ESSAY
Cramer, Konrad: Europäische Philosophie um 1900 | |
Konrad Cramer: Europäische Philosophie um 1900 Als Hegels Schüler Carl Ludwig Michelet 1870 von Hegel als dem "unwiderlegten Weltphilosophen" sprach, da war das allenfalls das Satyrspiel zur Tragödie des Schicksals der Hegelschen Philosophie. In Wahrheit hatte diese ihre Bedeutung im Bewusstsein der Zeit längst verloren, ja, den Absturz in weitgehende Vergessenheit erfahren. Ausnahmen bestätigen die Regel. So vermochte sich in England durch das 1865 erschienene Buch von James Hutchinson Stirling The Secret of Hegel ein merkwürdig verspäteter Hegelianismus zu etablieren, dessen wichtigster und auch wirkungsmächtigster Repräsentant Francis Herbert Bradley war und dem auch noch der junge Bertrand Russell vor der Jahrhundertwende an-hing. Hegels Philosophie war insbesondere für die akademischen Philosophen obsolet geworden, und zwar nicht etwa durch bündige philosophische Widerlegung der Fruchtbarkeit oder Rationalität des Wahrheitsanspruchs der von Hegel im Aufbau seines Systems durchgängig verwendeten "dialektischen Methode". Kritik an Hegel in diesem Sinne hatte schon Friedrich Adolf Trendelenburg 1840 mit erheblichem Erfolg bei den Zunftgenossen formuliert. Die ihrerseits sehr verspätete Wirkung Schopenhauers, näher die seiner mit glänzender Beredsamkeit vorgetragenen pessimistischen Weltansicht und seines zur Schau getragenen Hasses gegen das, was er "Schulphilosophie" nannte, war im ganzen eher eine Wirkung auf das europäische Bildungsbürgertum, weit weniger auf die akademische Philosophie gewesen. Schopenhauers berühmtes Wort von Hegel als einem "frechen Unsinnschreiber", das ihm selbst sein Bewunderer Nietzsche, der von "der unintelligenten Wut Schopenhauers auf Hegel" sprach, nicht verzeihen mochte, hat gewiß dazu beigetragen, dass man weithin auf Hegel als einen toten Hund hinsah, wenn überhaupt noch. Auch die unter dem Titel Philosophie des Unbewußten seit 1869 und bis 1904 in elf Auflagen erschienenen Gedanken eines der Modephilosophen des letzten Jahrhundertdrittels in Deutschland, des preußischen Offiziers und Privatiers Eduard von Hartmann, erregten als solche gewiß weit mehr Aufmerksamkeit als dessen gelegentlich doch weit vorsichtigere Bezugnahmen auf Hegel und dessen dialektische Methode, der er noch 1868 eine eigene Untersuchung gewidmet hatte. Es war nicht die innerphilosophische Diskussion, die Hegel den Garaus gemacht hatte ‑ übrigens nicht auf immer, wie der Neuhegelianismus unseres Jahrhunderts beweist. Es war vielmehr die Wirkung der explosionsartigen Entfesselung der Produktivkräfte der Wissenschaften, dass sich diejenigen, die sich ihren Forschungsprogrammen verschrieben hatten, von Hegel keine Orientierung mehr versprechen wollten und konnten. Und das in zweierlei, gleich entscheidender Hinsicht. Hegels spekulative Naturphilosophie, die es unternommen hatte, die Grundstrukturen der unbelebten und der belebten Natur und die zwischen ihnen herrschenden Verhältnisse nach seinem berühmten Prinzip von Thesis, Antithesis und Synthesis zu konstruieren, mußte denjenigen, die sich als mathematische Naturwissenschaftler auf den Weg gemacht hatten, die Erscheinungen der Natur in Theorien zu beschreiben und zu erklären, die auf der Grundlage von Hypothesenbildung und Experiment formuliert waren, als gänzlich obsolet oder überhaupt abwegig gelten ‑ in jedem Falle aber als ein Entwurf, der in seinem größten Teil durch den Fortschritt eben dieser Wissenschaft als falsifiziert anzusehen war. Wenn Hegels Naturphilosophie eines nicht war, dann Wissenschaft. Aber auch Hegels spekulative Philosophie des Geistes hatte nicht zu überleben vermocht. Der Grund hierfür liegt in einem der wichtigsten Ereignisse der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, der Etablierung der Psychologie als einer Wissenschaft, die "sich ebenso mit der Erforschung der inneren, seelischen Erscheinungen beschäftigt wie die Naturwissenschaft mit derjenigen der äußeren, physischen Vorgänge". So formuliert es Meyers Großes Konversationslexikon von 1907. Der Nachdruck liegt hier auf dem Wort "ebenso". Was He-gels spekulative, näher aber überhaupt eine sich Eigenständigkeit anmaßende philosophische Behandlung des Seelenlebens ablöst, ist die Durchführung des Programms einer "erklärenden" Psychologie nach dem Vorbild der Methode der mathematischen Naturwissenschaften auf der Grundlage empirischer Forschung. Johann Friedrich Herbart, der eigentliche Antipode Hegels schon zu dessen Lebzeiten, hatte dieses Programm in seiner Psychologie als Wissenschaft, neu begründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik von 1824/25 als das einer Mechanik der seelischen Vorgänge auf deterministischer Basis formuliert; und der entscheidende Gedanke war dabei der, seelische Vorgänge als meßbare Größen aufzufassen. Diesem Programm hatte Gustav Theodor Fechner in seinen Elementen der Psychophysik von 1860 nach dem Vorgang des Physiologen und Anatomen Ernst Heinrich Weber erstmals eine tragfähige experimentelle Grundlage zu geben vermocht. Die Schwierigkeit, die Herbart nicht wirklich zu bewältigen vermocht hatte, war die, dass psychische Vorgänge und Zustände keiner direkten Messung und damit keiner direkten mathematisch formulierten Quantifizierung zugänglich sind. Das aber gilt nicht für physische Vorgänge. Daher, so schloß Fechner, kann ein Maß für Psychisches nur in Abhängigkeit von physikalischen Messungen gefunden werden. Fechner unternahm es nun, die nicht direkt meßbare Größe von Empfindungen, diesen elementaren Gegebenheiten im Bereich des Psychischen, in Abhängigkeit von ihren direkt meßbaren physiologischen Korrelaten, nämlich den Reizgrößen, zu be-stimmen. Für diese Abhängigkeit stellte er das später so genannte "psychophysische Grundgesetz" auf, nach welchem das quantitative Verhältnis zwischen der Zunahme der messbaren Größe von Sinnesreizen und dem Wachstum der korrespondierenden Empfindungen, das Größenverhältnis von Physischem und Psychischem also, in diesem Falle so bestimmt ist, dass die Intensitäten der Empfindungen sich proportional den Logarithmen der Reizstärken verhalten. Das war der Durchbruch für die mathematische Bestimmung des Psychischen. Ebenso entscheidend aber war, dass man bei der Quantifizierung der Verhältnisse zwischen psychischen und physiologischen Gegebenheiten auf der Grundlage physikalischer Messung Fragen über die ontologische Natur von Körper und Seele und damit alle Streitfragen über die Wahrheit oder Falschheit von Materialismus, Spiritualismus, Dualismus und Monismus ganz beiseite lassen konnte. Die Fragen nach dem "Wesen" der alsbald nicht mehr so genannten Seele, das heißt die Frage nach dem ontologischen Status des Psychischen und die nach seinem Verhältnis zur materiellen Welt, das mögen unauflösbare Fragen sein, ‑ "Welträtsel", von denen das 1873 ausgesprochene Wort des Physiologen Emil DuBois-Reymond gelten mochte: "Ignoramus et ignorabimus". Aber das sind metaphysische Fragen, deren wie immer nähere Behandlung an dem quantifizierenden Verfahren der neuen Wissenschaft vom Psychischen nichts ändern würde. Und wenn diese Fragen einer Lösung zugeführt werden können sollten, wie Ernst Haeckel meinte, dann nur auf dem Wege der Naturwissenschaft und der durch ihre Ergebnisse vorgeschriebenen Konsequenzen. Die einzige Lösung dieser Fragen war für Haeckel freilich sein als neue Weltreligion propagierter Monismus. Der aber war selber eine einigermaßen verquaste Metaphysik. Auf andere Weise hat dem neuen Forschungsprogramm die in England ent-wickelte Assoziationspsychologie von James Mill und seinem berühmteren Sohn, John Stuart Mill, in die Hände gearbeitet. Schon 1829 hatte der ältere Mill eine "Analysis of the Phenomena of the Human Mind" vorgeschlagen, deren Verfahren darin besteht, psychische Phänomene in ihre einfachsten Elemente zu zerlegen und vermittels eines Prinzips ihrer Synthese, dem "Gesetz der Assoziation", aufzuweisen, wie aus ihnen die komplexen Erscheinungen unseres bewußten Lebens entstehen. Der Prozeß, der nach diesem Gesetz der Assoziation der Elemente, nämlich der einfachen sinnlichen Gegebenheiten, abläuft, ist der einer mit kausaler Notwendigkeit erfolgenden Verschmelzung der Elemente, als deren Resultat sich ein psychisches Phänomen ergibt, das von den elementaren Faktoren, durch deren Assoziation es entstanden ist, durchaus verschieden ist und zudem unserer inneren Wahrnehmung selber fälschlicherweise als einfach erscheint. Das heuristische Modell, welches dieser Auffassung zugrunde liegt, ist das der Chemie der Atome und Moleküle und führt ganz konsequent zu der Konzeption einer Psychologie als "mental chemistry". Aus dieser Konzeption aber folgt, dass unser ganzes Bewusstseinsleben bis in seine höchsten Erscheinungen, unsere Erkenntnis von Objekten der Außenwelt, unsere Willensbestrebungen und unsere ästhetischen und religiösen Überzeugungen auf die Assoziation einfacher elementarer psychischer Gegebenheiten zurückzuführen ist. So entstehen unsere Vorstellungen von Gegenständen der Außenwelt, die wir in diesen Vorstellungen als von diesen Vorstellungen unabhängig existierende Entitäten in Raum und Zeit vorstellen, wenn die elementaren Tast‑, Gesichts‑ und Muskelempfindungen zu einer besonderen Vorstellung verschmolzen werden; und das Produkt dieser Verschmelzung ist die Vorstellung von einem Objekt. John Stuart Mill, dessen 1843 erschienenes System of Logic und dessen Examination of Sir William Hamilton's Philosophy von 1865 zwei der international meistdiskutierten Bücher seiner Zeit wurden, hat sich im Grundsätzlichen auch in den Bahnen dieser Assoziationspsychologie bewegt. Namentlich für zwei von uns, wie Mill meinte, fälschlicherweise für ursprünglich gehaltene Überzeugungen hat er deren Entstehung im Rückgang auf elementare Daten unseres Bewusstseinslebens zu erklären versucht: für unsere Überzeugung von der Existenz von Objekten der Außenwelt und für unsere Überzeugung von der Existenz des eigenen Ich. Unser Wissen von Objekten ist, so Mill, nichts anderes als der durch Assoziation von Wahrnehmungen erworbene Glaube an die dauerhaften Möglichkeiten der Fortsetzung von sinnlichem Input ‑ "permanent possibilities of sensation". Ebenso ist das Bewusstsein meiner selbst, mein Bewusstsein, ein "Ich" oder "Subjekt" zu sein, das sich in verschiedensten psychischen Zuständen befindet, nichts anderes als der Glaube an die beständige Möglichkeit des Auftretens elementarer psychischer Gegebenheiten, die ich nicht habe, aber haben kann. Was wir "Ich" nennen, ist in Wahrheit nichts anderes als die Summe der aufeinanderfolgenden psychischen Vorgänge, die nach dem Gesetz der Assoziation miteinander verbunden sind. Was man einmal die menschliche Seele nannte, ist demnach gar nichts anderes als "der Gesamtinhalt unserer inneren Erlebnisse selbst, unseres Vorstellens, Fühlens und Wollens, wie es sich im Bewusstsein zu einer Einheit zusammenfügt und in einer Stufenfolge von Entwicklungen schließlich zum selbstbewussten Denken und freien sittlichen Wollen erhebt". So hat es Wilhelm Wundt ausgedrückt, der berühmte Begründer des ersten Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig im Jahre 1875, das in Europa und Amerika Vorbildcharakter gewonnen hat. Eine "Psychologie ohne Seele" also, aber auch eine Psychologie, die dem, was sich einmal als eigenständige philosophische Theorie des Erkennens der Welt und des Erkennens unserer selbst verstanden hatte, den Abschied gab. Was einmal bei Immanuel Kant und seinen idealistischen Nachfolgern bis hin zu Hegel als eine nicht‑empirische, nicht in die Erfahrungswissenschaften selber fallende Theorie der Bedingungen der Möglichkeit unseres Erfahrungswissens konzipiert worden war, wird im Bewusstsein der Zeit ersetzt durch die ‑ so meinte man ‑ nun erstmals wahrhaft wissenschaftliche Nachfolgedisziplin dieser Konzeption, die quantifizierende Psychologie. Nicht in der Form einer eigenständigen philosophischen Theorie der Erkenntnis, sondern in der Form einer empirisch verfahrenden Psychologie des Erkennens sind innerhalb der Inhaltsgemeinschaft von "psychischen Ereignissen" ‑ auch dies eine Formulierung Wundts ‑, die das Ich bilden, diejenigen psychischen Prozesse zu untersuchen, die Akte des objektivierenden Erkennens sind, und zwar in ihrer kausalanalytisch zu interpretierenden Genese und insbesondere in ihrer Abhängigkeit von physiologischen Vorgängen. Es ist eine solche Untersuchung, die aufklärt, nämlich erklärt, was das eigentlich ist: Erkennen. Auch die alte Crux der Philosophen, wie es nämlich zu verstehen ist, dass wir nicht nur ein Bewusstsein von Gegenständen, sondern auch ein Bewusstsein unserer selbst, Selbstbewusstsein, haben können, scheint nicht mehr bedrohlich. Was nach einer allerdings nur methodisch zu verstehenden Abscheidung des Leibes in ausweisbarer Weise "das Ich" oder auch "ein Ich" genannt wird, ist nichts Eigenartiges, das über den mannigfachen Erlebnissen schwebt, sondern einfachmit der kausalgesetzlich geregelten Verknüpfungseinheit dieser Erlebnisse identisch. Die psychischen Inhalte haben eben ihre gesetzlich bestimmten Weisen, zu umfassenden Einheiten zu verschmelzen; und indem sie so eins werden und sind, hat sich schon diejenige Inhaltsgemeinschaft, diejenige Einheit des Bewusstseins konstituiert, die wir "Ich" nennen, ohne dass es darüber hinaus eines eigenen, alle Inhalte tragenden, sie noch einmal einigenden Ich‑Prinzips be-dürfte. Die Leistung eines solchen Prinzips wäre zudem auch ganz unverständlich. Das war auch noch die Auffassung Husserls in seinen Logischen Untersuchungen von 1901. Erst unter dem Einfluss des Neukantianers Paul Natorp sollte Husserl in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie von 1913 diese Auffassung einer grundlegenden Revision unterziehen und nun im Anschluss an Descartes und die Tradition des Deutschen Idealismus wieder von einem "transzendentalen Ego" sprechen. Jene von Husserl 1901 noch als ein objektiver Sachverhalt gedeutete Einheit des Bewusstseins aber findet je-der von uns zumindest ausschnitthaft in sich selber vor, und zwar durch "innere Wahrnehmung" als Wahrnehmung des "eigenen Inneren". Selbstbewusstsein ‑ das ist nichts anderes als diese Wahrnehmung vom eigenen Inneren; und ihr Zustandekommen ist auf empirischem Wege aufzuklären. So war auch für den Husserl der Logischen Untersuchungen im Unterschied zu dem der Ideen das "Ich" der Kantischen Philosophie und seiner Nachfolger "nicht zu retten", sondern "aufzugeben", wie Ernst Mach in seiner Analyse der Empfindungen von 1886 geschrieben hatte. Das also ist die die Jahrzehnte vor 1900 beherrschende Auffassung von einer wissenschaftlich ausweisbaren und von metaphysischen Spekulationen freien Theorie des menschlichen Subjekts und seines Wissens von der Welt. Die Philosophie ist nun wirklich, nach einem Ausdruck Auguste Comtes, "positiv" geworden, nämlich durch ihr Verschwinden in Wissenschaft. Und so schämt sich am Ausgang des 19. Jahrhunderts nach einem nicht nur witzigen, sondern auch diagnostisch durchaus zutreffenden Wort Ortega y Gassets, der 1906 seine philosophischen Studien in Marburg aufnahm, der Philosoph, wenn er nicht gerade Philosophiehistoriker ist. Er schämt sich, weil er nicht Physiker ist. Hier ist noch einer der wirkungsmächtigsten, heute nahezu vergessener englischer Denker, nämlich Herbert Spencer und dessen monumentales Lebenswerk A System of Synthetic Philosophy zu nennen, das in den Jahren 1862‑1896 in zehn Bänden erschienen ist. Spencer hat schon vor Darwin eine allgemeine Theorie der Evolution entwikkelt, aus der er die Konsequenz zog, dass die Psychologie den Wissenschaften von der organischen und unorganischen Natur unterzuordnen sei. In Verfolg dieses Grundgedankens hat Spencer die intelligenten Leistungen des Menschen als ein Produkt der Anpassung eines komplex strukturierten Organismus an sein Milieu aufgefaßt ‑ der Slogan "survival of the fittest" stammt von ihm, nicht von Darwin. In ähnlicher Weise war es in Frankreich Hyppolite Taine, der in seinem Werk De l'intelligence von 1870 seine berühmte "théorie des milieus" psychologisch‑deterministisch zu begründen unternommen hat. Diese Theorie hat ihm auch die methodischen Grundlagen seiner Geschichtsschreibung an die Hand gegeben: Jedes Ereignis, ob physisch oder psychisch, jede Einrichtung, jedes Artefakt, ja die Geschichte selbst ist nur durch die Beziehung auf ein System vorhergehender und gleichzeitiger Umstände, die determinierende Kraft besitzen, verständlich zu machen. Objektive Erkenntnis ist nach all diesen Ansichten in der einen oder anderen Weise auf einen psychologisch zu interpretierenden "Zwang" zurückzuführen, mit dem sich uns gewisse Vorstellungen aufdrängen: als feste Verbindung solcher Vorstellungen, die in unserem Bewusstseinsleben streng determiniert auftreten. Ein solcher psychologischer Zwang muss nun nicht nur die Objektbeziehung unserer Erkenntnis, sondern auch die Gültigkeit derjenigen Gesetze er-klären, die wir "logische Gesetze" nennen. Daher müssen auch die formale Logik und die Formalwissenschaft der Mathematik die Aufklärung des Sinnes von Gültigkeit, die sie ihren Aussagen zuschreiben, von der empirischen Psychologie des Erkennens er-warten. Zu dieser Erwartung führt ein einfacher und, wie es scheint, auch ganz überzeugender Gedanke. Denken ist ein psychischer Vorgang. Logisches Denken ist Denken. Al-so ist auch logisches Denken ein psychischer Vorgang. Die Gesetze des logischen Denkens aber sind eben die logischen Gesetze; und diese Gesetze sind diejenigen, nach denen man verfahren muß, um "richtig" zu denken. Das heißt nichts anderes, als dass man nach diesen Gesetzen verfahren muß, um so zu denken, wie es die spezifische Gesetzlichkeit unseres Denkens erfordert. Diese Gesetzlichkeit aber charakterisiert die Eigenart des Denkens von Angehörigen der Spezies homo sapiens; und eben diese Eigenart kann nicht anders als auf empirisch-psychologische Weise konstatiert werden. Daher müssen die logischen Gesetze als Naturgesetze unseres Denkens aufgefaßt werden. In seinen Grundzügen der Lo-gik von 1893 formuliert dies Theodor Lipps so: "Die Logik ist eine psychologische Disziplin, so gewiß das Erkennen nur in der Psyche vorkommt und das Denken, das sich in ihm vollendet, ein psychisches Geschehen ist. Die Logik ist Physik des Denkens oder sie ist überhaupt nichts." ‑ So sagt zum Beispiel der logische Grundsatz vom auszuschließenden Widerspruch aus, dass von zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Sätzen ‑ nennen wir sie p und non‑p ‑ nicht beide wahr sein können. Dieser logische Sachverhalt wird von den psychologischen Logikern, den Mill, Spencer, Taine, Lipps und anderen so interpretiert, dass er die "reale", das heißt die de facto zu konstatierende Unverträglichkeit des Urteilsaktes der Bejahung und des Urteilsaktes der Verneinung mit Bezug auf ein und denselben Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Das Bewusstsein der Unverträglichkeit des gleichzeitigen Auftretens der genannten psychischen Akte ist aber selber ein psychisches Ereignis; und auch dieses ist als ein kausaler Erfolg gewisser psychischer Antezedenzien aufzufassen, die ihrerseits rein tatsächlicher, nämlich psychischer Natur sind. So ist der Satz vom auszuschließenden Widerspruch ein Produkt der Naturgeschichte unseres Denkens. Eine entsprechende psychologische Erklärung bezieht sich dann ganz konsequent auch auf die Evidenz, die wir im allgemeinen mit unseren Objektivitätsvermeinungen verbinden. Es ist nun genau diese Option, gegen deren Verständlichkeit sich Husserl in den Prolegomena zu seinen Logischen Untersuchungen gewandt hat. Gewiß: im richtigen Urteilen schließen sich Ja und Nein mit bezug auf ein und denselben Sachverhalt aus. Aber damit ist bei näherem Zusehen gar kein Satz über einen psychologischen Sachverhalt ausgesprochen. Der Satz vom auszuschließenden Widerspruch sagt als solcher nichts darüber aus, ob die in Frage stehenden Urteilsakte des Bejahens und des Verneinens in einem und demselben Bewusstsein oder in mehreren koexistieren können oder nicht. Er besagt vielmehr, dass kein Urteil seinem Aussagegehalt nach ein richtiges wäre, in welchem derselbe Sachverhalt zugleich bejaht und verneint würde. Kein psychologisches Gesetz zwingt den Urteilenden unter das Joch der logischen Gesetze, sondern jemand, der den Anspruch er-hebt, richtig zu urteilen, das heißt das Wahre als wahr und das Falsche als falsch gelten zu lassen, muss so urteilen, wie es der Satz vom auszuschließenden Widerspruch fordert. Im übrigen kann jemand sehr wohl glauben, dass ein Hase ein Hase und kein Hase ist, und zu diesem Glauben kann auch psychologischer Zwang bestehen, wie jeder Psychiater weiß. So hat es die Logik und in ihrem Gefolge die Theorie der Erkenntnis überhaupt nicht mit den empirisch aufweisbaren psychischen Akten des Fürwahrhaltens und den psychischen Gesetzen zu tun, die ihren Auftritt in einem Bewusstseinsleben regulieren, sondern mit dem Wahrsein von Sätzen und den Bedingungen ihrer Möglichkeit. In dieser Kritik an den logischen und erkenntnistheoretischen Anmaßungen der Psychologie im Ausgang des 19. Jahrhunderts war Husserl freilich ein zu seinen Lebzeiten kaum beachtetes Genie vorangegangen, nämlich Gottlob Frege, der Begründer der modernen Logik. Im Vorwort zu seinen Grundgesetzen der Arithmetik von 1893 schrieb Frege: "Das Wort 'Denkgesetz' verleitet zu der Meinung, diese Gesetze regierten in derselben Weise das Denken wie die Naturgesetze die Vorgänge in der Außenwelt. Dann können sie nichts anderes als psychologische Gesetze sein, denn das Denken ist ein seelischer Vorgang. Und wenn die Logik mit diesen psychologischen Gesetzen zu tun hätte, so wäre sie ein Teil der Psychologie. Ja, wenn es sich in der Logik um das Fürwahrgehaltenwerden handelte, und nicht vielmehr um das Wahrsein. Und das verwechseln die psychologischen Logiker. Wahrsein ist etwas anderes als Fürwahrgehaltenwerden. Es ist kein Widerspruch, dass etwas wahr ist, was von allen für falsch gehalten wird. Ich verstehe unter logischen Gesetzen nicht psychologische Gesetze, sondern Gesetze des Wahrseins. Wenn so das Wahrsein unabhängig davon ist, dass es von irgend einem anerkannt wird, so sind auch die Gesetze des Wahrseins nicht psychologische Gesetze, sondern Grenzsteine, in einem ewigen Grunde befestigt. Und weil sie das sind, sind sie für unser Denken maßgebend, wenn es die Wahrheit erreichen will." Geben wir also auf empirisch‑psychologi-sche Weise Ursachen für den Auftritt der psychischen Akte des Fürwahrgehaltenwerdens eines Satzes an, so geben wir damit keineswegs Gründe für das Wahrsein dessen an, was wir kraft jener Ursachen für wahr halten. Entsprechend macht es keinen Sinn, die Objektivitätsansprüche unserer Erkenntnis als psychische Eigenschaften der Vorstellungen, in denen solche Ansprüche er-gehen, aufzufassen. Es wäre einfach "eine Fälschung" ‑ so Frege ‑ "wenn man sagen wollte, in dem Satz 'der Mond ist unabhängig von mir und meinem Vorstellen' werde meine Vorstellung des Unabhängigseins von mir und meinem Vorstellen ausgesagt von meiner Vorstellung des Mondes. Damit eben wäre die Objektivität im eigentlichen Sinne preisgegeben." So haben Frege und Husserl einer kausalgenetischen Erklärung des Sinnes von Wahr-heit und Objektivität eine radikale Absage erteilt, ‑ und dies mit zunächst durchschlagendem Erfolg für unser Jahrhundert. Darin freilich war ihnen bereits Hermann Lotze vorangegangen, dessen ebenso scharfsinnige wie geistvolle Schriften in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden sind. Aber auch von anderer Seite ist insbesondere der assoziationspsychologischen Variante einer solchen Erklärung widersprochen worden. Und hier sind in erster Linie Wilhelm Dilthey in Deutschland und Henri Bergson in Frankreich zu nennen. Dilthey hat sich schon in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 und dann in seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie von 1894 gegen den Primat der "erklärenden" Psychologie der Herbart, Mill, Spencer, Taine und anderer gewandt, welche die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen unterzu-ordnen unternimmt. Dilthey hat grundsätzlich bezweifelt, dass es überhaupt sinnvoll ist, das Verfahren dieser Psychologie, das heißt die Methode der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung, durch welche zu dem Gegebenen ein Kausalzusammenhang ergänzend hinzugefügt wird, auf das Seelenleben zu übertragen. Für die Geisteswissenschaften, um deren methodologische Grundlegung es Dilthey ging, gilt nämlich, dass für sie das Seelenleben "von innen", und das heißt als ein lebendiger Zusammenhang, gegeben ist. Überhaupt ist, so Dilthey, das Psychische in seinem "wirklichen Erlebtsein" stets "erlebter Zusammenhang". Eben dieser Zusammenhang und nicht etwa irgendwelche Elementarvorstellungen, die ihn allererst bilden sollen, ist das erste, was ursprünglich und beständig im Erleben ge-geben ist. Daher bedarf eine sich richtig verstehende Psychologie des Erlebens keiner durch Schlüsse gewonnenen unterlegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen der seelischen Tatsachen herzustellen. Und eben deswegen ist Hypothesenbildung nicht die unerläßliche Grundlage einer sich richtig verstehenden Psychologie. Deren Methode ist von der der Physik und Chemie gänzlich verschieden. Die Natur "erklären" wir, das Seelenleben "verstehen" wir, und zwar weil der erlebte Zusammenhang hier das erste Gegebene ist. Denn: "Das Erlebnis ist nicht nur, es ist erlebt." Unser Erleben verleiht sich als der Strukturzusammenhang, der es ist, Ausdruck in un-terschiedlichen Objektivationen, deren gemeinsamer Charakter der der Bedeutsamkeit ist. Solche Objektivationen, welche die "geschichtliche Welt" und unsere historische Situation in dieser zumal konstituieren, "erklären" wir nicht, wir "verstehen" sie vielmehr. Und eben dieses Verstehen ist es, welches den sogenannten Geisteswissen-schaften ihre methodische, von allen Naturwissenschaften unterschiedene Grundlage gibt. Erklärende Psychologie behandelt den Geist geistlos. Verstehende Psychologie aber ist Hermeneutik. ‑ Und so versteht Dilthey unter einer "beschreibenden" Psychologie im Unterschied zu einer "erklärenden" die "Darstellung der in jedem entwickelten Seelenleben des Menschen gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist." In ähnlicher Weise hat Bergson in seiner Sorbonner Dissertation von 1889, dem Essai sur les donnés immédiates de la conscience, eine Auffassung der erlebten Zeit, der "Dauer" ("durée") entwickelt, die nicht der, wie er meinte, am Modell des Raumes orientierten Zeitvorstellung der Naturwissenschaften entspricht. Die erklärende Psychologie, so Bergsons Einwand gegen ihren Anspruch, untersucht das Bewusstsein in Wahrheit nur von außen, in quantitativer und damit letztlich an räumlichen Vorstellungen orientierter Hinsicht und verfehlt daher bei der Konstruktion von Kausalzu-sammenhängen im Ablauf der psychischen Ereignisse die Struktur, in der uns die Inhalte unseres Bewusstseins unmittelbar gegeben sind. Die Weise ihrer Gegebenheit bestimmte Bergson als ein direktes Gewahren ("intuition") von Strukturzusammenhängen, die keiner Teilung fähig sind. Diese Überlegungen haben Bergson später zu sei-ner berühmten Lehre vom "élan vital", dem "Lebensdrang", geführt, der ihm in seiner Evolution créatrice von 1907 zum Schlüssel für die Entwicklung alles Lebendigen wird. Es ist diese alsbald so genannte "Lebensphilosophie", die im ersten Drittel unseres Jahrhunderts ihre Wirkung freisetzen wird, so beim jungen Martin Heidegger. Aber noch von anderer Seite erfolgt eine Absage an das Selbstverständnis der neuen Psychologie, die Nachfolgedisziplin der als vorwissenschaftlich kritisierten philosophischen Theorie der Erkenntnis und einer Phi-losophie des Geistes überhaupt zu sein. Und dies wiederum in Deutschland, nämlich durch die Ausbildung des sogenannten Neu-kantianismus, der sich in zwei Schulrichtungen, der Marburger und der Südwestdeutschen Schule entwickelt hat. Hermann Cohen, der Begründer der Marburger Schule, der übrigens als bekennender Jude große Schwierigkeiten hatte, sich zu habilitieren, hatte selbst als psychologistischer Erkenntnistheoretiker begannen. Seine Beschäftigung mit Kants Kritik der reinen Vernunft ließ ihn aber zu der Erkenntnis kommen, dass eine psychologisch‑empirische Grundlegung nicht nur der formalen Logik und Mathematik, sondern gerade auch derjenigen Erkenntnis widersinnig ist, die wir Erfahrung nennen. Cohen zog daraus den Schluß, dass eine Theorie der Erkenntnis, die der Gefahr des "Psychologismus" entgehen können sollte, jede Rücksicht auf so etwas wie ein erkennendes Subjekt methodisch ausschalten müsse. Dass dies wirklich möglich sei, ergab sich für Cohen durch eine wiederum einfache Überlegung: Sieht man sich an, was Erfahrungserkenntnis wirklich ist, so hat man auf den erreichten Forschungsstand der Wissenschaften, vorzüglich auf das "Faktum" der mathematischen Naturwissenschaften, das zugleich ein "Fieri" ist, zu blicken. Der in ihnen erreichte Forschungsstand dokumentiert sich sozusagen sedimentiert in den füh-renden Lehrbüchern der Einzelwissenschaften. Sieht man sich deren Aussagen an, so gewahrt man sofort, dass in ihnen so etwas wie die Beziehung der in ihnen formulierten Erkenntnisse auf ein erkennendes Subjekt überhaupt nicht vorkommt ‑ mit der Ausnahme natürlich einer Psychologie des Er-kennens. In jenen Aussagen ist von Naturgesetzen in mathematischer Formulierung die Rede, nicht von einem Fürwahrgehaltenwerden dieser Gesetze. Jede Rücksichtnahme auf das Subjekt des Erkennens bei der Rekonstruktion der Geltungsbedingungen der wissenschaftlichen Erkenntnis ist daher ersichtlicherweise ebenso irrelevant wie ir-reführend. So ergab sich für Cohen das Pro-gramm einer rein "objektiven", nicht "subjektiven" Begründung der Erkennntnis, und "Erkenntnis" bedeutete für die Marburger primär das System der mathematischen Na-turwissenschaften am Ausgang des 19. Jahr-hunderts. Diese Begründung aber ist Philosophie. Denn sie hat die Aufgabe, die Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften ‑ so der Titel eines Buches von Paul Natorp, dem Schüler Cohens ‑ zu untersuchen. Diese Aufgabe, so ist die Überzeugung, stellen sich die Wissenschaftler selber aber gerade nicht. Die Theorie der Erkenntnis ist eine eigenständige philosophische Disziplin, weil sie Wissenschaftstheorie, Metatheorie der Geltungsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Sie exponiert diejenigen den Sätzen der Wissenschaft zu-grundeliegenden Begriffe und Grundsätze, von deren Funktion der Geltungssinn dieser Sätze abhängt, die aber selber in diesen Sätzen nicht thematisiert werden. Sie entwickelt, wie Cohen das schon in der für sein Programm der Neubegründung der Er-kenntnistheorie maßgebenden zweiten Auflage seines Buches Kants Theorie der Erfahrung von 1885 nannte, das "Apriori der Wissenschaften" in der Form einer Kategorienlehre des wissenschaftlichen Wissens. Im Unterschied zu Kant aber verstand Co-hen unter dieser Kategorienlehre ein offenes System von Kategorien, und zwar in der Absicht, sein philosophisches Unternehmen von vornherein vor dem Vorwurf eben die-ser Wissenschaften zu schützen, es setze ihrem Fortschritt dogmatisch Barrieren. Seine von ihm ebenfalls im Anschluss an Kant sogenannte "Transzendentale Logik" mußte daher auch bereit sein, das System der Kategorien zu verändern, wenn sich her-ausstellt, dass der wissenschaftliche Fortschritt gewisse begriffliche Grundvoraussetzungen aufgibt und durch neue ersetzt. Die akademische, insbesondere die theoretische Philosophie malt freilich in jener Zeit ‑ wie eigentlich zu aller Zeit ‑ ihr farbloses Grau in Grau und vermag auf die Welt‑ und Selbstauffassung der Menschen ihrer Zeit nur schwer Einfluss zu nehmen. Nun meint aber der Begriff "Fin de siècle" noch etwas anderes, das durch das bisher Entwickelte noch gar nicht erfasst ist. Er bezeichnet auch alles Überlebte, ja Verrottete an der Wende des Jahrhunderts. Irgendetwas stimmt nicht in diesem Europa, irgendetwas läuft falsch im Fortschritt, der nach Johann Nestroys Wort ohnehin immer größer ausschaut, als er ist. Was hatte die Philosophie dazu zu sagen? Offensichtlich müßten wir uns zur Beantwortung dieser Frage an ganz andere Namen wenden als an die bisher ge-nannten. Am 25. August 1900 stirbt Friedrich Nietzsche in Weimar geisteskrank. Dieser wahrhaft europäische Denker, dem der Franzose Lichtenberger bereits 1898 eine Studie auf Französisch gewidmet hat, mit 6 Auflagen bis 1901 und alsbald ins Deutsche übersetzt ‑ um die Jahrhundertwende sollten weitere französische und italienische Studien folgen, ‑ Nietzsche also, und natürlich nicht Husserl oder Frege, Dilthey oder Cohen, war der eigentliche Beherrscher des Geisteslebens dieses fin de siècle, im pro und contra seiner Umwertung aller Werte. Er war es durch seine Absage an die bürgerliche Mo-ral und mit ihr durch seine Absage an das Christentum geworden, aber ebenso durch seine Kritik an der europäischen Gesamtkultur seiner Zeit, durch seine Skepsis gegen die Wissenschaften und den durch sie eingeleiteten Fortschritt, und nicht zuletzt durch seine Verhöhnung dessen, was sich in Europa als Psychologie gerierte. Der einzige Psychologe, von dem er etwas habe lernen können, mehr noch als von Stendhal, sei Dostojewski gewesen, schreibt er in der Götzen‑Dämmerung. Mit dem Zarathustra im Tornister werden die Jünglinge 1914 in den europäischen Bruderkampf ziehen, mit dem das Jahrhundert wirklich zu Ende geht. Vier Jahre vor seinem Ausbruch stirbt der Graf Leo Tolstoi seinen dramatischen Tod, auch er eine Art europäisches Gewissen durch seine radikale Absage an alle staatliche Autorität, an Kirche und Gesellschaft seiner Zeit, durch seinen Kulturnihilismus und sein eigentümliches Urchristentum, ein Weiser, zu dem die Welt pilgert. Schließlich Karl Marx und Friedrich Engels. 1880 er-scheint in Paris auf Französisch Engels So-cialisme utopique et Socialisme scientifique. Wissenschaftlicher Sozialismus: das heißt nach Marxens Auffassung der Geschichte als Geschichte von ökonomisch erzeugten Klassenkämpfen nichts anderes als Exposition des gesetzmäßig‑notwendigen Verlaufs der Geschichte zum Sozialismus hin, ‑ be-weisbar, nicht spekulativ entworfen, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt. Die bürgerliche Gesellschaft ‑ eben auch und gerade die des Fin de siècle ‑ muss, so die nur zu bekannte These, an der Logik ihres Grundwiderspruchs von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung scheitern. Es ist dieser mit Mitteln der Hegelschen Dialektik konstruierte Widerspruch, der mit Notwendigkeit über sich hinaustreibt zur Überführung der Produktionsmittel in öffentliches Eigentum und zur Kontrolle der Produktion durch die Produzenten. Diese weltbefreiende Tat, dieser "Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" ist die geschichtliche Aufgabe des Proletariats. Das hat sich gewiss hören lassen. Denn nun sind die Entrechteten selber, so ist ihnen gesagt, das Movens der Weltgeschichte; und das proletarische Klassenbewusstsein zu entwickeln heißt, eben dieses Wissen in das des Arbeiters Eingang finden zu lassen. Auch dies war, wie wir am Ende dieses unseres Jahrhunderts wissen, Utopie. So, wie sich die idealistische Option für die Durchsichtigkeit, mit der sich unser Bewusstsein im Phänomen des Selbstbewusstseins gegeben sein und darin seine intrinsische Autonomie gewahren soll, bereits im Jahre 1900 als Utopie zu erkennen gibt. Denn in eben diesem Jahre erscheint Freuds Traumdeutung, das die Psychoanalyse begründende Werk. Es gibt immer einen anderen, dem Träumenden verborgenen, Sinn im manifesten Sinn oder Unsinn des Traums. Es gibt immer einen anderen Sinn, so kann auch gesagt werden, als das, was uns als Sinn präsent ist. Es scheint, dass das Fin de Siècle erstmals und auf ir-reversible Weise diese Erfahrung gemacht hat. Ob es Philosophie gewesen ist, die sol-che Erfahrung vermittelt hat oder etwas an-deres, darauf kommt es am Ende nicht an.
UNSER AUTOR: Konrad Cramer ist Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie an der Universität Göttingen und ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
Gekürzte Fassung eines Abendvortrages, der im Rahmen einer im Wintersemester 1998/99 vom Prä-sidenten der Georg-August-Universität und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen veranstalteten öffentlichen Ringvorlesung gehalten wurde. Die ungekürzte Fassung erscheint im Herbst 1999 in: "Europäische Jahrhundertwende. Wissenschaften, Literatur und Kunst um 1900". Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hrsg. von Ulrich Mölk, Wallstein-Verlag, Göttingen 1999. |