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BERICHT

Jan Baedke:
Wissenschaftsphilosophie: Philosophische Probleme der Epigenetik

aus: Heft 2/2019, S. 22-31


Der Epigenetik-Boom

Im Januar 2010 titelte das Time Magazin „The age of epigenetics has arrived". Und tatsächlich ist die Epigenetik momentan eines der am schnellsten wachsenden Forschungsfelder – nicht nur innerhalb der Biologie, sondern über alle wissenschaftlichen Grenzen hinweg. So hat sich die Anzahl von Aufsätzen mit dem Titel ‚epigenetic(s)' seit dem Jahr 2000 mehr als verzehnfacht (siehe Abbildung), es werden neue Fachzeitschriften gegründet und es gibt mittlerweile ein internationales 'Human Epigenome Project'. Doch was genau ist die Epigentik und was führte zu ihrer aktuellen rasanten Entwicklung?

Als um die Jahrtausendwende die Resultate des ‚Human Genome Projects' veröffentlicht wurden gingen nicht wenige Biologen davon aus, nun das ‚Buch des Lebens' entschlüsselt zu haben. In diesem Buch lesen zu können sollte erlauben, sämtliche genetische Erkrankungen erfolgreich bekämpfen zu können. Diese Vorstellung wurde jedoch bald enttäuscht. Nicht nur ist das menschliche Genom deutlich kleiner als ursprünglich angenommen, auch zeigte sich, dass Menschen auf der Ebene ihrer DNA zu 99,9% übereinstimmen. Auf Grundlage der Gene allein konnte das ‚Buch des Lebens' also nicht gelesen werden. Etwas fehlte.

In der Folge wurde in der Molekularbiologie stärker untersucht, wie (und wann) Gene in komplexen Entwicklungssystemen abgelesen werden. Das heißt, dem intra- und extraorganismischen Kontext von Genen wurde eine wichtigere Rolle bei der Beantwortung der Frage zugesprochen, was einzelne Gene eigentlich bewirken. Der Neurobiologe Michael Meaney beschreibt dies wie folgt: „At no point in life is the operation of the genome independent of the context in which it functions" (1, S. 51-52). Demnach ist die Ausbildung bestimmter Merkmale ein Ergebnis von Interaktionen zwischen Umweltfaktoren, Entwicklungsmechanismen und dem Genom, statt ein allein von Genen bestimmter, unidirektionaler Prozess, wie es etwa das sogenannte ‚Zentrale Dogma' der Molekularbiologie suggeriert. Diese neue Perspektive, in der die kausale Vorherrschaft des Gens durch die Betonung der Umwelt von Genen bei der Realisierung genetischer Information abgelöst wird, wird allgemein als Postgenomik beschrieben (2).

Insbesondere die Epigenetik macht sich diese postgenomische Perspektive zu eigen. Im Anschluss an ältere Studien des britischen Entwicklungsbiologen Conrad Hal Waddington (der den Begriff der Epigenetik in den 1930er und 40er Jahren in einer etwas anderen Weise geprägt hatte (3)) untersucht die moderne Epigenetik solche molekularen Mechanismen (z. B. DNA-Methylierungen), die regulieren, wie Gene in der Individualentwicklung aktiviert werden. Diese epigenetische Aktivierung (oder eben Stummschaltung) von Genen wird von einer Reihe von organismischen Faktoren und Umweltfaktoren, wie Ernährung, Stress oder Umweltgifte, beeinflusst. Zudem erforscht die Epigenetik, wie diese Genregulationsmechanismen Entwicklungsschicksale beeinflussen und so etwa Krebs, (Zell-)Alterung, Fettleibigkeit, Schizophrenie, und Autismus verursachen. Schlussendlich konzentriert sich die Epigenetik darauf, wie epigenetische Regulationsfaktoren über interindividuelle Vererbungspfade, z.B. bei Menschen über die Plazenta der Mutter (4), transgenerationellen Einfluss auf Folgegenerationen ausüben können. Damit wird dem Organismus und seiner Umwelt eine neue besondere Rolle dabei zugesprochen, welche Gene abgelesen und Merkmale (bzw. Krankheiten) ausgebildet und vererbt werden.

(Abbildung in der Printausgabe: Relative Häufigkeit von Aufsätzen deren Titel „epigenetic(s)" beinhaltet im ISI Web of Knowledge, 1950-2015. Ein Index von 1 bedeutet, dass für 100 veröffentlichte Titel, die das Wort „genetic(s)" beinhalten, ein Titel mit dem Word „epigenetic(s)" veröffentlicht wird. Bis zum Jahr 2000 gab es jährlich weniger als 100 Artikel zur Epigenetik, 2015 waren es schon mehr als 2400.)

Insbesondere der letzte Schwerpunkt zu epigenetischer Vererbung stellte sich in den letzten Jahren als besonders wirkungsmächtig heraus (5, 6, 7, 8). Hier wird ein Begriff von Vererbung entwickelt, der nach der eigenständigen (d. h. gen-unabhängigen) Vererbbarkeit von Variationen in Genregulationsmustern fragt. Genregulierende Entwicklungsprozesse werden damit zugleich auch als Vererbungsprozesse konzeptualisiert. Mit anderen Worten, Entwicklung und Vererbung fallen zusammen. Von den Genen unabhängige phänotypische Variationen können damit nicht nur die Individualentwicklung sondern, so die weitere These, auch über andere Vererbungspfade den Gang der Evolution beeinflussen (6).

Diese neue epigenetische Forschungsperspektive wirft eine Reihe von grundlegenden Fragen in den Biowissenschaften auf, etwa nach der Rolle der Entwicklung für die Evolution. Mehr aber noch sieht sich die Epigenetik mit schwierigen wissenschaftstheoretischen Herausforderungen konfrontiert – etwa bezüglich der Frage nach dem neuen kausalen Status von Genen bzw. des organismischen Kontexts oder bzgl. der Einführung neuer wissenschaftlicher Erklärungsstandards in die Biologie. Hinzu kommen neuartige Herausforderungen anthropologischer Art – etwa dazu, welches nicht-genzentrierte Verständnis der biologischen Identität des Menschen diese Forschung anregt – sowie ethischer Natur – etwa dazu, wer die Verantwortung für epigenetische Transmissionsprozesse, z. B. von der Mutter auf das Kind, übernehmen soll. Werfen wir nun einen Blick auf jede einzelne dieser Herausforderungen.

Wissenschaftshistorische und -theoretische Fragen

In ihrer radikalsten Ausprägung plädiert die Epigenetik für (a) eine Relativierung genetischer Kausalität und (b) die Auflösung dualistischer Trennungen, wie der zwischen Entwicklung und Vererbung. Beide Thesen widersprechen damit Positionen, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts als feste Forschungsparadigmen der Biologie ausgebildet haben.

(a) Obgleich die wichtige kausale Rolle nicht-genetischer Faktoren und Umweltfaktoren für die Individualentwicklung schon lange anerkannt ist, gilt dies nicht in gleichem Maße im Kontext von Vererbungs- und Evolutionsprozessen. So etablierte sich seit den 1930er Jahren die Sicht – heute bekannt als die Synthetische Evolutionstheorie bzw. ‚Moderne Synthese' – dass das Gen die zentrale Einheit ist, an der man Vererbung und evolutionären Wandel studieren sollte. Hinzu kam, mit dem Aufstieg der Molekularbiologie, die Möglichkeit, diese kausale Einheit mit zunehmender Präzision auch materiell – nämlich als DNA – zu identifizieren. Seit den 1960ern etablierte sich dann die soziobiologische These, dass Gene (nicht etwa Organismen) die in der Evolution selektierten Einheiten sind (9). Im Gegensatz dazu verteidigt die Epigenetik ein komplexeres Bild der kausalen Beziehung zwischen Gen und Merkmal (also Geno- und Phänotyp) bzw. ein dezentrales Kausalmodell von Vererbungssystemen, nach dem nicht nur Gene, sondern auch epigenetische Regulationsmechanismen unabhängig vererbt und selektiert werden können.

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