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DDR: Streit um DDR-Philosophie |
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Streit um die DDR-Philosophie Eine Diskussion über die Philosophie-Kultur der DDR
Die wissenschaftliche und pädagogische Qualifikation der DDR-Philosophen sei bei der Evaluierung "nie Thema" gewesen, und verdiente und anerkannte DDR-Philosophieprofessoren hätten dadurch ihre Stellen verloren - behauptet Ulrich Johannes Schneider in der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie". Herr Becker, Sie haben kurz nach dem Anschluß in den neuen Bundesländern gelehrt und kennen die dortigen Verhältnisse. Können Sie das bestätigen? Werner Becker: Eine auf die einzelnen be-zogene Evaluierung hat es bei den Professoren der DDR-Philosophie nach der "Wende" natürlich nicht gegeben, denn das Fach wurde als ganzes in allen Bundesländern "abgewickelt". Die "Abwicklung" der Philosophie als Fach, die von den neuen Ländern und den neuen Universitätsgremien einhellig gewollt war, war richtig, denn die DDR-Philosophie war politische Schulung für die Diktatur und nicht Philosophie nach dem westlichen Verständnis. Im Osten hatten die Philosophen den Auftrag, die ideologischen "Speerspitzen" in der Systemfeindschaft zu sein. Die DDR-Philosophen bekannten sich im Unterschied etwa zu den polnischen fast ausnahmslos dazu. Es ist mehr als ärgerlich, wenn das, was einmal blutiger Ernst war, heute durch den sentimentalen Unernst einer angeblich mißglückten Evaluierung einzelner banalisiert und verharmlost wird. Das ist der Tatbestand, um den es geht. Es ist demgegenüber nebensächlich, ob einzelne vielleicht doch noch hätten übernommen werden können (was an einigen Universitäten ja trotz "Abwicklung" und meist durch die Verwendung westdeutscher "Gründungsbeauftragter" für sie geschehen ist). Mir ist außer Wörterbüchern und Arbeiten zur Lo-gik kein Werk eines DDR-Philosophen be-kannt, für das er außerhalb seines eigenen Lagers "Anerkennung" gefunden hätte. Es konnte auch nichts entstehen, denn die Zen-surbehörde saß in den Philosophen-Köpfen selber. Herr Mittelstraß, Sie kennen den Vorgang dieser Abwicklung. War wirklich alles Schrott, was die DDR-Philosophen publiziert haben oder hat der antimarxistische Besen bei der Evaluierung doch gelegentlich zu kräftig gekehrt? Jürgen Mittelstraß: Wer behauptet, daß alles Schrott war, was aus der Feder von DDR‑Philosophen kam, hält sich entweder selbst für die Inkarnation des absoluten Geistes oder setzt eine ideologische Debatte über gesellschaftlichen Gräbern fort. Richtig ist, was selbst einer der führenden Philosophen und auch im Westen angesehener Wis-senschaftshistoriker, Reinhard Mocek (früher Halle), im Blick auf die Herrschaft der marxistisch-leninistischen Philosophie als Verführung zur kollektiven Intoleranz bezeichnet hat, falsch ist, daß unter dieser Verführung nur philosophische Dummheit oder Stümperei gedieh. Tatsächlich stießen die Evaluierungsgruppen des Wissenschaftsrates auch im Falle der Philosophie, z.B. in den einschlägigen Akademieinstituten, auf manches Anspruchsvolle und Bewahrenswerte. Anderes fiel einer wenig differenzierten Abrechnung im Namen antiideologi- scher Begradigungen zum Opfer (als wäre Ideologieanfälligkeit eine ausschließliche Besonderheit marxistischer oder sozialistischer Gesellschaften). Mocek z.B. wurde al-lein seine Mitgliedschaft in der Sektion marxistisch‑leninistische Philosophie seiner Universität zum Verhängnis. Das gleiche, nämlich Abwicklung, widerfuhr dem von ihm gegründeten wissenschaftshistorischen Zentrum wider alle auch vom Westen geltend gemachte institutionelle Vernunft. Vergessen wir nicht: Mit Feuer und Schwert gingen weniger die westlichen Evaluierer als vielmehr die östlichen Wendehälse durchs Land. Herr Schneider, Ihr Aufsatz in der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" hat für Aufregung gesorgt. Was von der DDR-Philosophie hätte denn übernommen werden sollen? Ulrich Johannes Schneider: Die Frage muß anders gestellt werden: Wie kann ich eine Denkanstrengung unter mir fremden Bedingungen anerkennen und verstehen? Es geht heute nicht um das Übernehmen einzelner Philosopheme aus der DDR, sondern um das Zurücknehmen pauschaler Urteile über eine in ihrer inneren Bewegtheit schwer zu erkennende Philosophie‑Kultur. Ich finde es kurzschlüssig, wenn wir die Abwicklung, wie sie politisch gewollt und durchgeführt worden ist, als einen Sieg der philosophischen Vernunft ansehen. Die Beurteilung der Philosophen aus der DDR nach politischen Kriterien bleibt grob, die Evaluierung ihrer Arbeit nach schriftlichen Zeugnissen bleibt oberflächlich. Der Einsatz kritischen Denkens in der DDR kann so unmöglich gefunden werden. Für eine genauere Vorstellung vom Philosophieren in der DDR brauchen wir allerdings das Gespräch mit den Abgewickelten. Erst das Urteil der Philosophen und Philosophiestudenten aus der DDR könnte es erlauben, die Verhältnisse aus der Mitte des Erlebens heraus zu zeichnen. Obgleich ich nie die DDR‑Philosophie als solche verteidigt habe, mache mich dafür stark, alle philosophisch Tätigen zu einer Reflexion ihres Tuns zu bewegen ‑ übrigens in Ost wie West. Wenn Herr Bekker kaum Werke findet, die wissenschaftlichen Maßstäben genügen, oder wenn Herr Mittelstraß die politischen Bedingungen der Evaluierung bedauert, dann mag das zutreffen. Ein Gesamtbild der Philosophie in der DDR muß weitaus komplexer sein, denn es gilt auch hier, institutionalisiertes Denken als Praxis zu verstehen. Bleiben wir bei der Frage nach der Abwicklung. Sie kritisieren ja in Ihrem Artikel, daß "verdiente und über die Grenzen der DDR hinaus bekannte und anerkannte Philosophieprofessoren" entlassen worden seien (allein für Leipzig zählen Sie drei). Wie hätten Sie denn entschieden: Hätten Sie dann alle Marxisten-Leninisten solange in Amt und Würde gelassen, bis die Philosophie-Kultur der DDR in alle Einzelheiten erforscht wäre? Und was wären dann die Kriterien für eine Abwicklung? Ulrich Johannes Schneider: Ich kritisiere die Abwicklung nicht, ich konstatiere sie. Wenn, wie zwischen 1990 und 1992 im Osten Deutschlands geschehen, wissen-schaftliche Kontakte zwischen "einheimischen" und "neubestellten" Philosophiewissenschaftlern durch administrative Entscheidungen (Kündigungen) behindert oder gar verhindert wurden, dann führte das auch dazu, daß eine Auseinandersetzung darüber, ob, was und wie in der DDR tatsächlich philosophiert wurde, gar nicht erst begann. Von dem, was historisch zu wissen ist, sind bis heute nur wenige Elemente bekannt, die zudem apologetisch oder polemisch benutzt werden. Mir scheint sogar, als ob einige Philosophen aus West und Ost darin einig wären, das Vergessen zu pflegen, statt die Bedingungen ihres Tuns zu explizieren. Ich finde es bezeichnend, daß ich aufgefordert werde, als Universitätsphilosoph die Ministerperspektive einzunehmen. Drückt das nicht in nuce die Annahme einer ganz selbstverständlichen Staatsnähe der deutschen Philosophie aus? Ich frage mich nicht, wen ich wohl gelassen, wen entlassen hätte. Ich bleibe in der Perspektive der Selbstreflexion und frage mich, wie lange wir aus dem Westen noch unsere Urteile über die DDR‑Gesellschaft von der mehr oder (meist) minder guten Kenntnis einer fremden Kultur abhängig machen wollen, und wann wir endlich anfangen, uns über die Bedingungen des Philosophierens (nicht nur in der DDR) mit denen zu unterhalten, die es erlebt und gelebt haben. Herr Becker, Sie und die anderen westdeutschen Philosophieprofessoren hätten nach dem Anschluß wie Kolonisatoren gewirkt und eine Kultur hinweggefegt, ohne sich im geringsten um deren Verständnis zu bemühen - kann man das nicht im Nachhinein, ohne es zu kritisieren, so konstatieren? Werner Becker: Wenn es wäre so, wie Sie es mit Ihrer Frage insinuieren, wäre das Konstatieren durchaus gleichbedeutend mit berechtigter Kritik und berechtigten Vorwürfen. Doch ich vermag die "Kultur" nicht zu erkennen, die "weggefegt" wurde. Wir reden in unserem Gespräch allein über po-litische Bedingungen, Befindlichkeiten und persönliche Schicksale (bei deren Erleichterung ich ‑ nebenbei bemerkt ‑ hie und da mitgeholfen habe). Warum findet eigentlich keine Diskussion über theoretische Arbeiten der DDR‑Philosophie, also über das Inhaltliche, statt? Doch nicht deshalb, weil die West‑Philosophen das unterdrücken. (Ich verweise auf die verdienstvollen Arbeiten von N. Kapferer über die DDR‑Philosophie.) Das, was Mittelstraß über Mocek sagt, kann es ja wohl nicht sein. Man müßte ein paar mehr Namen und repräsentative Arbeiten aufbieten, um eine ganze "Kultur" zu dokumentieren, die man "plattgemacht" hätte. Mit Schneider kann man sicher endlos darüber streiten, was eine "philosophische Vernunft" nach der Wende geboten hätte. Der politischen Vernunft entsprach es jedoch allemal, den Marxismus‑Leninismus "abzuwickeln". Die Vorwürfe der "Kolonisierung" sind genauso wohlfeil ‑ und auch ebenso unspezifisch ‑ wie die Krokodilstränen, die über die "Abwicklung" vergossen werden, weil sich heutzutage ungefähr jeder zweite ehemalige DDR‑Bürger in den neuen Verhältnissen als "kolonisiert" empfindet. Tatsache bleibt, daß damals einige von uns ‑ in der Regel ohne etwas dafür zu bekommen ‑ beim Aufbau normaler Institute für Philosophie an den Universitäten der neuen Bundesländer unter keineswegs immer leichten Bedingungen geholfen haben. Einige haben ihre Aufgabe besser, andere schlechter erfüllt. Das wird als der Grundeindruck von der ganzen Umstellung übrig bleiben, wenn die Nostalgien verschwunden sind, durch die sich viele heute die DDRVergangenheit schönreden, um mit den großen Schwierigkeiten fertig zu werden, die man fraglos in den neuen Verhältnissen hat. Diese Diskussion findet merkwürdigerweise vor allem unter westdeutschen Philosophen statt. Sie, Frau Wahsner, sind Philosophin aus den neuen Bundesländern und gegenwärtig am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte tätig. Wie sehen Sie diese ganze Diskussion? Hat es eine eigentliche DDR-Philosophie gegeben, die es wert wäre, am Leben erhalten zu werden? Renate Wahsner: Daß man das, was abgeschafft wurde, nicht diskutiert, finde ich nicht merkwürdig. Merkwürdig erscheint mir, daß in dem Streit um die in der DDR betriebene Philosophie nicht wissenschaftlich diskutiert, sondern nur ideologisch gewertet wird, der Streit mithin ‑ selbstredend unter einem anderen Vorzeichen ‑ durch das gekennzeichnet ist, was er verurteilt. Eine philosophische Haltung müßte eine andere Aufgabe erkennen, nämlich die, daß eine theoretische Analyse (eine theoretische Analyse und eine wirkliche Analyse) der gesamten in der DDR betriebenen Philosophie notwendig ist ‑ und zwar nicht zwecks ihrer Verdammung, sondern zwecks ihrer Charakterisierung. Da es war, muß man fragen: Was war es? Warum war es so, wie es war? Wie war das Denken der Zweiten Welt? Was ist hierbei spezifisch für das Denken in der DDR? Ich stelle mir das vor nach dem Muster von Hegels Philosophie der Weltgeschichte und seiner Geschichte der Philosophie. Natürlich ist dies keine Arbeit, die auf die Schnelle erledigt werden kann, sondern Jahre und die Untersuchungen nicht nur der west‑ und der ostdeutschen, sondern der internationalen Philosophenschaft braucht. Die ostdeutschen und die westdeutschen Philosopheme sind Gegenstücke der deutschen Geschichte oder gar der internationalen Nachkriegsgeschichte. Notwendig wäre ein bewußtes Austragen dieser Gegenseitigkeit. Die in der DDR entwickelte Philosophie ‑ sie mag einem sympathisch sein oder nicht ‑ ist im philosophischen Denken der deutschen Nachkriegsgeschichte kein Fremdkörper. Sie ist dies so wenig wie das Denken der Zweiten Welt ein Fremdkörper im Denken des 20. Jahrhunderts ist. Es ist ein notwendiges Moment (ob ein schönes oder unschönes, ein konstruktives oder destruktives, ist ja dann noch eine andere Frage). Dieses Moment zu charakterisieren erfordert (als notwendige, gewiß nicht als hinreichende Bedingung) zu erkennen, daß man zu keinem objektiven Urteil kommt, wenn man sich oder das Erkenntnissubjekt mit dem Maßstab identifiziert resp. den Maßstab mit dem Auszumessenden. Nur eine philosophische Diskussion dieser Art wird ergeben, was sich von der nach dem 2. Weltkrieg in deutschen Landen entwickelten Philosophie für die Weltgeschichte erhält. Wissenschaftlich Erhaltenswertes stellt sich nicht durch Begutachtung heraus ‑ weder durch die einer ideologischen Parteikommission noch durch die eines Evaluierungsgremiums oder ausgewählter einzelner Personen. Meinen eigenen Beitrag zu der Diskussion sehe ich darin zu arbeiten. Und wenn diejenigen, die so ganz genau wissen, daß alles in der DDR philosophisch Produzierte wissenschaftlichen Maßstäben nicht gerecht wird, gegen das, was ich (teils allein, teils in Kooperation) zum Beispiel zu Hegels Naturphilosophie, seinem Begriff der Größe, über Voltaires Mechanisierung der Mechanik oder der Bedeutung des Kantschen Apriorismus aus der Sicht der modernen Physik, überhaupt zum epistemologischen Status der Naturwissenschaft geschrieben habe, ihre fachliche Widerlegung vorbringen, werde ich gern mit ihnen streiten und ihre Argumente prüfen. Eine Analyse der in der DDR betriebenen Philosophie können wir hier nicht vornehmen, noch wollen wir den Ideologievorwurf hin- und herschieben. Doch ganz konkret: Gibt es spezifisch ostdeutsche philosophische Konzepte, die es wert wären, weiter verfolgt zu werden? Welche Argumente sprechen dafür? Rolf Löther: Es gab sie am Rande des offiziellen DDR‑Philosophiebetriebes. Die Frage kann aber heute nur sein, ob und wie sie unter heutigen Bedingungen reaktiviert und aktualisiert werden können. Dazu gehört die relativ umfassende, systematische und kontinuierliche Bearbeitung von philosophischen Problemen der Wissenschafts-entwicklung (Wissenschaftsphilosophie) in der Zusammenarbeit mit Fachwissenschaftlern und ihren Institutionen, Gesellschaften und Zeitschriften und in enger Verbindung mit Wissenschafts‑ und Philosophiegeschichte. Es gab nicht nur Philosophie der Physik, sondern auch der Chemie, der Biologie, der Psychologie und der Geowissenschaften sowie der Medizin und der Technikwissenschaften und allgemeine Wissenschaftsphilosophie auf dieser Basis. Mehrere Jahrzehnte fanden regelmäßig Treffen der Beteiligten und Interessierten im Ostseebad Kühlungsborn statt, an denen auch Schriftsteller und Künstler sowie Gäste aus dem Westen teilnahmen. Ein solcher Brückenschlag zwischen den "zwei Kulturen" (C.P. Snow) bedeutet nicht nur eine geistige Bereicherung der Anteilnehmenden, sondern kann auch zur Versachlichung mancher öf-fentlicher Debatte (z.B. über Genetik und Gentechnik) beitragen. Heute wird nur noch wenig an Universitäten und von Abgewikkelten und Ausgegrenzten in der postsozialistischen Subkultur der eingetragenen Vereine und Miniverlage weitergeführt. Es war viel zu spät für einen emanzipierten Neubeginn im Osten, als der letzte Philosophiekongreß der DDR im November 1989 proklamierte: "Nicht länger soll die Philosophie Magd der Politik sein!" Statt dessen kam der flächendeckende "Elitewechsel", der auch der Zusammenarbeit von Philosophen und Naturwissenschaftlern keine Chance mehr ließ. Wer nun noch etwas davon zurückholen und erneuern will, muß sich beeilen. Allerdings mangelt es in der heutigen deutschen Universitätsphilosophie an kompetenten Partnern für den Dialog mit Naturwissenschaftlern, die auch deren Sprache sprechen. Friedrich Tomberg: Von den Philosophen in der DDR ‑ den Marxisten wie den nur marxistisch Drapierten ‑ haben viele sich die Marxsche Denkweise derart angeeignet, daß ihnen die Zuversicht, aus der Betrachtung des Zusammenhangs von historisch- gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein heraus der Wirklichkeit sich erkennend nähern zu können, ganz natürlich wurde. Gleichzeitig haben nicht wenige, vor allem dann auch in den siebziger und achtziger Jahren die Jüngeren, sich in die offiziell verfemte westliche Gegenwartsphilosophie eingearbeitet und deren skeptizistischen Grundzug in sich aufgenommen. Das brachte sie natürlich in einen Gegensatz zur herrschenden Ideologie, der sie sich nach außen hin konform zeigen mußten, unterschied sie andererseits aber von Marxisten im Westen, die sich in eine offene Konfrontation mit der sogen. bürgerlichen Ideologie gedrängt sa-hen, wie auch von Nichtmarxisten, die ihre Marxadaption umgekehrt dem eigenen Denken möglichst anzugleichen und dadurch den Gegensatz einzuebnen suchen. Es könnte sein, daß eine dem Prozeß der werdenden Weltgesellschaft sich stellende Philosophie künftig weder auf den einen noch auf den anderen Denkansatz in seiner vollen Originarität wird verzichten dürfen, weil beide zusammen erst den Geist der Zeit ausmachen, den auf den Begriff zu bringen, nach Hegel der Beruf der Philosophie ist. Und man wird dann vielleicht auch erkennen können, daß in den wirklichen, oft nur apokryphen Akten des Philosophierens in der DDR bereits eine dialektische und also die Widersprüchlichkeit wahrende Einheit der Gegensätze sich anbahnte und in Untersuchungen etwa auf dem Gebiet der Logik und Erkenntnistheorie oder der Analyse der klassischen deutschen Philosophie, zu der eine besondere Affinität bestand, zu beachtenswerten Ergebnissen führte, die neuartige Aspekte aufscheinen ließen. Ihrer wird frei-lich nur ansichtig, wer angesichts des Walls der offiziell nach außen gekehrten Sklavensprache, die entgegen Lenins Erwartung ausgerechnet in den sozialistischen Ländern oft zu sprechen war, dennoch die in sie eingepackte oder außerhalb ihrer sich vollziehende genuine Gedankenbewegung zur Kenntnis zu nehmen vermag, statt auf Vorurteilen so unlernfähig zu beharren, wie seinerzeit die Betonköpfe in der DDR und ihrer Philosophie‑Administration. Dieter Wittich: Die in der BRD und in der DDR jeweils dominierenden philosophischen Richtungen waren paradigmaverschieden. Spätestens seit Kuhns (überzogener) These von der "Inkommensurabilität" konkurrierender Theorien ist bekannt, daß die Kommunikation zwischen ihren jeweiligen Vertretern zumindest auf Schwierigkeiten stößt, auch wenn sich die Politik, was hinsichtlich der Philosophie beileibe nicht der Fall war, hierbei völlig neutral verhalten würde. Hinzu kommt, daß die DDR-Philosophie als marxistisch‑leninistische nur wenige Jahrzehnte existierte und personell, theoretisch und methodisch sozusagen auf der "grünen Wiese" beginnen mußte. Dennoch haben während der Koexistenz von DDR und BRD Untergruppen der jeweiligen Philosophengemeinschaften gegenseitig Be-achtenswertes ausmachen können. In der BRD wurde z.B. an Darlegungen zur Wissenschaft als "allgemeiner Arbeit" konstruktiv angeknüpft oder an solche zum Zusammenspiel von gegenständlicher und sozialer Determination im menschlichen Erkennen. Heute würde ich mir eine solide, sachkundige und natürlich kritische Auseinandersetzung zu den Themenbereichen und Vorgehensweisen wünschen, die in der DDR‑Philosophie besonders gepflegt wurden. Weit verbreiteter als in der heutigen BRD waren meines Erachtens: die systematische Darlegung des eigenen philosophischen Grundkonzepts, von dem aus untersucht, bewertet oder kritisiert wird; mehrjährige Vorlesungen zur Geschichte der europäischen Philosophie und die Diskussion von sich erst dabei ergebenden Fragen (z.B. ob es philosophischen Fortschritt geben kann und worin dieser besteht); die Beachtung der Geschichte des materialistisch‑atheistischen Denkens und der in der Arbeiterbewegung lebendigen philosophischen Ideen; eine enge, kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Philosophen und Wissenschaftlern anderer Fachgebiete; eine umfangreiche populärwissenschaftliche Tä-tigkeit vieler Philosophen usw. Zumindest die dabei gewonnenen Erfahrungen sollten heute beachtet werden. Möglich sein dürfte das aber nur dort, wo davon Abstand genommen wird, die DDR insgesamt und ihre Philosophie insbesondere als einen bloßen Ausdruck von "Totalitarismus" mißzuverstehen. Die totale Abwertung der DDR‑Philosophie fand meines Erachtens erst mit und nach dem Untergang der DDR eine allgemeinere Zustimmung. Sie diente nicht zuletzt als Begleitmusik zur Neubesetzung fast aller ostdeutscher Philosophie‑Lehrstühle durch Westdeutsche, und sei es nur deshalb, empfindsamere Gemüter unter den letzteren von eventuellen Skrupeln abzuhalten. Herr Herzberg, Sie haben in der DDR Philosophie studiert, wurden 1973 wegen eines nichtgenehmigten Diskussionskreises aus der Partei ausgeschlossen, haben mit Rudolf Bahro zusammengearbeitet und reisten nach zwölfjährigem Berufsverbot in den Westen aus. Nach der Wende haben Sie sich kritisch mit der DDR-Philosophie auseinandergesetzt. Sie haben anläßlich der Diskussion in der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" die Hoffnung geäußert, daß sich viele in der DDR aktive Philosophen daran beteiligen. Wir haben diese hier mit Absicht ausführlich zu Wort kommen lassen. Allerdings ergibt sich aus deren Voten kein gemeinsamer Nenner hinsichtlich dessen, was von der DDR-Philosophie Wert gewesen wäre, weitergeführt zu werden. Oder hat Herr Becker Recht, daß die DDR-Philosophie letzlich gar keine Philosophie, sondern lediglich politische Schulung war? Guntolf Herzberg: So knapp der Raum, so wenig Befragte ‑ doch die Spannweite der Antworten ist beinahe repräsentativ, wie der bisherige (jetzt bereits in der Zeitschrift hochschule ost dokumentierte) Streit verläuft. Der eine Pol ist Herr Becker, sein einer Halbsatz ("Die DDR‑Philosophie war politische Schulung für die Diktatur") ist hart und falsch, die andere Hälfte ("und nicht Philosophie nach westlichem Verständnis") nicht weniger hart, aber richtig. Den Gegenpol bilden die mehr oder weniger vorsichtigen Verteidiger, hier im Heft vertreten durch Herrn Mittelstraß ("falsch ist, daß unter dieser Herrschaft nur philosophische Dummheit oder Stümperei gedieh", er fand an den Akademieinstituten "auch manches Anspruchsvolle und Bewahrenswerte"). Doch genau dieses Bewahrenswerte bleibt stets merkwürdig unscharf: man nennt Arbeiten zur Logik (die ja eher neben der Philosophie steht), Editionen oder Interpretationen zur Geschichte der Philosophie ‑ doch der Kern der marxistischen Philosophie, nach ihrem Selbstverständnis der dialektische und historische Materialismus, ist bisher in allen Beiträgen mit Schweigen übergangen worden: man traut sich hier nicht zu urteilen. (Wo nun, unbestritten, nichts übernommen werden kann, ist die marxistische Ethik.) Herr Schneider weicht ebenfalls der Frage aus, was von der DDR-Philosophie hätte übernommen werden sollen, und zieht den Blick des Ethnologen vor: "Wie kann ich eine Denkanstrengung unter mir fremden Bedingungen anerkennen und verstehen?" Er hat in seinen bisherigen Beiträgen viel Unverständiges und Banales gesagt, doch auch einen klugen Satz, der unbedingt hierher gehört: "Philosophie ist nicht dort anzutreffen, wo etwas verkündet wird, sondern dort, wo begründet, kritisiert, problematisiert wird. Das auch rückblickend für die DDR anzuerkennen, ist eine methodologische Forderung" (Die Zeit, 31.1.1997). Facciamo cercare! Doch was sagen die Philosophen mit DDRVergangenheit? Betrachtet man die gesamte Diskussion (und nicht nur dieses Heft), so fällt auf, wie wenige sich daran beteiligen, während die Masse der einst führenden oder der produktiven Philosophen schweigt ‑ und das bestimmt nicht aus Scham oder Stolz. Die hier Antwortenden deuten ein wenig auf das Problem: Spezifisch ostdeutsche philosophische Konzepte gab es nur "am Rande des offiziellen DDR‑Philosophiebetriebes" (Rolf Löther), "neuartige Aspekte" nur als "apokryphe Akte" unter dem "Wall der offiziell nach außen gekehrten Sklavensprache" (Friedrich Tomberg). Ein Philosophie, die es so schwer hat, sich als Denken zu artikulieren, fällt natürlich unter das Verdikt, das Herr Becker ausgesprochen hat. Nur sind Schatzsucher nicht aussichtslos. Mit Recht und Stolz kann Renate Wahsner auf ihre eigenen (und nicht in Sklavensprache verfaßten) Aufsätze hinweisen und eine theoretische Analyse der DDR‑Philosophie auf Hegelschem Niveau fordern. So konzentriert sich das Interesse folgerichtig ‑ nachdem die politische Funktion als Legitimationsideologie wohl unbestritten ist ‑ auf die wissenschaftliche Aufarbeitung und damit auf die Frage nach den Maßstäben. Sollen es die der westlichen Philosophie oder die des westlichen Marxismus sein? Wenig bringt es dagegen, wenn erkennbare wissenschaftliche Resultate fehlen, statt dessen eine mündliche Kultur zu favorisieren ‑ wie es Herr Schneider möchte. Hier muß der Diskurs erst beginnen. Unter undemokratischen und Zensurbedingungen dominierte auch im Denken das Mittelmaß, selbst listige Rezeptionsversuche (etwa statt Marx Habermas oder Foucault) ändern we-nig an diesem Bild, denn überleben werden in der Regel nur eigene Entwürfe ‑ und die waren in der DDR äußerst rar. Und innerhalb der Gesellschaft war der (versuchte) Einfluß der Philosophen auf das geistige Leben eher kontraproduktiv zu nennen. Fazit: Werden in den Beiträgen auch nur vereinzelte Leistungen, Schwachstellen und Probleme genannt (ich kenne da wesentlich mehr) ‑ sie formen bereits das widersprüchliche Bild der DDR‑Philosophie, die sich nach offiziellen Haupt‑ und konzeptionellen Nebentendenzen, nach Qualitäten und politischen Anpassungen differenzieren, doch nicht auf einen einheitlichen Nenner ‑ wie es häufig versucht wird ‑ bringen läßt.
Die Diskussionsteilnehmer:
Werner Becker ist Professor für Philosophie an der Universität Gießen, Jürgen Mittelstraß Professor für Philosophie an der Universität Konstanz und Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie, Ulrich Johannes Schneider Assistent am Institut für Philosophie der Universität Leipzig, Renate Wahsner ist Professorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Rolf Löther, Fried- rich Tomberg und Dieter Wittich sind Professoren im Ruhestand, Guntolf Herzberg war bis zum 31.12.1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität.
Die Beiträge zur Debatte um die deutsch- deutsche Philosophie sind jetzt dokumentiert in der Sonderausgabe "Eine nachholende Debatte. Der innerdeutsche Philosophen- streit" der Zeitschrift "Hochschule Ost" (DM 25.--, StuRA, Universität Leipzig, Postfach 920, D-04009, Leipzig).
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