungskraft deutlich überbietet, liegt der springende Punkt.

Wir stoßen überall und immerzu auf situative Ansprüche, die nicht normativ durch Gesetze abgedeckt sind (mich also nötigen), aber auch nicht meiner Willkür anheim fallen (wie das, was ich mir selber zum Zwecke setze). Für die Erfüllung einer Bitte und ähnlicher Aufforderungen gibt es keine Rechts-, wohl aber Beweggründe, die einer bloßen Geltung von Normen abgehen. Solche Beweggründe lassen sich nicht mehr auf eigene Wünsche und Interessen zurückführen. Der Verfechter von allgemeinen Moralgesetzen überlässt dies dem Belieben eines Individuums oder eines Kollektivs und schiebt es in das Vorfeld einer bloßen Sitte ab. Doch wer einer Bitte nicht nachkommt, verstößt nicht bloß gegen den Anstand, er verletzt einen fremden Anspruch. Selbst ein unterlassener Gruß kann Ausdruck einer beleidigenden Missachtung sein, obwohl jeder, der den Gruß einklagen sollte, sich lächerlich machen würde.

Zu unterscheiden ist zwischen einem geregelten Zusammenhang, einer Verknüpfung, bei der die Antwort mehr oder weniger vorgezeichnet oder gegeben ist, und, mit offenem Zusammenhang, einer bloßen Anknüpfung, bei der die Antwort bis zu einem gewissen Grad zu erfinden ist. Ein völlig geregelter und ein völlig ungeregelter Zusammenhang sind nur als Grenzfälle denkbar. Wären die Antworten ganz und gar durch Regeln festgelegt, so wäre die richtige Antwort lediglich zu finden. Die Antworten hätten nichts mehr von einem Antwortgeben, denn keiner kann geben, was schon da ist. Wäre der Spielraum dagegen gänzlich offen, so hätte das Antworten nichts mehr von einem Antwortgeben, da eine Äußerung so gut wäre wie die andere. Wenn der Anspruch, auf den ich antworte, als Anspruchsereignis stets über verfügbare Antworten hinausgeht, so besagt dies, dass Antworten zu erfin