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BERICHT

Peter Schulte und Fabian Hundertmark:
Teleosemantik weitergedacht. Über Grundlagen, Probleme, neue Entwicklungen

Aus: Heft 3/2019, S. 18-31

 

Ausgangsproblematik und Grundidee

Nehmen wir an, Sarah sitzt im Garten und sieht einen Igel, der wenige Meter von ihr entfernt über den Rasen läuft. Der Wahrnehmungszustand, den Sarah in diesem Moment ausbildet, beruht auf einem spezifischen Aktivitätsmuster in ihrem visuellen Cortex – einem Zustand, den wir der Einfachheit halber ‚N' nennen werden, und der auch als ‚neuronaler Realisierer' von Sarahs visueller Wahrnehmung beschrieben werden kann.

Zustand N ist zweifellos bemerkenswert. Zunächst gehört er, wie alle anderen neuronalen Zustände, zu einem bestimmten neurophysiologischen Typ, d. h. er weist bestimmte ‚intrinsische' neurophysiologische Eigenschaften auf. Darüber hinaus gilt aber auch: N bezieht sich auf einen Gegenstand in Sarahs Umgebung – den Igel – und repräsentiert ihn als einen Gegenstand mit bestimmten Eigenschaften (einer bestimmten Form, Größe, Farbe, etc.).

Diese Charakterisierung wirft eine grundlegende philosophische Frage auf: Wie kann es sein, dass Sarahs N-Zustand solche Eigenschaften besitzt? Oder, allgemeiner: Wie lassen sich die repräsentationalen (bzw. ‚intentionalen') Eigenschaften neuronaler Zustände erklären – im Fall von Wahrnehmungen wie auch im Fall von Meinungen, Wünschen und Absichten? Einige Theoretiker/-innen glauben, dass wirkliche Erklärungen hier gar nicht möglich sind; sie halten repräsentationale Eigenschaften für ontologisch fundamental. Andere Theoretiker/-innen – zu denen auch die Vertreter/-innen der Teleosemantik zählen – sind weniger pessimistisch. Sie sind der Ansicht, dass sich durchaus Erklärungen (sog. konstitutive Erklärungen) für repräsentationale Eigenschaften formulieren lassen, d. h. dass wir auf die Frage nach den Umständen, die dafür verantwortlich sind, dass bestimmte neuronale Zustände repräsentationale Eigenschaften haben, eine informative, nicht-zirkuläre Antwort geben können.

Diese Antwort liegt jedoch keinesfalls auf der Hand. Betrachten wir zur Illustration einen ersten, naiven Antwortversuch – die einfache kausale Theorie der Repräsentation (EKT). Nach EKT lässt sich der Weltbezug von Repräsentationen leicht erklären: Ein repräsentationaler Zustand bezieht sich auf einen Zustand in der Welt, weil er von diesem verursacht wird. Oder, etwas genauer: Ein interner Zustand vom Typ B – also z. B. ein neuronaler Zustand wie der N-Zustand von Sarah – repräsentiert genau dann, dass ein externer Umstand vom Typ U vorliegt, wenn interne Zustände vom Typ B stets durch externe Umstände vom Typ U verursacht werden. Alternativ können wir sagen, dass ein interner B-Zustand genau dann den Gehalt <U liegt vor> hat, wenn B-Zustände stets von U-Zuständen verursacht werden. EKT besagt also beispielsweise, dass ein Zustand eines bestimmten neurophysiologischen Typs genau dann eine Repräsentation mit dem Gehalt <Da ist ein roter Gegenstand> ist, wenn Zustände dieses Typs stets von roten Gegenständen verursacht werden.

Leider hat die einfache kausale Theorie einen großen Haken: Sie ist offensichtlich unhaltbar. Erstens impliziert EKT, dass Fehlrepräsentationen unmöglich sind. Wenn Zustände eines bestimmten Typs nur dann den Gehalt <Da ist ein roter Gegenstand> haben, wenn sie stets von roten Gegenständen verursacht werden, dann kann ein Zustand mit dem Gehalt <Da ist ein roter Gegenstand> niemals in Abwesenheit eines roten Gegenstandes auftreten. (Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als könne man dieses Problem einfach dadurch lösen, dass man den Ausdruck ‚stets' in EKT durch ‚meistens' ersetzt. Eine solche Modifikation wirft jedoch zahlreiche Fragen auf, die sich – zumindest prima facie – nicht sinnvoll beantworten lassen: Welcher Anteil von B-Zuständen muss von U-Zuständen verursacht werden, damit wir Zuständen dieses Typs den Gehalt <U liegt vor> zuschreiben können? Über 50%, über 60% oder über 90%? Und: Welche Vorkommnisse von B müssen wir bei der Berechnung dieses Anteils berücksichtigen? Alle Vorkommnisse in der Geschichte des Universums, alle Vorkommnisse in den letzten 1000 Jahren auf dem Planeten Erde, oder alle Vorkommnisse im letzten Jahr in Niederbayern?)

Zweitens folgt aus EKT, dass (fast) jeder repräsentationaler Zustand zugleich mehrere, in einer Kausalkette miteinander verbundene Sachverhalte repräsentiert, da es eine offenkundige empirische Tatsache ist, dass (fast) jeder interne Systemzustand am Ende einer langen Kette von Ursachen steht. Ein R-Zustand, dessen (‚distale') Ursache (i) die Präsenz eines roten Gegenstands ist, hat zugleich weitere (‚proximale') Ursachen – und zwar, vereinfacht gesprochen, (ii) die Bewegung roter Lichtwellen in Richtung Auge und (iii) die Reizung von L-Zapfen auf der Retina. Nach EKT müssen R-Zustände mit dem Gehalt <Da ist ein roter Gegenstand> also zugleich die folgenden Gehalte besitzen: <Rote Lichtwellen bewegen sich in Richtung Auge> und <Die L-Zapfen auf der Retina sind gereizt>. Sowohl intuitiv wie auch aus Sicht der Kognitionswissenschaften scheint es jedoch weitaus plausibler, Wahrnehmungszuständen und Alltagsüberzeugungen rein distale Gehalte zuzuschreiben.

Drittens ist EKT eine extrem liberale Theorie der Repräsentation. Solange die Klasse der möglichen Systeme in keiner Weise eingeschränkt wird, verfügen nach EKT nicht nur Pflanzen, Protisten und Bakterien, sondern auch Planeten, Steine und Wasserstoffatome über Repräsentationen. (In einem Wasserstoffatom würde z. B. der Sprung des Elektrons vom 1s- auf das 2s-Orbital repräsentieren, dass ein Photon mit einer bestimmten Energie absorbiert wurde.) Diese Konsequenzen sind aber mit Sicherheit inakzeptabel.

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