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DISKUSSION

Ethik: Ist es aus konsequentialistischer Sicht wün­schenswert, daß die Gesellschaft aus Kon­se­quentialisten besteht?

 

Ein Gespräch zwischen Dieter Birnbacher

und Julian Nida-Rümelin

 

Herr Nida-Rümelin kritisiert die konse­quen­tialistische Variante des Utilitarismus, sie führe u.a. zu letztlich nicht wünschens­wer­ten Strukturen individuellen und gesell­schaftli­chen Verhaltens. Wird hier, wie sich Herr Kersting ausdrückt, der Konse­quen­tialismus "mit seinen eigenen Waffen ge­schlagen"?

 Birnbacher: Zunächst ist zu fragen, wo­nach die "Unerwünschtheit" der Folgen einer Be­folgung utilita­ristischer Prin­zipien bemessen wird, - nach einem dem Utilitarismus imma­nenten oder nach einem transzendenten Maßstab. Selbst­verständlich kann nur dann davon die Rede sein, daß der Handlungsuti­litaris­mus sich selbst widerlegt, wenn die Be­folgung des Prin­zips der gesellschaftli­chen Nutzenmaximierung zu Konsequen­zen führt, die auf der Grund­lage der utilitaristi­schen Axiologie selbst unakzep­tabel sind. Ich betone das deshalb, weil ich den Ein­druck habe, daß keineswegs alle von Herrn Nida-Rümelin dem Utili­tari­sten unterstellten Konsequenzen auch aus utilitaristischer Sicht unerwünscht sind (z.B. nicht die Hal­tung, unter Bedin­gungen, die keine andere Wahl lassen, das kleine­re von zwei Übeln zu wählen.)

 Ich greife drei der dem Utilitaristen zuge­schriebenen Konsequenzen heraus, die auch für Utilitaristen eindeutig untragbar sind: die Unterminierung der morali­schen Institu­tionen des Versprechenhal­tens und der Wahrhaftigkeit und die Nichtrespektierung persönlicher Frei­heitsspielräume. Wenn es diese morali­schen Institutionen nicht bereits gäbe (das Verspre­chenhalten soll nur auf den Tonga-Inseln in Polynesien unbekannt sein), müßte sie der Utilitarist neu erfin­den. Eben deshalb wird er diese Werte zu schüt-zen versuchen und den Sekun­därprin­zipien des Versprechenhaltens, der Wahr­haftigkeit und der Respek­tierung in­dividueller Frei­heitsspielräume nur dann zuwiderhandeln, wenn die Chancen einer Scha­densvermei­dung oder Nutzenver­wirklichung durch die Zuwiderhandlung die Risiken einer Schwä­chung dieser Prinzipien mehr als aufwiegen. Er wird sich deshalb, was diese Prinzipien betrifft, in praxi in der Regel in einer Weise verhalten, die als (deontologischer) Regel­uti­li­tarismus mißver­standen werden mag, im Grunde aber nur eine besonders konse­quente Form von Kon­sequentialismus ist - so wie sich ja auch ein Egoist, wenn er gut beraten ist, in der Regel nicht egoistisch verhält.

 Der konsequente Konsequentialist ist kein moralischer Opportunist. Er durchquert die Straße bei roter Ampel nur im wirklich dringenden Fall - dann aber auch, wenn Kinder dabei sind, damit sie lernen, daß Ausnahmen manchmal berechtigt sind. Ver-trauenssiche­rung, Verläßlichkeit und persön­liche Freiheitsspielräume sind so wichtige Güter, daß Aus­nahmen an strenge Bedin­gungen geknüpft werden müssen - auch deswegen, weil sie zu moralischer Läßlich­keit verführen können und insgesamt nützli­che Verhaltenshabitualisie­rungen schwä-chen.

Kurz: Solange die Kritik am Konsequen­talismus ihrerseits konsequentialistisch ist, wird sie vom konsequenten Konsequentali­sten in seinen Handlungsstrategien an­ti-zipiert und inte­griert.

 

Herr Nida-Rümelin, "Unterminierung der moralischen Institutionen des Versprechen­hal­tens, der Wahrhaftigkeit und der Respek­tierung individueller Freiheitsspielräu­me" sind das, in anderen Worten, von Ihnen kritisierte Kon­sequenzen, die aus dem strik­ten Konse­quen­talis­mus folgen?

 Nida-Rümelin: Eine Gesellschaft von ratio­nalen Konsequentialisten würde diese Insti­tutio­nen nicht be­wahren können, und zwar auch dann nicht, wenn sich Konsequentiali­sten deren Fortbes­tand (aufgrund ihrer eige­nen axiologischen Voraussetzungen) wünschten.

Man darf zwei Fragestellungen nicht ver­mengen, wenn man dem Konsequentialis­mus gerecht werden will:

In Welche Institutionen (und damit, welche Regelsysteme) sind bei der jeweiligen axio­logi­schen Konzeption einer konsequentialis­tischen Theorie wünschenswert?

 Verhält sich ein rationaler Konsequen­tialist im Einzelfall (hinreichend) konform mit diesen Institutionen?

 Für einen rationalen Konsequentialisten ist die Tatsache, daß moralische Institutionen wie die des Versprechenhaltens, der Wahr­haftigkeit und der Respektierung in­dividu­eller Frei­heiten segensreich sind, für sich genommen kein Grund, sich diesen Institu­tionen gegen­über konform zu halten. Nur wenn die Folgen der konkreten konfor­men Einzelhandlung in der betreffenden Situa­tion im Vergleich zu allen anderen offenste­henden Handlungen optimal sind, wird sich der rationale Konsequentialist konform verhalten. Damit diese Institutionen jedoch ihre segensreiche Wirkung ent­falten können, ist ein sehr hohes Maß an Konformität erforderlich, das bei dieser Motivlage nicht zu erreichen wäre.  

Herr Birnbacher sprach eingangs die Frage der Wertbasis an. Tatsächlich habe ich in meiner Studie versucht, die konsequentiali­stische Position so stark wie möglich zu machen und sie daher nicht auf eine spezifi­sche, etwa utilitaristische Wertkonzeption festgelegt. Der Utilitarismus ist philosophie­historisch in erster Linie durch die axiologi­sche Theorie geprägt, ausschließlich Lust oder Zufriedenheit habe einen intrinsischen Wert - daher verstand sich etwa George Edward Moore nicht als Utilitarist. Viele zeitgenös­sische "Utili­taristen" vertreten allerdings keine axiologische Theorie mehr, sondern ziehen sich auf Präferenzenerfül­lung als Bewertungsmaß zurück. Auch in-nerhalb des zeitgenössis­chen Utilitarismus ist die Frage des Konsequentialismus um­stritten. John C. Harsanyi vertritt z.B. eine explizit nicht-konsequentialistische Version des Präferenzutilitarismus.

 Wenn es aus konsequentialistischer Sicht nicht wünschenswert ist, daß die Gesell­schaft aus Konsequentialisten besteht, dann kann die konsequentialistische ethische Theorie keine normative (handlungsleitende) Rolle beanspruchen. Die von Herrn Birnba­cher anvisierte Integration dieser Art der Kritik des Konsequentialismus ändert den Status der ethischen Theorie daher in einer grundlegenden und für viele - wohl auch für die meisten Konse­quentialisten - inakzep­tablen Weise.

Herrn Kerstings Formulierung bezog sich jedoch vermutlich in erster Linie auf die ent­scheidungstheoretischen Mittel, die an zentraler Stelle der Kritik zum Einsatz kommen, insbesondere bei der Diskussion des Liberalen Parado­xons, das ich zum Nachweis der Unverein­barkeit von Konse­quentialismus und in­dividuellen Freiheits­rechten heranziehe und des Gib­bard-Sat­terthwaite-Theorems, anhand dessen man eine grundlegende Instabilität konse­quen­tialistis­cher Gesellschaften bele­gen kann.

 Herr Birnbacher, sind Sie mit Herrn Nida-Rümelins Sicht einverstanden, daß Ihr "kon-  s­equenter Konsequentalismus" für die mei­sten Konsequentalisten inakzeptabel ist?

 

Birnbacher: Ich habe nicht gesagt, daß es wünschenswert ist, wenn die Gesellschaft aus Nicht-Kon­sequentialisten besteht. Ich habe nur gesagt, daß es wünschenswert ist, wenn sich die meisten Konsequentialisten nicht so verhalten, wie es ihnen von Herrn Nida-Rü­melin unterstellt wird. Das werden sie - bei einiger Intelligenz - aber auch nicht tun. Zu dieser Intelligenz gehört, daß man zwischen "idealen Normen" auf der Ebene der abstrak­ten Theorie und den ver­schiedenen Arten von "Praxisnormen" (von den klassischen Uti­litari­sten "Sekundär­prinzipien" genannt) unterscheiden muß, die die idealen Normen für be­stimmte gegebene - und bedingt änderbare - historische und gesellschaftliche Kontexte konkretisieren. Wie nicht jede moralische Norm als solche schon eine Rechtsnorm ist, so kann auch nicht jede ideale Norm bereits als Orien­tierung für die alltägliche moralische Praxis dienen. Das heißt aber nicht, daß sie nicht dennoch eine wichtige Orientierungs­funk­tion behält - nämlich für die Auswahl ge­eigneter "Praxisnormen" in Situationen mora­lischer - individueller und kollektiver - Selbstprüfung. Ich vermag nicht zu sehen, daß diese Aufteilung des Systems der Moral in mehrere Ebenen für den Konsequentiali­sten inakzeptabel sein kann. Normen und andere Verhaltensorientierungen sind für ihn durch ihre Konsequenzen gerechtfertigt. Zur Beurteilung dieser Konsequenzen bedarf er jedoch einer Norm höherer Ebene, die nicht ihrerseits zu den beurteilten Normen gehört.

Die Ergebnisse der formalen Sozial­wahl-theorie sollte man nicht überbewerten. Das auf Amartya Sen zurückgehende "Libe­rale Paradoxon" berücksichtigt lediglich unsere Präfe­renzen für bestimmte Zustände, nicht aber unsere Präferenzen dafür, diese Zustän­de jeder­zeit ändern zu können. Sol­cherart "Freiheitspräferenzen" dürfen im konsequen­tialistischen Folgenkalkül aber nicht ver­nachlässigt werden. Wie es nicht vernünftig ist, immer nur vernünftig zu sein, ist auch eine Gesellschaft nicht vollkom­men, die nicht die Freiheit zugesteht, gele­gentlich das Unvollkommene zu wählen.

 

Herr Nida-Rümelin, trifft Ihre Kritik am Konsequentialismus auf eine Position, wie sie Herr Birnbacher hier vertritt, noch zu? Kann er mit seinem "konsequenten Konse­quen­tialismus" die eingangs genannten moralischen Institutionen des Versprechen­haltens, der Wahrhaftigkeit und der Respek­tierung freiheitlicher Spielräume aufrechter­halten?

 

Nida-Rümelin: Es hängt vom Status der "Praxisnormen" ab, ob meine Kritik des Konse­quentialismus auf die von Herrn Birnbacher vertretene Position anwendbar ist. Wenn sich die konsequen­tialis­tische Beur­teilung lediglich als ein Meta-Kriterium darstellt, das Sy­steme von Praxis­nor­men dahin prüft, welche Auswirkungen ihre allgemeine Befolgung für die Präferenzener­füllung oder das subjektive Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder haben würde, dann sind die zentralen Einwände der "Kri­tik des Konsequentialismus", die sich ja auf den individuellen konsequentialistischen Akteur beziehen, nicht mehr einschlä­gig. (Gegen ein konsequentialistisches Meta-Kriterium sprechen andere Argumente, wie das der problema­tischen Separierung des­jenigen, was für die jeweilige Person hand­lungs­leitend ist von der umfassenden Be­wertungsgrundlage des Systems von Praxis­normen.)

Das Zentrum der Kritik des Konsequen­tialismus bildet der konsequentialistische Akteur, und zwar im gesamten Spektrum vom "homo oeconomicus" bis zum (Hand­lungs-)Utilita­risten. Die analysierten Pro­bleme der Kooperation und Koordination (hier spielen die Ergebnisse der Logik kol­lektiver Entscheidungen eine wichtige Rol­le) betreffen dieses gesamte Spektrum mit Ausnahme des Grenzfalls des utilitaristi­schen Konsequentialisten: Wenn man inter­personell variante handlungsleitende Bewertungen zuläßt, sind konse­quentia­listi­sche Akteure unfähig zur Kooperation, wenn man diese ausschließt, bleibt nur, allen Individuen die gleiche handlungs­lei­tende Bewertungsfunktion zu unterstellen, was mit einer plausiblen Anthropologie und der vorfindlichen Realität kultureller und interes­senbezogener Differenzen in allen uns bekannten Gesellschaften unvereinbar ist. Die ethi­sche Theorie sollte nur solche Forderungen stellen, die im Grenzfall gün-stiger Bedingun­gen, aber ohne Ver­letzung von Naturgesetzen und anthropolo­gischen Invarianzen erfüllbar sind.

 

Können Sie uns Ihre Aufteilung in "ideale Normen" und "Praxisnormen" vielleicht anhand eines konkreten Beispiels näher erläutern? In welchem Verhältnis stehen diese "ideale Normen" zudem zu den von Ihnen eingangs genannten moralischen Institutionen, die auch für einen Konsequen­tialisten unverzichtbar sind? Und welchen Status haben die Praxis­normen?

 

Birnbacher: Ich gehe gern auf Ihre Frage ein, auch wenn sie zunächst von dem von Herrn Nida‑Rü­melin aufgeworfenen Pro-blem der Kooperationsfähigkeit konse­quen­tialistischer Akteure wegführt. In der Tat ist die Unter­scheidung zwischen idealen Nor­men und Praxis­normen von entschei­dender Bedeutung. Ideale Normen und Praxisnor­men unterscheiden sich in ihren Anwen­dungsbereichen: Praxisnormen haben ihren Platz in der konkreten Lebens­praxis, d. h. in der Bewältigung konkreter Entschei­dungs­probleme, ideale Normen ­in der refle­xiven Über­prüfung der Praxisnor­men. Praxisnor­men brauchen wir tagtäglich, ide­ale Nor­men nur in den Momenten, in denen uns unsere zur Routine gewordenen Praxis­nor­men frag­würdig werden und wir eine kritische Überprüfung und möglicherweise Revi­sion für not­wendig halten. Typische ideale Normen sind Kants Kategorischer Imperativ (in der ersten Formu­lierung) und die utilitaristische Primärnorm der Maximie­rung des gesell­schaft­lichen Nutzenzuwach­ses. Beide sind als konkrete Verhaltens­orien-tierungen gleicher­maßen schlecht ge­eignet, um so besser aber als Metakriterien zur Bestimmung der jeweils in wiederkeh­renden Entschei­dungssituatio­nen zu befol­genden Maximen bzw. Sekun­där­regeln.

Nehmen wir als Beispiel die Wahrhaftig­keitsnorm. Wol­len wir heraus­finden, für welche Arten von Situationen wir uns die Praxisnorm zu eigen machen soll­ten, von dem ansonsten gelten­den (weil sozial nützli­chen) Wahrhaftig­keitsgebot ab­zuweichen, sagt uns die ideale Norm, daß dies Situatio­nen sind, in denen wir durch eine strikte Befolgung des Wahr­heits­gebots großen Schaden anrichten wür­den. Für einige akut und schwer Herz­kranke kann es zum Bei­spiel tödlich sein, von einem zu schema­tisch seiner Aufklärungs­pflicht nach­kom­menden Arzt von ihrer Diagnose zu erfahren. Dies gilt freilich nur dann, wenn wir uns der Schädlichkeit der Wahrheit hinreichend sicher sind. In Zwei­felfällen müßte wie­derum die Praxisnorm der Wahr­haftigkeit gelten. Das ist aber nur die eine Seite der Unterscheidung. Ideale Normen und Praxis­normen unterscheiden sich auch in dem, was man ihre Trenn­schär­fe nen­nen könn­te: Praxis­normen sind in der Regel weniger trennscharf als ideale Nor­men, so daß ihre Anwen­dung nicht in allen Fällen zu genau denjenigen Handlungen führt, die nach der idealen (aber in der Praxis nicht an­wendbaren) Norm die ethisch rich­tige wäre. Das liegt schlicht daran, daß Praxis­normen, um unter den in der Lebens­praxis vorherr­schenden Zeit‑, Informations‑, Ratio­nalitäts‑ und Motivations­beschränkun­gen an­wendbar zu sein, die jeweilige kom­plexe Fallkonstel­lation nur mehr oder weni­ger schema­tisch berücksich­tigen können. Wer die Praxis­norm der Wahrhaftigkeit in Zwei­felsfällen befolgt, wird in einer gewis­sen Zahl von Fällen dennoch das nach der idea­len Norm Fal­sche tun, und ebenso der, der die Praxis­norm der barmherzigen Lüge in den Aus­nahmefäl­len, in denen großer Scha­den ab­sehbar ist, befolgt. Aufs ganze und aus der Sicht der idea­len Norm gesehen ist es aller­dings besser, wenn wir in be­stimm­ten Fäl­len Fehler machen, als wenn wir über kei­nerlei verläßliche Verhaltens­orien­tie­rungen ver­fügten oder unsere be­grenzten Ressour­cen an Rationalität auf komplizierte Fol­genkalküle verschwendeten.

Gerade in der Moral kann es ‑ im Sinne einer "bounded rationality" ‑ rational sein, den Rationa­litätsaufwand zu begrenzen. Insofern ist auch die geläufige Redeweise von den Praxisnormen als "Faustregeln" nicht angemessen. "Faustregel" weist zwar darauf hin, daß bei der "Operationalisie­rung" der idealen Norm zu Praxisnormen unvermeidlich Verein­fachungen auftreten. Der Ausdruck vernachlässigt aber anderer­seits die emotio­nale Seite: Praxis­normen müssen nicht nur kognitiv, sondern (durch Prozesse der Er­ziehung und Selbster­zie-hung) auch gefühlsmäßig ‑ etwa in Ge­stalt einer Hemmschwelle ‑ verankert sein, wenn sie auch in Versuchungs­situationen hand­lungsmotivierend wirken sollen. Es wäre nicht gut, wenn eine Lüge auch dann, wenn sie gerechtfertigt ist, auf keinerlei ge­fühls­mäßige Bedenken stieße.

 

Welche Funktion hat nun der Konsequen­tialismus (also die Auffassung, wonach eine ver­nünf­tige Person in jedem Fall eine Handlung wählen wird, die angesichts ihrer Folgen wün­schenswerter ist als jede andere in der konkreten Situation möglichen Hand­lung) in diesem Konzept? Inwiefern sind insbesondere die Praxisnormen konsequen­tialistisch?

 

Birnbacher: Das Konzept der Praxisnormen unterscheidet sich gerade dadurch vom Regel­utilitarismus, daß es uneingeschränkt konsequentialistisch ist. Wenn es für den Einzelfall empfiehlt, die absehbaren Folgen einer Handlung nicht umfassend und im einzelnen zu berücksichtigen, sondern der Praxisnorm gewissermaßen "blind" zu fol­gen, dann ist diese Strategie ‑ aber auch jede einzelne Befolgung dieser Strategie ‑ ihrerseits durch Fol­genüberlegungen ge­rechtfertigt: Es ist vernünftig, statt der idea­len Norm der konkreteren, aber gleichzeitig schematischeren Norm zu folgen, weil die Folgen der Handlungsunfähig­keit schlimmer sind als die Folgen eines gelegentlichen Verfehlens des Optimums. Natür­lich ist "blind folgen" nicht ganz richtig: Wir müssen uns zumindest verge­wissern, daß eine im Normal­fall richtige Handlung nicht im Einzelfall verheerende Folgewirkungen zeitigt. Dazu bedarf es im allgemeinen keines ausführlichen Folgenkalküls. Und natürlich erschöpft sich die Nützlichkeit von Praxisnormen nicht in der Nützlichkeit ihrer Befol­gung. Entscheidend ist der Akzep­tanznutzen, der den Befolgungsnutzen um­faßt, aber darü­ber hinausgeht. Nicht erst die Tatsache, daß eine akzeptierte Praxisnorm (möglicherweise) befolgt wird, macht ihre Nützlichkeit aus, sondern ebenso die Tat­sache, daß sie, einmal akzeptiert, Verhal­tens‑ und Erwartungssicherheit ermöglicht, Orientierungsfunktionen für Denken, Fühlen und Persönlichkeits­entwicklung übernimmt und zur individuellen und kollektiven Sinn­stiftung beiträgt, z. B. im Bereich lebens­zeit‑ und generationen­übergreifen­der Kri­senvermeidungs‑ und Entwicklungsziele.


 Nachdem Herr Birnbacher freundlicher­weise seine Position ausführlich dargelegt hat, möchte ich nochmals auf die vorher­gehende Frage zurückkommen: Ist dieses Konzept von Ihrer Kritik am Konsequen­tialismus mitbetroffen? Herr Birnbacher betont, daß er auch die Praxis­normen "un­eingeschränkt konsequentialistisch" versteht.

 Nida-Rümelin: Die von Herrn Birnbacher in seinem Buch Verantwortung für zu­künftige Generatio­nen (Kap. 6) vorgeschlagenen Praxisnor­men bieten insgesamt eine gute Richtschnur für mora­lisch (und poli­tisch) angemessenes Verhalten. Meine Konsequen­tialismuskritik betrifft diese inhaltlich nicht, auch wenn ich in einer Detail­diskussion dieser Normen (die hier nicht geleistet wer­den kann) Modi­fikationen vorschlagen würde und im Übri­gen nicht davon über­zeugt bin, daß sie sich aus der in den vor­ausgehenden Kapi­teln entwickelten Theorie des hedonistischen Handlungsutilita­rismus ableiten lassen. Der Dissens bezieht sich in erster Li­nie auf die Konzeption des morali­schen Akteurs. Meine These ist (einmal angenommen, diese oder verwandte Sy­steme von Normen wä­ren als Richtschnur unseres alltäglichen Verhaltens angemes­sen), daß eine Gesellschaft konse­quentiali­stischer Akteure das für Stabilität und Er­wartungssicherheit notwendige Maß an Kon­formitat mit diesen Normen nicht reali­sieren würde (Kritik des Konsequen­tualis­mus §§ 26, 27, 37‑39, 43, 47). Die schon von Tho­mas Hobbes an­schaulich geschil­derte und durch jüngste spiel­theoreti­sche Untersuchungen genauer analy­sierte Eigen­dynamik würde in einer Gesell­schaft konse­quentialistischer Ak­teure un­weigerlich zur moralischen An­archie führen.

Von konsequentialistischer Seite wird dage­gen geltend gemacht, daß diese Folgerung für moralisch ideale konsequentialistische Akteure nicht zuträfe. Dies sind z. B. (wie bei Birnbacher) solche, die in ihrem Han­deln alle gleichermaßen versuchen, je in­dividuell (auf die handelnde Person bezo­gen) und punktuell (auf die jeweilige Hand­lung bezogen) den gesellschaftlichen Ge­samtnutzen (Nutzensumme) zu maximieren. Dieses konsequentia­listische Argument ist stärker, als viele Kantianer und Regel­utilita­risten meinen, wie ich in den Paragraphen 30‑34 der Kritik des Konsequentialismus ausgeführt habe. Aber selbst wenn das Ar­gument über jede Kritik erhaben wäre ‑ was John C. Harsanyi mit einfachen spiel­theo­retischen Mitteln widerlegt hat ‑, wäre damit der Kern meiner Konsequen­tialis­mus­kritik noch gar nicht berührt. Eine ihrer zentralen Thesen lautet, daß es unan­gemes­sen ist, von moralischen Akteuren zu erwar­ten, daß sie die interpersonell gleiche Be­wer­tungsfunktion optimieren. Diese Er­war­tung ist nämlich so extrem fern von aller Lebens­praxis, sie widerspricht derart kraß unseren Erfahrungen menschlichen Urteilens und Han­delns (der conditio huma­na), daß sie nach meiner Überzeugung nicht einmal einen guten Ausgangspunkt für die ethische Theo­rie im philosophischen Seminarraum abgibt, wo ja vielen bekanntlich manches möglich erscheint, darunter die Bezweiflung der "Existenz der Außenwelt" oder des "Fremdpsychi­schen", das andernorts als Symptom geistiger Ver­wir­rung gilt.

Konsequentialisten mit divergierenden hand­lungsleitenden Bewer­tungen sind ex defini­tione nicht einmal fähig zu kooperieren, sie schaffen eine soziale Welt der Instabilität und der perma­nenten Konflikteskalation. Die ethische Theorie sollte ihren Aus­gangspunkt nahe bei den realen Menschen nehmen, mit ihren persönlichen Bindungen und Projekten, ihren individuellen Le­bens­zielen und Werthaltungen, und dann dieje-  n­igen Rechte und Pflichten, Werte und Tu­genden bestimmen, die es erlauben, diese Differenzen auszu­halten, d.h. die diese Diffe­renzen hinreichend kom­patibel ma­chen, um der einzelnen Person ein selbstbe­stimmtes Leben zu ermöglichen. Diese Rechte und Pflichten, Werte und Tugenden beschränken (unter der Bedin­gung interper­soneller Differenz) die je in­divi­duelle kon­sequentiali­stische Op­timie­rung. Eine adä­quate Ethik ist daher mit konse­quentia­listi­scher Rationalität in dem Sinne, wie ich sie in Kritik des Konsequen­tialismus präzi­siert habe, nicht vereinbar.

 

Die Diskutanten:

 

Dieter Birnbacher ist Professor für Philo­sophie an der Universität Düsseldorf, Julian Nida-Rümelin ist Professor für Philosophie an der Universität Göttingen.