DISKUSSION
Soll die Hermeneutik operationalisiert werden? | |
Soll die Hermeneutik operationalisiert werden? Mit Ferdinand Fellmann diskutieren Jean Grondin, Axel Bühler und Klaus Mainzer Herr Fellmann behauptet, Gadamers Hermeneutikverständnis sei in der Zeit des Internet überholt. Sehen Sie das auch so? Jean Grondin: Was heißt denn "überholt" in der Philosophie? Es war ja eine der Absichten von Gadamers Hermeneutik, die Grenzen der Anwendbarkeit solcher objektivierenden Kategorien in der Philosophie wie in den Geisteswissenschaften zu markieren. Und was versteht man unter "Gadamers Hermeneutikverständnis"? Herr Fellmann kritisiert daran einen zu sehr an den altphilologischen Wissenschaften orientierten Verstehensbegriff. Dann ist er über den "Stand" der Gadamerschen Hermeneutik, um seine Kategorien zu "benützen", schlecht "informiert". Denn bereits in seiner Selbstkritik von 1985 hat Gadamer darin eine Einseitigkeit seines ursprünglichen Ansatzes erkannt. Gewiss kann sich auch eine Konzeption entwickeln, wenn sie vor neue Herausforderungen gestellt ist. Es kann sehr wohl sein, dass das Internet eine solche darstellt, aber vielleicht lässt man sich auch hier von der modischen Neuheit des Phänomens etwas irreführen. Ich bin darin leider wenig bewandert und kann nur hoffen, von Herrn Fellmann Näheres über den hier er-forderten Paradigmenwechsel zu erfahren. Aber die "Meldungen" oder "Texte" (oder ist hier ein neuer Begriff nötig? ‑ die "Flüsse", sagt dazu Herr Fellmann, so existenzphilosophisch bleibt er doch), die man hier zu Gesicht bekommt, will man doch "verstehen", und das heißt weiterhin: Sinn erfahren, indem man das zu Verstehende selber nachvollziehen kann. Oder soll Internet das Selbstdenken plötzlich passé machen? Ich sehe nicht ein, dass dieses elementare Verstehen durch ein Programmieren ersetzt werden soll. Hier muss ich wieder an meine eigene Inkompetenz erinnern, die vermutlich aber auch die sehr vieler "Textbenützer" sein wird: Ich habe nie einen Text oder einen Code je programmiert, höchstens Sa-chen wie Morse dekodiert, meine aber doch, Texte und Äußerungen ein Stück weit "verstanden" zu haben. Das heißt nicht unbedingt, dass da eine "höhere" Wahrheit großer Meister offenbart wurde, sondern lediglich, daß einem eine Erkenntnis oder Erfahrung zuteil wurde, die sich mit naturwissenschaftlichen Kategorien nicht beschreiben läßt, weil der Erfahrende mit zu dem gehört, was er versteht. In der Anwendung (applicatio) sah daher Gadamer das Charakteristikum eines jeden Verstehens. Möglich, daß die Pragmatik hier adäquatere Begriffe oder Metaphern hat. Heidegger und Gadamer haben sich ja selber auf die Formel "sich auf etwas verstehen" berufen, um das Verstehen als ein "Können" und ein "Fertigwerdenmit" zu umschreiben. Das liegt vermutlich sehr wohl auf der Linie von Herrn Fellmann. Mit einem Unterschied vielleicht. Herr Fellmann meint, daß der Respekt vor dem Text dank Internet verschwindet. Diesen Befund kann ich als Leh-rer vielleicht bestätigen, vermag aber darin überhaupt keinen Gewinn zu erkennen. Also nein, auch wenn ich die Frage schief finde, ich halte das Gadamersche Konzept für nicht so veraltet. Vielleicht ist es sogar im Internetzeitalter dringender denn je. Na-türlich enthält es auch seine zeitbedingte Seiten. Aber solange die menschliche Endlichkeit noch nicht aufgehoben ist, wird das von jedem Ausgangspunkt gelten. Eine der Prämissen von Herrn Fellmanns These ist die historische Bedingtheit von Gadamers Hermeneutik: "Wahrheit und Me-thode" ist in einer bestimmten kulturellen Atmosphäre entstanden, und sein Erfolg ist darauf zurückzuführen, dass es ein bestimmtes Vakuum ausgefüllt hat. Sind Sie mit ihm soweit einig? Jean Grondin: Auch Descartes' Meditationes und die Kritik der reinen Vernunft sind in einer bestimmten kulturellen Atmosphäre entstanden. Es ist nur die Frage, ob man eine Philosophie (oder ihren "Erfolg") restlos darauf "zurückführen" darf. Philosophien sind nicht einfach da, um ein Vakuum auszufüllen. Um die These meines Kollegen Fellmann über die kulturelle Bedingtheit der Gadamerschen Hermeneutik ihrerseits zu re-lativieren, bitte ich doch folgendes zu bedenken: Wie erklärt sich denn, dass Wahrheit und Methode in den USA, Südamerika, Japan, Italien und in Osteuropa so stark rezipiert wird? Nach Nietzsche, Husserl und Heidegger war es das Gediegenste, das von Deutschland kam. Wohl möglich, dass seine Hermeneutik bei allen Einseitigkeiten Weltniveau erlangt hat, weil sie echte philosophische Fragen gestellt hat. Warum verübelt man ihr diesen Erfolg im provinziellen Deutschland? Philosophie darf man nicht aus dem Geiste des Ressentiments betreiben. Herr Grondin ist mit Ihrem Vorgehen, die Gadamersche Hermeneutik als Antwort auf die kulturellen Bedürfnisse der damaligen Zeit zurückzuführen, nicht ganz einverstanden. Sie würden in Ihrem Text die "echten philosophischen Fragen", die Gadamer stellt und die seine bis jetzt andauernde Rezeption erklären, übersehen. Ferdinand Fellmann: "Überholt" heißt in der Philosophie, dass Fragen, auf die Konzepte und Theorien eine Antwort geben, nicht mehr der geistigen Lage entsprechen. Wenn man Fragen ohne Rücksicht auf ihre Aktualität weiterschleppt, erstarrt der philosophische Gedanke. So verhält es sich mit der Hermeneutik. Ich würde niemals bestreiten, dass Hans-Georg Gadamer 1960 "echt philosophische Fragen" aufgeworfen hat. Nur bin ich allerdings der Meinung, dass die Frage der Gadamerschen Hermeneutik - "Wie kann der Mensch in einer Zeit der Relativierung aller Werte aus der Überlieferung sein eigenes Selbstverständnis stabilisieren?" - so zeitbedingt ist, dass man sie heute umformulieren muss. Die Applikation, auf die Herr Grondin so großen Wert legt, bietet hier keinen wirklichen Ausweg. Der Wurm liegt im Kern der Frage, nämlich im herkunftsorientierten Denken der humanistischen Kultur. Bei Husserl hieß das noch "Urstiftung", Heidegger hat daraus "Fundamentalontologie" gemacht, und Gadamer nennt es "Überlieferungsgeschehen". Dem steht die Bedeutungstheorie des Pragmatismus entgegen, demzufolge nicht die Herkunft, sondern die Folgen über den Gehalt eines Ausdrucks entscheiden. Damit wird der hermeneutische Zirkel in einer Weise geöffnet, die über die Anwendung ein für allemal feststehender Bedeutung hinausgeht. Nach dem zukunftsorientierten Muster richtet sich das Selbstverständnis der modernen Subjektivität, die sich im Überlieferungsgeschehen nicht mehr wiedererkennt. Die Differenz zwischen herkunfts- und zu-kunftsorientiertem Denken betrifft nicht nur die Fragen, sondern auch die Mittel ("Methoden" darf man ja nicht sagen), mit denen das Verstehen arbeitet. Gadamer orientiert sich dabei an den Grundbegriffen der klassischen Theorie der Kunst. Von hier bezieht er auch seinen emphatischen Wahrheitsbegriff. Was für den Philologen und Verehrer großer Dichter eine Selbstverständlichkeit ist, stellt für die junge Generation der Bildschirmbenutzer keine lebendige Option mehr dar. Dabei geht es allerdings nicht ums Internet, das wie das Telefon keine besonderen Fähigkeiten erfordert, sondern um die Logik des Programmierens. Programmieren gleicht dem Verstehen darin, dass aus vorliegenden Daten mögliche Fragen konstruiert werden, auf die das intelligente Programm die Antworten liefert. Von seiten der Informatiker gibt es längst Angebote, die Theorie des Verstehens mit der des Programmierens zu verbinden. Auf sei-ten der Hermeneutiker ist dazu wenig Bereitschaft zu erkennen. Das liegt daran, dass es Gadamer darum geht, in vorliegenden Texten einen verborgenen Sinn ausfindig zu machen, während Programmieren darauf aus ist, Denkmöglichkeiten zu erproben, die sich aus der Arbeit am Datenmaterial ergeben. Das dabei für die Informatik leitende algorithmische Denken lenkt die Aufmerksamkeit vom Text weg. Sicherlich ist das für jemanden, der mit gebundenen Klassikerausgaben lebt, eine horrende Vorstellung. Wir werden uns aber an sie gewöhnen müs-sen, damit die Hermeneutik nicht den Anschluss an die Wissensformen der Moderne verpasst. Aus der bis jetzt im Ausland andauernden Rezeption Gadamers auf die Provinzialität Deutschlands zu schließen und gar den Kri-tikern Ressentiment zu unterstellen, geht mir zu weit. Hier liegt ein in der Geistesgeschichte gar nicht so seltener Fall vor, dass die Rezeption eine Theorie dementiert. Denn erstens muss man fragen, welche Kreise es eigentlich sind, die in den genannten Ländern Gadamer so stark rezipieren. Der Begriff "Weltniveau" ruft bei mir unbehagliche Gefühle wach. Und zweitens kommt es darauf an, wie Gadamer rezipiert wird. Hier sind zwei Formen zu unterscheiden: Eine geschlossene Form der Rezeption, die auf eine gewisse kulturelle Verspätung schließen lässt, an der häufig Geister leiden, die sich ganz und gar der Kultur eines fremden Landes verschrieben haben. In die-ser Hinsicht hat die Orientierung an der deutschen Philosophie in manchen Ländern eher geschadet als genützt. Zu hoffen gibt dagegen die offene Form der Rezeption, die im Ausland, weil man dort aus mangelnder Vertrautheit mit den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen eine unbefangene Zugangsweise praktiziert auch anzutreffen ist und so aus einem Autor herausholt, was ge-rade nicht in ihm steckt. Das betrachte ich im Fall von Wahrheit und Methode als eine Chance der Hermeneutik, für die man Gadamer nicht dankbar genug sein kann. Was bedeutet für Sie, Herr Grondin, die Herkunft eines Textes? Warum soll man einem klassischen Text gegenüber mehr Respekt aufbringen als einem Text, der auf dem Bildschirm erscheint? Jean Grondin: Ich würde die Herkunft eines Textes nicht überbewerten. Sie ist nur ein Indiz, das man immer auf verschiedenste Weise (ideologiekritisch, dekonstruktiv usw.) hinterfragen kann und immer schon tut. Aber es ist doch hilfreich zu wissen, dass und warum man etwa einen bestimmten Text seit 2000 Jahren liest, daß in jenem die Grundsteine der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung gelegt wurden, ein anderer die Psychoanalyse begründete. Ich würde sogar meinen, diese Art Information hat vielleicht einen gesteigerten Wert in einem Zeitalter, wo man alles Mögliche auf den Bildschirm bekommt und, wie Herr Fellmann richtig feststellt, schier überfordert ist. Die Frage, warum man einem klassischen Text gegenüber mehr Respekt aufbringen kann als irgendeinem Text auf dem Bildschirm, beantwortet sich meines Erachtens selber. Weil er "klassisch" und damit vielleicht die Auseinandersetzung lohnt, was man gottlob nicht von allem, was auf dem Bildschirm aufblitzt, sagen kann. Herrn Fellmanns Herausforderung rührt genau da-her, wenn ich ihn recht verstehe: es gibt so viel Blödsinn auf dem Netz, dass die junge Generation, die es eigentlich schon immer war, überfordert ist. In dieser Situation ist es doch gut zu erfahren, was sich bewährt hat. Wie der Text vermittelt wird, ob in einer gebundenen Lederausgabe oder auf einer Glotze, ist hier sekundär oder Geschmackssache. Denn es kann sehr wohl sein, ist sogar höchst wahrscheinlich, dass ein bahnbrechender Aufsatz, wie derjenige etwa, den Einstein 1905 publizierte, um sei-ne Relativitätstheorie vorzustellen, künftig auf einem Bildschirm erscheinen wird. Die Frage, vor die uns das Internet stellt, lautet: Wie unterscheidet man etwas von so dauerhaftem Wert? Was heißt "dauerhafter Wert" oder "Weltniveau", wird man vielleicht fragen. Die Antwort lautet hier zweifelsohne: was jeder Physiker kennen muss, der ernst genommen werden will. Ebenso gibt es in der Philosophie solche Werke. Die nennt man klassisch, und jede junge Generation will erfahren, welche es sind. Kommen wir zu Ihrer "Decodierung". Sind Sie, bevor Sie die Regel ausfindig machen, nach der ein Text verarbeitet wird, nicht darauf angewiesen, dessen Sinn zu verstehen, also Hermeneutik im Sinne von Herrn Grondin zu betreiben? Ferdinand Fellmann: Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich Herrn Grondin ausdrücklich darin zustimmen, dass wir auf Klassiker angewiesen sind, um Qualitätskriterien zu haben. Das Problem liegt nur in der Richtung, in die wir Klassiker interpretieren: in die Vergangenheit oder in die Zukunft? In diesem Punkt scheint mir das Medium mehr als eine sachlich unerhebliche Geschmacksache zu sein; es ist eine Weichenstellung. Wer gewillt ist, Texte auf dem Bildschirm zu lesen, kommt kaum auf den Gedanken, sich in die Vergangenheit einzubohren. Er wird vielmehr fortgezogen zu neuen Textbausteinen, aus deren Kombination unerwartete Problemstellungen herausspringen. Das ist für mich der beste Weg, Klassiker am Le-ben zu erhalten. Nun zu der Frage, ob vor der Decodierung nicht das Sinnverstehen liegt, wie es Herr Grondin betreibt. Da ich ihn als "vernünftigen" Interpreten schätze, habe ich damit keine Probleme. Die Frage lautet nur, was man unter Sinnverstehen versteht. Hier sehe ich bei vielen hermeneutischen Philosophen ein traditionalistisch getrübtes Selbstverständnis. Wo sie ein "inneres Wort" zu ver-nehmen glauben, handelt es sich meines Er-achtens um die Anwendung eines impliziten Interpretationsprogramms, das explizit zu machen die Aufgabe der hermeneutischen Theorie bildet. Diese These erfordert freilich eine kurze Bemerkung zum Begriff des Verstehens. Kognitive wie literarische Texte verstehen heißt letztlich, sie bestimmen und einordnen. Etwa nach dem Muster: "Briefroman der Romantik" oder "Gründungsdokument des Pragmatismus". Das funktioniert natürlich nicht nach dem Schema der Einordnung eines einzelnen Exemplars in eine vordefinierte Klasse (wie etwa bei botanischen Be-stimmungen), sondern verläuft als zirkelhafter Prozess einer offenen Definition. Diese Interpretation des hermeneutischen Zirkels klingt zweifellos nüchterner als das Intersubjektivitätsmodell, das heute bevorzugt wird. Ein gefühlsmäßiges Einssein von Liebenden, die sich in die Augen schauen, oder die mystische Begegnung mit dem per-sönlichen Gott entzieht sich weitgehend der Mittelbarkeit, geschweige denn der methodischen Operationalisierung. Gegenüber derartigen Erfahrungen muss sich die philosophische Hermeneutik mit dem bescheiden, was sich auf den Begriff bringen lässt. "Sinn" überschreitet die Referenz und umfasst einen historisch variablen Erfahrungshorizont, dessen Ränder unbestimmt sind. Diesen Tatbestand hat eine angemessene Decodierung zu berücksichtigen, und es gibt keinen Grund, warum das nicht machbar sein sollte. Die konnektionistische Linie innerhalb der KI hat dafür zukunftsweisende Modelle entwickelt. Herr Grondin insistiert in seinen Voten darauf, dass zum hermeneutischen Verstehen "der Erfahrende mit zu dem gehört, was er versteht", das Verstehen also letztlich subjektiv bleibt und sich "mit naturwissenschaftlichen Kategorien nicht beschreiben lässt". Dies ist mit ein Grund, warum die Hermeneutik für viele so attraktiv ist. Geht bei Ihrer Operationalisierung nicht gerade das verloren? Und welche Vorteile werden dafür eingehandelt? Ferdinand Fellmann: Ich kann die Sorge um die Subjektivität verstehen, halte Sie aber in der von Herrn Grondin geäußerten Form für unbegründet. Denn es geht heute nicht mehr um die Unzulänglichkeit der naturwissenschaftlichen Kategorien. Die Opposition von Natur- und Geisteswissen-schaften gehört ins 19. Jahrhundert und soll durch die Operationalisierung der Hermeneutik geradezu überwunden werden. In Verbindung mit Semiotik und Informatik wird Hermeneutik nämlich zu einer Strukturwissenschaft, - eine Entwicklung, die sich übrigens schon bei Dilthey anbahnt. Dessen Erlebnisbegriff hat nichts mehr mit romantischer Innerlichkeit zu tun, sondern basiert auf einer pragmatisch fundierten Strukturpsychologie, die es ihm erlaubt, Erlebnis als Methode des Verstehens zu begreifen. Diesen von der Dilthey-Rezeption Gadamers unterschlagenen Aspekt hat kürzlich Matthias Jung in seinem Buch "Dilthey zur Einführung" (Junius) glänzend herausgearbeitet. Dass die Operationalisierung der Hermeneutik von vielen als Zumutung zurückgewiesen wird, liegt an einem ungeklärten Verständnis von Subjektivität. Natürlich gehört der Erfahrende mit zu dem, was er versteht, aber nicht als Objekt von Stimmungen und Befindlichkeiten, wie man im Anschluss an Heideggers erstes Existenzial meinen könnte, sondern als Subjekt einer Selbstreflexion, die eigenen logischen Regeln unerworfen ist. Die Heidegger-Schüler und allen voran Gadamer haben vergessen, dass Heideggers Lehrer, Edmund Husserl, die "Doppelseitigkeit der Logik" zum Thema gemacht hat. Der objektiven Ausrichtung der Logik auf Wahrheit stellt er die "subjektive Reflexion auf Einsicht" zur Seite. Genau dieses in Formale und transzendentale Logik (1929) entworfene Programm möchte ich mit meiner Operationalisierung erfüllen. Statt etwas zu verlieren, gewinnt die Hermeneutik das, was sie erst zu einer Wissenschaft macht: die Objektivität des Subjektiven, die wir brauchen, um im Verstehen nicht Opfer un-serer schwankenden Gefühle zu werden. Wie soll man sich den Vorgang der Dekodierung praktisch vorstellen? Ferdinand Fellmann: Von "Dekodierung" kann nur im übertragenen Sinn die Rede sein. Gemeint ist die Ausarbeitung von und die Arbeit mit Interpretationsprogrammen. Texte werden bekanntlich immer nach einem bestimmten Gesichtspunkt interpretiert (z. B. soziologisch oder stilistisch). Das erfordert vom Interpreten eine Menge sachlicher und historischer Informationen, die zusammen das ergeben, was die Hermeneutiker "Vorwissen" oder "Vorverständnis" nennen. Ein Interpretationsprogramm enthält derartige Informationen in einer Fülle und einer methodischen Ordnung, die den Bildungshorizont jedes normalen Interpreten übersteigen. Ein Interpretationsprogramm enthält die Informationen aber nicht einfach in enzyklopädischer Ordnung, sondern benutzt sie als Parameter für mögliche Handlungs‑ und Denkmuster, wie sie in erzählenden bzw. kognitiven Texten auftreten. Insofern ist ein Interpretationsprogramm mehr als eine Schreib‑ oder Suchmaschine; es gleicht vielmehr einem Expertensystem, mit dessen Hilfe man beispielsweise in der Medizin von Symptomen auf Krankheiten schließen kann. Dieses Beispiel lässt sich auf die Arbeit am Text übertragen. Bei Texten entsprechen Symptome dem sensus literalis, die Krankheit dem tieferen Sinn, dessen Feststellung Ziel des Verstehens ist. Der tiefere Sinn liegt jenseits der Autorenintention, er wird dadurch aber nicht zur Offenbarung ("inneres Wort"), sondern steht für den Erfahrungshorizont, aus dem heraus der Text entstanden ist. Das Interpretationsprogramm fungiert somit als Subtext, vor dessen Hintergrund der Text seinen hermeneutischen Sinn freigibt. Wie die Arbeit mit einem Interpretationsprogramm konkret aussieht, lässt sich am Umgang mit einem literarischen Text verdeutlichen. Um Goethes Werther geistesgeschichtlich zu interpretieren, brauchen wir ein soziologisch ausgerichtetes Programm "Briefroman des 18. Jahrhunderts", das In-formationen über den soziologischen und psychologischen Wissensstand der GoetheZeit enthält. Dieses Wissen ist nicht identisch mit einer Beschreibung der realen ge-sellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit, sondern repräsentiert den durchschnittlichen Erfahrungshorizont, aus dem heraus seinerzeit emotionale Konflikte lösbar waren. Mit Hilfe eines derartigen Programmms wird es dem Anwender möglich, durch Vergleich mit dem vorliegenden Text die Art von Konfliktlösung zu bewerten, die Goethe durch den Selbstmord seines Helden gewählt hat. Hier wird noch einmal deutlich, dass Interpretationsprogramme den Interpreten nicht ersetzen, sondern den mentalen Prozess unterstützen, der im Interpreten unbewusst und oft unmethodisch abläuft. Die Ausarbeitung und Anwendung von In-terpretationsprogrammen für literarische und kognitive Texte erfordert noch viel konzeptionelle Arbeit, die nur interdisziplinär geleistet werden kann. Von der Semiotik ist hier schon Einiges geleistet worden, und bei den Informatikern besteht große Bereitschaft. Am schwersten tun sich derzeit die Hermeneutiker, die nur schwer über ihren subjektphilosophischen Schatten springen können. Solange man an der Denkform der Offenbarung festhält, kann man sich nur widerwillig mit dem Gedanken anfreunden, dass Verstehen als Prozess des Bestimmens abläuft, der zweistufig aufgebaut ist. Die untere Stufe bildet ein Weltwissen oder ein Erfahrungshorizont, aus dem heraus die höhere Stufe des manifesten Sinns nach dem kognitionswissenschaftlichen Modell der Supervenienz rekonstruiert werden kann. Das ist nicht das Ende des "inneren Wortes", sondern seine Entmythologisierung durch methodische Selbstreflexion. In diesem Prozess, der heute ohne Hilfe der Informatik nicht mehr denkbar ist, kann die Hermeneutik als Schwester der Logik nur gewinnen. Daher mein Appell an die Hermeneutiker aller Länder: Vereinigt Euch mit den Semiotikern und den Informatikern! Nur so können wir dem sich abzeichnenden Elend der Geisteswissenschaften entgegenwirken. Ist dieses Elend der Hermeneutik wirklich so groß, wie Herr Fellmann behauptet? Axel Bühler: Wenn wir unter Hermeneutik eine Methodenlehre oder eine Technologie verstehen, die dem Ziel dienen soll, das Verständnis etwa von sprachlichen Mitteilungen herzustellen, dann kann es bei der Ausarbeitung einer solchen Methodenlehre nur sinnvoll sein, relevante Informationen heranzuziehen, die verschiedene empirische Wissenschaften bereitstellen. Neben Semiotik und Informatik sollten wir aber auch die Psychologie berücksichtigen; und die Psycholinguistik scheint vor allem in Frage zu kommen. Die Hermeneutik sollte also in den einzelnen empirischen Wissenschaften nach Wissen suchen, das für die Erarbeitung von Methoden eingesetzt werden kann, die Interpretation und Verstehen erleichtern. Wenn wir von einer solchen Problemstellung für die Hermeneutik ausgehen, dann ist freilich zu beklagen, dass viele sogenannte "hermeneutischen" Überlegungen zur Bewältigung dieser Probleme wenig oder überhaupt rechts beitragen und gehaltvolles empirisches Wissen in keiner Weise zu berücksichtigen bereit sind. Dies gilt vor allem auch für die "universale" Hermeneutik Gadamers. Mit Herrn Fellmann kann ich deswegen nicht übereinstimmen, wenn er dem Gadamerschen Hermeneutikverständnis zugesteht, für frühere Zeiten angemessene Antworten bereitgestellt zu haben, die heute überholt seien. Diese universale Herme-neutik konnte für die Methodologie des Auslegens niemals etwas erbringen, da sie rein beschreibenden Charakter hat und keine methodologischen Anleitungen gibt. Und was die mit ihr verbundene Daseinsanalyse anlangt, ist diese nie über die Aufstellung einiger bedeutsam klingender Trivialitäten hinausgekommen.
Herr Mainzer, Sie haben sich wie nur wenige Philosophen mit der Informatik beschäftigt. Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten eines Zusammengehens von Informatik und Hermeneutik? Klaus Mainzer: Ich habe mich nicht nur mit Informatik beschäftigt und einschlägige Bücher geschrieben, sondern bin auch an meiner Universität Direktor eines interdisziplinären Instituts für angewandte Informatik, in dem sich Informatiker, Mathematiker, Natur‑, Wirtschafts‑ und Geisteswissenschaftler mit fachübergreifenden Anwendungen computergestützter Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) beschäftigen. IuK liefert ja heute ein Schlüssel‑ und Querschnitts‑Knowhow, das alle Segmente der Gesellschaft beim Umbruch von der In-dustrie‑ zur Informations‑ und Wissensgesellschaft erfasst. Aus der Sicht des Geisteswissenschaftlers ist IuK die Kulturtechnik, mit der wir in weltweiten Netzen kommunizieren, Texte speichern und erschließen. Obwohl diese Tätigkeiten auf den Grundlagen der Informatik aufbauen, muss der kompetente IuK‑Nutzer ebensowenig Informatiker sein wie der Benutzer von Haushaltsgeräten die Maxwellschen Gesetze der Elektrodynamik oder der Benutzer eines Fahrrads Newtons Gesetze der Mechanik beherrschen muss. Geisteswissenschaften werden durch IuK‑Nutzung ebensowenig auf Informatik reduziert wie Wirtschaftswissenschaften durch E‑Commerce. Allerdings verändern sich diese Disziplinen durch die neue Kulturtechnik noch grundlegender als seinerzeit durch Gutenbergs Buchdruck. Fächer, die hier nicht mithalten, fallen buchstäblich durch das Netz. Hier ist Herrn Fellmann vorbehaltlos zuzustimmen. Damit werden natürlich weder der mündliche Dialog noch das klassische Buch vollständig ersetzt, sondern in ihrer Eigenart durchaus gestärkt. Allerdings wird die Masse der weltweiten Informations‑ und Wissensverarbeitung zunehmend in computergestützten IuK‑Netzen ablaufen. Um ihre Einsatzmöglichkeiten für die Geisteswissenschaften abschätzen zu können, müssen wir ihre Grundlage und Methode genau kennen. Herr Fellmann hebt auf die älteren Expertensysteme ab, in denen das Wissen über einen Interpretationstext als KI-Programm repräsentiert werden könnte. Tatsächlich macht das Abspeichern des von Hermeneutikern betonten angeblich "unbegrenzten" Hintergrund‑ und Weltwissens keine Probleme mehr. Auch das Weltwissen eines Hans-Georg Gadamer lässt sich im Prinzip mit allen sprachlichen Raffinessen auf einer kleinen CD‑Scheibe festhalten. Bei Expertensystemen würden Interpretation und Ver-stehen auf Abgleichungen von Textmustern nach vorgegebenen Regeln einer KI‑Sprache (z.B. LISP) reduziert. Damit sind durchaus Standardinterpretationen denkbar. Lernen können solche Systeme allerdings nicht. Hier müssten die von Herrn Fellmann kurz erwähnten konnektionistischen Systeme wie z.B. neuronale Netze ansetzen. Sie lernen sprachliche Muster an Textbeispielen zu erkennen, ohne dass allgemeine Interpretationsregeln programmiert werden müssten. In der neuen Informatikrichtung "Affective Computing" werden konnektionistische Mo-delle zudem benutzt, um die emotionale Dynamik des Gehirns zu erfassen. Denkbar wären also Hybridsysteme, die neben Interpretationswissen auch die für Menschen ty-pischen emotionalen Bewertungen von Situationen berücksichtigen. Unser Wissen und Können wird aber nicht in der Datenbank eines einzigen Supercomputers gespeichert, sondern in weltweiten Computernetzen verteilt sein. Die Entwicklung geht also von der KI zur (im Netz) verteilten KI ("Distributed Artificial Intelligence"). Ein Text kann bereits heute auf HTML ("Hypertext Markup Language") -Basis mit beliebig vielen im Netz verteilten Interpretationsverweisen ("Links") verbunden werden. Der so entstehende Hypertext repräsentiert daher kollektives "Weltwissen" und ist offen für Interpretationserweiterungen durch jeden Nutzer. Auf der Grundlage von VRML ("Virtual Reality Modelling Language") können Hypertexte durch Ton‑, Bild‑ und Filmdokumente (Multimedia) bis zu den Erlebniswelten virtueller Realität erweitert werden. So wie beim E‑Commerce virtuelle Verkaufs‑ und Sicherheitsagenten in unserem Auftrag im Netz agieren, könnten wir "Interpretationsagenten" losschicken, die passende Informationen und Verweise suchen. Im Unterschied zu konventionellen Suchmaschinen agieren sie weitgehend autonom nach den Präferenzen ihrer Nutzer und können mit lernfähigen neuronalen Netzen ausgerüstet werden. Virtuelle Agenten kommunizieren übrigens, wie ich in meinem Buch Computernetze und virtuelle Realität zeige, in der Sprache KQML ("Knowledge Query Markup Language"), die der Sprechakttheorie von Austin, Searle u.a. nachgebildet ist. Man sieht an diesem Beispiel wieder, dass KI (und auch verteilte KI) im Kern Philosophie ist. Leider haben viele Philosophen noch nicht verstanden, dass beim Umbruch in die Wissensgesellschaft ihre ureigenste Domaine betroffen ist und sie an der Spitze des Fortschritts marschieren könnten. Lieber igeln sie sich in ideengeschichtlichen Museen ein.
DIE DISKUSSIONSTEILNEHMER:
Ferdinand Fellmann ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, Jean Grondin Professor für Philosophie an der Universität Montréal, Axel Bühler Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf und Klaus Mainzer Professor für Philosophie an der Universität Augsburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für interdisziplinäre Informatik.
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