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REZENSIONEN

Precht, Richard David: Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

 

Der Pauschalurlaub zur reinen Vernunft. Prechts Bestseller "Wer bin ich und wenn ja wieviele?"

Der Pauschalurlaub zur reinen Vernunft
Manuel Clemens über Richard David Prechts philosophischen Bestseller „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ (397 S., kt., € 14.95, Goldmann, München)


Fast jeder Bildungsroman beginnt mit einer Reise. Der junge Held verlässt seine Heimat und lernt sich durch die Begegnung mit neuen Welten, Milieus und Personen erst richtig und von unterschiedlichen Seiten kennen. Nach dieser langen Reise integriert er sich entweder als vielseitige Persönlichkeit in die bürgerliche Gesellschaft oder bleibt ihr, wie im Antibildungsroman, als Künstler, Außenseiter oder Misanthrop außen vor. Die Erweiterung des Ichs durch das Unterwegssein, hat auch für Richard David Precht ein besonderes Gewicht, verspricht doch sein Bestseller im Untertitel „Eine philosophische Reise“ zu sein. Als wäre der Autor selbst gerade erst aus dem Urlaub zurückgekehrt, berichtet er leicht und humorvoll von der Welt des Denkens und schreibt so fast nebenbei eine systematische Einführung in die Philosophiegeschichte. Der populäre Stil richtet sich natürlich hauptsächlich gegen den akademischen Betrieb, der für Precht nur langweilige Denkbemühungen produziert, nicht aber zu Abenteuern führt.

Bevor man sich diesem Buch kritisch nährt, gilt zunächst einmal das A priori für jeden Bildungsbestseller: Es ist besser, wenn 220’000 Menschen dieses Buch lesen (so hoch ist die bisherige Auflage), als wenn sie dies nicht tun. Irgendetwas sickert immer an den richtigen Ort und bei einer Einführung kommt es nicht auf Vollständigkeit und Detailgenauigkeit, sondern auf die längstmögliche Aufrechterhaltung des Plaudertons an. Einführungen können Verbindungen schaffen, die den grundständigen Werken der jeweiligen Disziplin selbst für das Vorwort zu banal sind, jedoch in Wirklichkeit zeigen, wie sehr der abstrakte Stoff mit alltäglichen Erfahrungen und der nicht-akademischen Welt verknüpft ist. Es gibt ein Wissen, das zwischen den Zeilen der großen Bücher liegt und oft nur in Gesprächen beim Improvisie-ren, im Feuilleton oder eben in unterhaltsamen Abhandlungen zu Tage tritt. Nach der Lektüre des Buches jedoch, sozusagen a posteriori, darf man sich allerdings auch fra-gen, was der Autor hätte besser machen kön-nen, denn end- und wahllose Globetrotter können die stumpfsten und gewöhnlichsten Menschen sein, da häufig, wie Egon Friedell einmal schrieb, „nicht der richtige Reisende die richtige Reise macht“. Prechts Reise ist in diesem Rahmen dann leider eine Mischung aus nicht-richtig-vom-Fleck-kommen und globetrotteln.

Precht kommt einerseits zu keiner wirklichen Reise, da er durch die Lektüre von zu viel Gehirnforschung nie richtig loszieht. Mit seinen guten und lebendigen Beschreibungen der einzelnen Philosophen holt er sie zwar aus der oft schwer verständlichen akademischen Welt heraus, jedoch führt er sie nicht weiter in die Endlosigkeit des Denkens, sondern in die Strenge der Naturwissenschaft. Es führt bei ihm kein Weg von Nietzsches poetischer Welt zum kreativen Chaos, das einen tanzenden Stern hervorbringt, sondern zu Darwin und zur Geschichte der Entwicklung des menschlichen Gehirns und Sartres radikale Freiheit endet in der Unfreiheit, von der die Neurowissenschaft ausgeht. Fast drängt sich einem das Bild auf, dass es jetzt nicht nur die von Precht kritisierten langweiligen Universitätsprofessoren „in braunen oder blauen Busfahreranzügen“ sind, die der Philosophie die Leidenschaft austreiben, sondern auch weiß bekittelte Forscher in sterilen Neubauten, deren Theorien nicht mehr im Leben, sondern im Labor ihre Ausgangspunkte zu haben scheinen. Precht weist zwar immer wieder darauf hin, dass subjektive Erlebniszustände durch das Messen der Gehirnströme nicht erfasst werden können und das uns ein Gehirnforscher nur sagen kann, dass wir etwas wahrnehmen, aber nicht „wie es sich anfühlt“ und „warum es sich so an-fühlt“, jedoch entfaltet er das Reich einer po-etischen oder freiheitlichen Welt nicht. Man gewinnt dadurch wenig Selbsterkenntnis und bleibt bei abstrakten Fragen wie „Was ist Wahrheit?“, „Was sind Gefühle?“ oder „Was ist das Gedächtnis?“ stecken.

Dieses Reisen erinnert an den bizarren Trip; den „Die Gewinner“ eines Preisausschrei-bens in Julio Cortazars gleichnamigen Ro-man unternehmen. Die kleine Gruppe bekommt eine Kreuzfahrt geschenkt und befin-det sich schon bald darauf ganz allein auf einem mysteriösen Schiff fast ohne Besat-zung. Die meisten Kabinen und Gänge sind für sie gesperrt, und man erhält auch keine Auskunft darüber, wohin die Reise eigentlich geht. Da der Gewinn immer weniger von dem hält, was er versprochen hat und sich das Schiff kaum aus dem Hafen entfernt, re-belliert die Gruppe, und am Ende kommt plötzlich ein Polizeihubschrauber und bringt alle ohne Erklärung wieder ans Land zurück. Bei Cortazar ist dies eine Metapher für die Unergründlichkeiten und Enttäuschungen des Lebens; hier kann es auch auf Prechts Einführung übertragen werden. Wir befinden uns mit der Frage „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ in einer rätselhaften Welt, und die versprochene Antwort wird immer wie-der aufgeschoben. Öffnet sich jedoch durch Nietzsche, Freud oder Sartre ein chaotischer Erfahrungsraum für mögliche Antworten, so werden sie von Precht zu kreativen Außen-seitern degradiert, die uns zwar inspirieren können, aber überholt sind, und dann kommt die Autorität der Neurowissenschaft oder Psychologie und bringt uns mit Analysen ü-ber „Die Suche nach chemischen Stoffen, die Emotionen auslösen“ wieder an den Aus-gangspunkt der vorgeblichen Reise zurück.

Außerdem fehlt dem Buch ein Schuss Post-strukturalismus. Precht kommt zu sehr aus der angelsächsischen analytischen Philoso-phie, um Foucault, Derrida oder Judith But-ler zu erwähnen. Gerade mit ihnen hätte sich die vom Autor im Titel verankerte Vielfältigkeit postmoderner Ich-Identitäten ergänzend aufzeigen lassen und über die Analyse verborgener gesellschaftlicher Machtstrukturen oder neuer Interpretationswelten wären noch ganz andere Bereiche der gegenwärtigen Philosophie vorgestellt worden.

Ironischerweise fängt das Globetrotteln dann an, wenn Precht vom Fleck kommt und wun-derbar spielerisch über Philosophie schreibt. Hier wird der kategotische Imperativ sicher-lich zum ersten Mal in der Reimform erklärt: „Da der Mensch in der Lage ist, gut sein zu wollen, soll er auch gut sein sollen“. Über den Einfluss Darwins und Nietzsches auf das Denken des 19. Jahrhunderts heißt es treffend: „Das Interesse an Affen wurde größer als das an Gott“, und das Problem mit der radikalen Freiheit Sartres erklärt er auch hervorragend: „Kein Wunder, dass diese totale Überforderung des Existentialismus aus der Mode kommen musste wie das christliche Modell, alle zu lieben ‚wie sich selbst’ oder die psychischen Überforderungen des Sozia-lismus“. Jedoch führt diese lehrreiche Leichtigkeit aus zwei Gründen wieder nicht weit genug.

Der Ausgangspunkt seines Buchs ist die Kritik an der trockenen und realitätsfernen aka-demischen Philosophie. Diese Kritik ist sicherlich berechtigt, doch wieso schreibt der Autor dann nur eine Einführung und kein anspruchsvolleres Werk im Plauderton, wel-ches dann auch in die akademische Welt hineinwirken könnte? Precht wechselt einfach die Seiten, ohne da zu wirken, wo seine Kritik eigentlich herkommt. Er kritisiert ja in erster Linie die Universitäten und nicht die schlechten Einführungen. Wenn das Akademische zu trocken ist, dann muss man versuchen, das Akademische lebendig zu gestalten und nicht dem Lebendigen etwas vom Akademischen zu geben. Es sind ja immer wieder die gleichen Gedanken, die in Einführungen vorgestellt werden und wenn der Leser dann über einzelne Wissensgebiete mehr erfahren möchte, muss er diese lebendige Welt wieder verlassen und zu trockeneren Lektüren greifen. Ich weiß beispielsweise nicht, wie oft ich den berühmten Satz von Descartes „Ich denke, also bin Ich“ schon auf die leichtmöglichste Art erklärt bekommen habe, aber dieser Gedankengang wird in Einführungen nie in all seinen Einzelheiten weitergeführt. Auch wird er nie mit neuen philo-sophischen Erkenntnissen und leichter Feder auf 500 Seiten in das Verhältnis zur Scholas-tik gestellt, zu Descartes’ Gesamtwerk oder zur wissenschaftlichen Revolution der Frü-hen Neuzeit und ihrer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Geschichte. Damit en-det die Reise schon wieder kurz nach dem sie begonnen hat und wenn man es mit einer an-deren Einführung versucht, wird man wieder auf die gleiche Route derselben Grundge-danken gelangen.

Der zweite Grund ist, dass Besteller-Einführungen etwas suggerieren, was sie nie einlösen können – die Überführung des Den-kens ins Lebbare. Die Botschaft ist dabei immer die gleiche: man muss die Bücher nur so leicht verständlich wie möglich schreiben, und je besser dies gelingt, desto mehr ver-flüssigt sich die Theorie und gelangt ins Le-ben. „Popularisierung“ ist in der Massenkul-tur zu einer Kategorie geworden, die, wie in der höheren Kultur das Aufsprengen der Formen durch die Avantgarde oder dekonstruktive Lesarten in der Postmoderne, alte Theorien durch Kritik zu beleben vorgibt. Prechts Weisheiten sind somit zwar immer kurz und verständlich, aber es ist fraglich, ob sich diese Einfachheit auch so einfach ins Leben übersetzt, da Einsicht noch lange nicht in Handeln übergehen muss. Dies ist natürlich nicht Prechts Schuld, sondern das genuine Problem jeder Theorie, jedoch verschlimmert es sich, wenn Weisheiten aus Gründen der Einfachheit zu Allerweltsweis-heiten werden. Das Buch rutscht zwar nicht in die Banalität ab, jedoch wird den Gedanken die Möglichkeit genommen, sich beim Lesen in den Leser einzuweben, da sie zu schnell wieder aufhören und sie aus der daraus resultierenden Einfachheit jedem schon bekannt sein dürften. Es sind Ratschläge wie „Füllen Sie Ihre Tage mit Leben und nicht Ihr Leben mit Tagen“, die zeigen, wie bekannt viele Empfehlungen sein dürften und von Precht nur in die Philosophiegeschichte eingewebt werden, nicht aber ins Leben. Von der Schwere des Denkens und einer philosophischen Lebensweise scheint er seinen Lesern nicht allzu viel zumuten zu wollen.

Precht beginnt einleitend mit einer weiteren, etwas konstruiert wirkenden, bildungshuma-nistischen Legende vom Griechenland ohne Ende durch die Schilderung seiner ersten philosophischen Lektüre Platons auf der griechischen Insel Naxos kurz nach seinem Abitur. Aufgeregt habe er dort Sokrates’ Verteidigungsrede gelesen und mit einer genauso jungen und philosophisch interessier-ten Zufallsbekanntschaft über ihre beruhigende Wirkung bei der Angst vor dem Tode diskutiert. Als Jugendlicher konnte er dort an „einem legendären Strand mit kilometerlan-gen Stranddünen, in denen nur wenige Touristen sich Bambushütten geflochten hatten“ philosophieren. Heute, so stellt er bedauerlich fest, existiere dort „ein Touristen-Paradies mit Hotels, Zäunen, Sonnenschirmen und gebührenpflichtigen Liegestühlen“. Es scheint aber, als sei das Buch mit genau demselben analytischen Geist geschrieben, der in letzter Konsequenz auch solche kommerziell-kalkulierten Bausünden hervor-bringt. Darüber hinaus wird es vermutlich seine Leser hauptsächlich in dort residieren-den Pauschaltouristen finden, die sich durch einen Reiseführer empfehlen lassen müssen, „Die bezaubernde Abendstimmung“ ihres Küstenstädtchens zu genießen, anstatt dies selbst zu entdecken. Auf dieser Tour zählt nur das Ziel, nicht aber die An- und Abreise. So verschwindet bei Precht der Reiseraum und man erhält ein eng gestaltetes Programm, das nur bis zur „reinen“ Vernunft führt, nicht aber zu belebenden Panoramen.

Das Schlüsselerlebnis des Bildungsromans, sich entweder wieder in die Gesellschaft zu integrieren oder als Außenseiter weiterzumachen, kann hier gar nicht stattfinden, da der Leser nie aus seiner Vertrauten Umgebung rausgerissen wird. Wer mit diesem Buch auf Reisen gehen will, kann sich – á la Hape Kerkeling – mit einem kurzen „Ich bin dann mal weg“ verabschieden, da er sowieso gleich wieder zurück sein wird.