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ESSAY

Seebaß, Gottfried: Was heißt, sich im Wollen orientieren?

Gottfried Seebaß:

Was heißt, sich im

Wollen orientieren?

 Mein Titel variiert den Titel des Auf­satzes "Was heißt: Sich im Denken orientieren?", in dem Kant die These vertritt, dass unser Denken genau dann einer "Orien­tierung" bedarf, wenn es sich auf Bereiche er­streckt, die jenseits des Wissbaren liegen, bei denen es aber nicht möglich ist, Urteils­enthaltung zu üben, weil ein "Bedürf­nis der Vernunft" zum Urtei­len treibt. Ein "Orien­tierungs­wis­sen" also ist für Kant begrifflich aus­ge­schlossen. Aller­dings legt er seinen spe­ziellen, erfahrungsgebundenen Wissens­be­griff zugrunde. Außerdem hat Kant em­pha­tisch betont, dass der Maßstab der "Orien-tierung" nur in der Vernunft selbst liegen kann und dass ihr Resultat dem Wis­sen in-soweit ähnlich ist, als es mit diesem zwar nicht die "Gewissheit", wohl aber die "Fe-stigkeit" und das "Bewusstsein seiner Un­veränder­lichkeit" teilt. Ich übertrage im folgenden Kants Frage nach der "Orientie­rung im Denken" in sinn­gemäß modifi­zier­ter Form auf das Wol­len.

 Willensbildung und theoretisches Wissen

Die Rede vom "Orientieren" hat metapho­rische Wurzeln. Exemplarisch sind Situatio­nen, in denen ein Wanderer oder Schiffer die Orientierung verloren hat und deshalb hilflos umher­irrt. Ein Kompass kann ihn darüber unterrichten, wo Orient und Okzi­dent liegen. Aber das allein hilft ihm nicht weiter. Er muss auch über eine verlässliche Karte oder entsprechende räumliche Vor­stel­lung von seiner Umgebung verfügen und wissen, wo er sich gerade befin­det. Mit diesen Informationen ist er theoretisch hin­reichend orientiert, d.h. er kennt alle ihn interessierenden Fakten. Normalerweise hilft ihm das, aber natürlich nur, wenn er weiß, wo er hin will. Weiß er es nicht, bleibt er praktisch desorientiert. Denn weil er nicht weiß, was er will, weiß er auch nicht, was er tun soll, und wird deshalb genauso ratlos umherirren oder am Fleck verharren wie zu-vor. Wenn er aus dieser Lage herauskom­men will, muss er praktische Überlegungen anstellen, die eine doppelte Orientierungs­funkti­on für ihn erfüllen: sie dienen zu­nächst der Willensbil­dung und bereiten über diese den nachfol­genden Entschluss zum willensgemäßen Handeln vor.

 In einfachen Fällen sind beide Schritte kaum voneinander zu trennen. Aber auch hier ist die Willens­bildung sachlich das Erste. Ihr speziell dient die "Orientierung im Wollen". Und die Frage ist nun, was dies ge­nau beinhaltet und ob es gerechtfertigt ist, auch hier (ähnlich wie bei rein theoreti­schen, faktenbezogenen Überlegungen und Erkun­dungen) von einem Erwerb von Wis­sen zu spre­chen.

 Zu einem bedeutenden Teil zumindest hängt auch unsere Willensbildung von er­worbe­nem Wissen ab. Denn sie bedarf der Kennt­nis von Fakten. Dabei geht es zu­nächst um mögliche Willensinhalte. Wenn ich nicht weiß, welche Speisen ein Restau­rant anbie­tet oder welche Sehenswürdig­keiten in einer fremden Stadt zu besichtigen sind, kann ich mir auch nicht darüber klar werden, ob oder welche von ihnen ich vielleicht essen oder besichtigen will.

Sodann dienen willensbildende Überlegun­gen dazu, herauszufinden, ob oder unter wel­chen Bedingungen mögliche Willensin­halte realisierbar sind. Dabei wird häufig nur an die Erkenntnis von Mitteln gedacht, die man einsetzen kann oder muß, um be­stimmte Inhalte als Zweck zu erreichen. Natürlich bilden diese einen besonders wichtigen Teil. Aber es wäre mehr als kurz­sichtig, seine Willensbildung nicht auch auf die Kenntnis der Folgen und Ne­ben­folgen zu stützen. Die blind euphorische Entschei­dung der Industriestaaten, ihre Ener­giepro­bleme durch expansive Nutzung der Kern­energie zu lösen, ohne sich um die Entsor­gung des strahlenden Mülls zu küm­mern, liefert dafür das wohl verhängnisvoll­ste Negativ­beispiel. Alle realisierbaren Willens­inhalte sind vielfaltig eingebettet in ein komplexes Netz von Bedingungen, ohne die sie nicht zu verwirklichen sind. Nur diese Komplexe, nicht die isolierten Ein­zelinhalte, bilden die "Optionen", zwischen denen man realistisch wählen kann. Und da die Anzahl der Folgen, Nebenfolgen und Mittelglieder zwischen primärer Handlung und gewolltem Erfolg prin­zipiell unü­ber­schaubar ist, stoßen wir hier bereits auf einen Bereich, der die Grenzen unserer Erfahrung sprengt. Dieser Tatsache muss man Rechnung tragen, auch wenn viele Theoretiker sie verdrängen. Die weit ver­brei­tete, aber konzeptionell verwirr­te Entge­gensetzung von "Gesinnungs‑" und "Verant­wor­tungsethik", "deontologischen" und "konsequentialistischen" Moraltheorien belegt das.

 Das Netz der Bedingungen, die Optionen konstituieren, wird keineswegs nur durch kau­sale oder naturgesetzliche Relationen geknüpft, sondern auch durch diverse ande­re, z. B. geltende soziale Regeln. Deshalb müssen sich realistische willensbildende Überlegungen auch an Normen und Werten orientieren. Obwohl diese selbst nicht de­skriptiv sind, sondern präskriptiv, stellt ihre Ermittlung eine theoretische Aufgabe dar, deren Ergebnis "Wissen" ist. Das deutsche Strafrecht bringt das korrekt zum Ausdruck, wenn es außer vom "Tatbe­standsirrtum" auch vom "Verbotsirrtum" spricht. Objekt des Wissens oder Nichtwissens ist ja nicht das Verbot als solches, sondern die Tatsa­che, dass es in Kraft ist und erfüllungsab­hängige Konsequenzen hat.

Insoweit also ist die Rede von einem "Orientierungswissen" auch mit Bezug auf die Ori­entierung im Wollen verständlich. Allerdings darf man zwei Dinge nicht aus den Augen verlieren. Erstens ist dieses "Wissen" ausschließlich theoretisches Wis­sen, das in einem sicheren Urteil darüber besteht, was ist, einschließlich faktisch erhobener Sollensansprüche. Zweitens ist es durchweg begrenzt, erstreckt sich also nie­mals auf alles, was Gegenstand unseres Wollens werden kann.

Spezifisch praktisches Wissen?

Theor­etisches Wissen ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine realistische Wil­lensbil­dung. Dass eine bestimmte Norm in einer Gesellschaft gültig ist, kann man als distan­zierter Beobachter auch feststellen, ohne sich selbst durch sie verpflichtet zu fühlen. Und wenn man sich verpflichtet fühlt, heißt das nicht unbedingt, dass man will, was die Norm fordert. Im Gegenteil, es gehört zum Sinn normati­ver Verhaltenssteu­erung, dass sie dem Adressaten die Freiheit lässt, sich für oder gegen sie zu entschei­den.

Noch deutlicher ist die Distanz bei nichtnor­mativen Fakten. Auch wenn ich weiß, wel­che Speisen ich realistischerweise ordern oder welche Sehenswürdigkeiten ich auf welchem Wege ansteuern kann, ist meine Willensbildung damit nicht abge­schlossen. In gewissem Sinne beginnt sie sogar jetzt erst. Denn der entscheidende Schritt wird durch die Optionenermittlung nur vor­be-reitet. Theoretisches Wissen be­zieht sich eben nur auf das, was ist, Wollen aber auf etwas, das (in den Augen des Wollenden) sein soll.

"Wollen" ist mehr als bloßes Wünschen, enthält aber Wünschen als begrifflichen Kern. Und dieses "Wünschen" ist seiner­seits im Kern nichts anderes als eine optativi- sche Stellungnahme, mit der der Anspruch erhoben wird, etwas möge der Fall sein. Etwas zu wollen heißt primär, etwas be­wusst zu wünschen und eben damit den Anspruch zu erheben, dass es sein soll, nicht jedoch, zu behaupten, dass es so ist.

Gewiss, es gibt Fälle von Sollensansprü­chen, die wir zugleich als erfüllt erkennen, z. B. wenn etwas so gekommen ist, wie wir wollten und weiterhin wollen. Doch über­all, wo es nicht so ist, reicht unser Wille zwar nicht unbedingt über alles Erfahrbare, wohl aber über unsere Erfahrung hinaus. Damit jedoch wird die Vorstellung von der "Orien­tierung im Wollen" als Wissenser­werb in doppelter Hinsicht fragwürdig. Zweifelhaft ist sie nicht nur im Blick auf den Schritt von der bloßen Optionener­kenntnis zur Aus-bildung eines be­stimmten Wollens. Zweifel­haft ist sie auch für den Zustand des Wol­lens selbst. Denn macht es Sinn, eine nicht as­sertori­sche, rein optativi­sche Einstel­lung als "Wis­sen" anzuspre­chen?

 Nun, es gibt etablierte Redeformen, die zweifellos nichtassertorisch sind. Eine davon ist die Rede vom "Wissen wie". Doch sie kann unser Problem nicht lösen. Denn einer­seits ist dieses meist auch mit assertori­schem "Wissen dass" verbunden. Anderer­seits lassen sich nur bestimmte, relativ simple Formen des Schrittes vom Wollen des Zwecks zum Wollen und Er­greifen des Mittels als Fälle von "Wissen wie" verste­hen, nicht aber andere Arten der Willensbil­dung, geschweige denn das Wol­len selbst. Nur eine andere nichtassertori­sehe Redeform könnte uns weiterhelfen.

Von Menschen, die in ihrem Wollen desori­entiert sind, sagen wir auch, sie "wüssten nicht, was sie wollen ", von Menschen, die orientiert sind, sie "wüssten es". Was aber heißt das? Zunächst wohl nur, dass sie sich ihres Willens bewusst sind, unterschieden von Zustän­den des unbewussten, verdräng­ten oder nur halb bewussten Wollens. Dann aber kann es auch heißen, dass ihre Wil­lensbil­dung beendet ist und sie zu einem bestimm­ten, festen Wollen gekommen sind. In die­sem Sinne von "Wissen" ist die Beschrei­bung des Willensbildungs­prozesses als Wissenserwerb offenbar unanfechtbar. Aller­dings scheint das ein Sinn zu sein, der sich vom theoretischen, faktenbezogenen Wissen fundamental unterscheidet.

Oder verbirgt sich hinter der schein­bar anders gearteten Rede davon, dass je­mand "weiß, was er will", vielleicht nur die Ein­sicht, dass auch die "Orientierung im Wol­len" sich letzt­lich theoretischem Wissen verdankt, wenn auch eines Wissens, das anderer Art ist als die bloße Optionen­kenntnis?

Ergebnisoffene und nicht ergebnisoffene Überlegungen

Manchmal bildet sich unser Wollen blitzar­tig oder überfallartig. Ein plötzlicher Schmerz, eine plötzlich auftauchende Ge­fahr erregen sofort den Willen in uns, dem zu entkommen. Oder ein Objekt, auf das wir beim Stöbern in einer Kunsthandlung stoßen, entringt uns den Ausruf: "Das will ich!". Doch das sind eher seltene Fälle. Im allgemeinen bedarf es zur Überwindung von Zuständen anfänglicher volitionaler Des­orientiertheit eines gewissen Maßes an Überlegung, die zuerst darauf zielt, uns über unser Wol­len klar zu werden.

Auseinanderzuhalten sind zwei Formen wil-lensbildender Überle­gungen: er­gebnisoffene und nicht ergebnisoffene. Letztere zeichnen sich da­durch aus, dass das, was der Über­legende will, schon am Beginn seiner Uber­legungen feststeht. Warum aber überlegt er dann noch? Nun, einiges ist auch hier zu­nächst unklar. Auch wer schon weiß, was er will, muss das Ge­schäft der Op­tionenermitt­lung betreiben. Denn er muss nicht nur feststellen, wie er das Ge­wollte realisieren kann, son­dern auch und vor allem, ob unter den relevanten Mitteln, Folgen und Neben­folgen einige sind, die sich mit etwas, das er eben­falls und viel­leicht stärker will, nicht verein­baren lassen. Außerdem ist uns bei­leibe nicht alles, was wir wollen, immer prä­sent, sondern muss erst bewusst gemacht werden. Dazu ist das Durchdenken der Bedingun­gen, in die ein bestimmter Wil­lens­inhalt optional einge­bettet ist, eines der wichtigsten heuri­stischen Hilfsmittel. Aber natürlich kann man auch direkt auf seine komplexere Wil­lenslage reflektieren oder andere Hilfen in Anspruch nehmen, bis hin zur extensiven psycho­analyti­schen Therapie.

Wenn wir nun anneh­men, dass es bei all dem nur um die Auf­deckung von etwas geht, das bereits da ist, und dass das Resul­tat durch die ebenfalls schon vorhandenen Präferenzen zwischen den einzelnen Wil­lensinhalten eindeutig festgelegt ist, müssen wir sagen, dass der gesamte Überlegungs­prozess, was das Wol­len betrifft, von vorne­herein nicht ergeb­nisoffen war. Klärungsbe­dürftig war hier nur, was alles man immer schon wollte und jeweils in welchem Maß. Und die Beantwor­tung dieser Frage ist of-fenbar ebenso eine Sache des theoreti­schen Wis­senserwerbs wie die rein theoreti­sche Op­tionenermittlung.

Noch ein anderer Aspekt nicht ergebnisof­fener Überlegungen muss erwähnt werden. Auch eine Person, die "weiß, was sie will", weiß nicht immer, warum. Sie "orientiert sich im Wollen", indem sie die Gründe ermittelt, die ihm vorausliegen. Unter der Annahme, dass auch diese Gründe bereits

bestehen und nur noch aufgedeckt werden müssen, läuft auch dieser Orien­tierungspro­zess auf ein volitio­nal nicht mehr ergebnis­of­fenes Überlegen hinaus, das durch theore­ti­schen Wissenserwerb beendet wird.

Im Unterschied dazu sind ergebnisoffene Überlegungen solche, bei denen die ent­schei­dende optativische Stellungnahme erst noch erfolgen muss und durch willensbil­den­des Überlegen ermöglicht wird. Wird hier nach relevanten Gründen gefragt, so geht es immer um rationale Gründe, und es steht nicht von vorneherein fest, welche von ihnen den Aus­schlag geben. Die über­legen-de Person will sich ihrer theoretisch ver­sichern, um danach in optativischer, nichtas­sertorischer Form zu ihnen Stellung zu neh-men. Entsprechendes gilt für die Op­tionen­ermittlung und die Vergewisserung über die zunächst verdeck­te, komplexe Vielfalt des eigenen Wollens. Auch hier dient die theo­retische Wissenser­weiterung nicht dazu, neugierig in Erfahrung zu brin­gen, was eigentlich längst vorent­schieden ist, sondern den Spielraum der faktischen und volitiven Möglichkeiten kennenzuler­nen, die man be-sitzt, um darauf­hin Stellung zu nehmen.

 

Vorzüge mangelnder Ergebnisoffen­heit

 

Wenn feststeht, was die Individuen wollen und wie ihre real unvereinbaren Willens­inhalte präferentiell geordnet sind, wird der Prozess ihrer "Ori­entierung im Wollen" be-re­chenbar. Man kann versuchen, Logiken des praktischen Uberle­gens zu formulieren, mit Hilfe derer sich, angewandt auf be­stimmte epistemische und voliti­ve Prämis­sen, rationale Empfehlungen zum Wollen und Handeln ableiten lassen. Soweit die Betreffenden rational sind, werden sie sich entsprechend verhalten. Und überall, wo sie es nicht sind, kann man versuchen, die Gründe für ihr Abweichen vom ratio­nalen Ideal aufzu­decken und ihr Verhalten dar­über wieder berechenbar machen. Soziale Koor­dinations‑ und Integrationsprobleme z. B. könnten auf diesem Wege lösbar werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Varian­ten des nicht ergebnisoffenen Über­legungs­modells vor allem für Psychologen, Sozial­wissenschaftler und Ökonomen, aber auch für viele Philosophen attrak­tiv sind.

Wichtig erscheint das Modell aber auch außerhalb des sozialen Kontexts. Denn zwei Funktionen, die auch für Individuen essen­tiell sind, können offenbar nur durch die man­gelnde Offenheit praktischer Überlegun­gen sichergestellt werden. Erstens erfüllt sie eine Entlastungsfunktion. Würden wir etwa bei jedem Schritt, den wir tun, neu dazu Stellung beziehen müssen, ob oder welche der uns verfügbaren Optionen wir wollen, würden wir alsbald handlungsunfähig. Außerdem hätten wir ständig neu zu ent­scheiden, ob wir die Optionener­mittlung abbrechen oder noch weiter vorantreiben. Permanentes Infragestellen aber hindert uns eher, als dass es uns hilft. Neuere motiva- tionspsychologische Untersuchungen zeigen vielmehr, dass sich ein großer Teil un­seres All­tagslebens sogar völlig habi­tualisiert und automati­siert vollzieht.

Zweitens dient fehlende volitionale Offen­heit einer umfassenden, einheitlichen Le­bens­orientierung. Wer sich nicht länger orientieren muss, sondern weiß, was er will, weiß damit in gewissem Sinn auch erst, wer er ist. Durch sein fixiertes Wollen gewinnt er Selbstidenti­tät, Selbstsicherheit und inne­re Freiheit. Dass dies so ist und wie man dahin gelangen kann, ist ein altes Thema unserer Geistesgeschichte. Im Aristoteli­schen Konzept eines "tugendhaft festen Charak­ters" lässt es sich ebenso ausmachen wie im Stoischen Gedanken der "Atara­xie" oder der jüdisch‑christlichen Vorstellung vom Men­schen, der erst in der vollständigen Bindung des Willens an Gott sein wahres Selbst gewinnt. In der neueren Literatur ist es vor allem Harry Frankfurt gewesen, der den kon­stitu­tiven Zusammenhang zwi­schen Selbstsein und Vergewisserung über das eigene Wollen herausgestellt hat, bis hin zu der Behaup­tung, dass bestimmte Formen "volitionaler Notwen­digkeit" kriteriell dafür seien, was uns als Personen ausmacht-

Dies mag dahingestellt bleiben, klar ist jedoch,­ dass beide erwähnte Funktionen keinen Beweis dafür liefern, dass volitional ergeb­nisoffene Überlegungen keinerlei An-teil an unserer "Orientierung im Wollen" haben. Gewiss, lebens­bestimmend können auch Willensinhalte sein, die uns genetisch, tradi­tional oder individuell sozialisatorisch vor­gegeben sind. Ebenso signifikant aber sind Situationen, in denen ein Mensch sich be­wusst für eine bestimmte Lebensori­entie­rung entscheidet, z. B. für ein morali­sches, reli­giöses oder politisches Ideal oder auch nur für den eigenen Beruf oder das Leben mit einem Partner. Noch deutlicher ist das bei der Entlastungsfunktion. Dass wir be­stimmte Arbeitsabläufe oder längere Hand­lungs­sequenzen unreflektiert oder völlig automati­siert ausführen, schließt die be­wusste, über­legte Entschei­dung für sie nicht aus. Ja, sie beruht im Normalfall auf einer solchen, ohne dass feststünde, dass daran keine ergeb­nisoffenen Überlegungen betei­ligt sind. Und das Interesse von Wis­sen­schaftlern an be­rechenbaren, präferentiell geordneten Wunsch‑ und Willenshaltungen ist allemal kein Beweis, dass die mensch­liche Wirklichkeit dem entspricht. Wenn man Willens­bildungsprozesse durch spezi­fisch praktische, ergebnisoffene Überlegun­gen generell aus­schließen will, muss man stär­kere Argumente dafür ins Feld führen. Welche könnten dies sein?

Unzureichende Argumente für mangelnde Ergebnisoffenheit

Das historisch einflussreichste Argument wird meist auf Aristoteles, teils auch auf Hume zurückgeführt und besagt, dass prak­tische Überlegungen prinzipiell zweckratio­nale sind. Doch in dieser unqualifizier­ten Form ist die Behauptung keinesfalls haltbar. Wenigstens zwei Ergänzungen muss man vornehmen. Man muss neben den Mitteln auch die Folgen und Nebenfol­gen berück­sich­tigen und auch jene Überlegun­gen ein­beziehen, die der Ver­gewisserung über die eigenen Zwecke die­nen. Auch mit diesen Ergänzun­gen jedoch ist die These unhaltbar.

Auch bei hochrangigen Zwecken, die An­spruch darauf erheben können, Orientierun­gen für das gesamte Leben zu sein, kann man nicht ausschließen, dass mehrere gleich­gewichtig nebeneinanderstehen. Präfe­ren­tielle Eindeutigkeit wäre hier prin­zipiell nur zu gewährleisten, wenn man annehmen könnte, dass es einen und nur einen ober­sten Zweck gibt, dem alle anderen sich ra-tional fügen. Das hat man immer wieder zu zeigen versucht. Doch weder das Aristoteli­sche Streben nach einem bios theoretikos noch das Freudianische "Lust­prinzip" oder das "unruhige Herz" des Augu­stinus, das erst in Gott seine Ruhe findet, sind sehr plausible Kandidaten für einen obersten Zweck, den alle Menschen verfol­gen. Nicht einmal das Streben nach Selbst­erhaltung, Hobbes' Uni­versalprinzip, kann uneinge­schränkt An­spruch darauf erheben, wie eine Vielzahl von Selbsttötungen und lebensge­fähr­lichen Unternehmungen zeigt.

Auch bei zweckrationalen Überlegungen kehren all diese Probleme wieder­. Es lässt sich eben nicht ausschließen, sondern ist im Gegenteil ubiquitäre Alltags­er­fahrung, dass mehrere gleichgute Mittel verfügbar sind, dass vorhandene Gütedif­ferenzen durch die Realisierungswahrschein­lichkeiten aufgewo­gen werden oder dass ein präferentiel­les Übergewicht durch die "Kosten" bei Folgen und Nebenfolgen kon­terkariert wird.

Anerkennt man Entscheidungen bei präfe­rentiellem Gleichgewicht, kann man sagen, dass diese nicht in Abhängigkeit von ratio­na­len, volitional ergebnisoffe­nen Über­legun­gen fallen, son­dern durch Zufall. Das ist die klassische Lösung für Wahlsi­tuatio­nen nach dem Mo­dell von "Buridans Esel". Aber ist sie die einzig mögliche und beweist sie, was sie beweisen soll? Das bloße Abwarten und Nichtstun hat selten den Sinn, das Ergebnis (wie man so sagt) "dem Zufall zu überlas­sen". Meist ist es eine Entscheidung für eine der Alternativen, nur eben durch Unterlas­sen. Man braucht schon die Intervention eines Zufallsgenerators, z. B. eine gewor­fene Münze. Doch wenn diese gefallen ist, steht man immer noch vor der Entschei­dung, ob man dem Orakel nun weiterhin folgen soll oder nicht. Und auch wenn der Zufallsgene­rator unmittelbar wirk­sam wird, bleibt die Entschei­dung für das Verfahren als solches. Die klassische Lö­sung unter­stellt hier die Existenz eines übergeordneten Wollens, z.B. den Wunsch eines anthropo­morphen Esels, nicht zu verhun­gern, egal auf wel­chem konkreten Wege. Doch das läuft wieder auf jenes Postulat vorgege­bener Zwecke hinaus, das wir nicht akzeptieren können. Außerdem muss man sich ja selbst dann für den Einsatz des Zufalls als Mittel entscheiden. Und ist es so klar, dass dieser Ent­scheidung keine anfänglich ergebnisoffe­ne Überlegung vor­ausgeht?

Optional willensbildende Überlegungen

Diese Frage zwingt uns, unser Pro­blem noch etwas tiefer anzusetzen. An­genommen, willensbildende Über­legungen träten tat­säch­lich nur in der Form auf, dass ein vor­han­denes Wollen durch die theoretische Optio-n­enermittlung ergänzt wird. Wie genau voll­zieht sich dann der Schritt zu einem subor­dinierten Wollen, also z. B. beim zweck­rationalen Schließen? Handelt es sich um einen regelgeleiteten Akt oder handelt es sich um eine Art psycholo­gi­schen Automa­tismus? Und was genau ist das Produkt von prakti­schen Überlegungen dieses Typs? Ist es die zweckgerichtete Handlung selbst, der Wille, sie auszuführen, oder zunächst nur der Wille, den Willen zur Ausführung aus­zubil­den?

In einfachen Fällen kann das Modell des psychologischen Automatismus ausreichen, auch in der Form des direkten Eintritts ins Handeln. Man denke etwa an Situationen wie das Aufdrehen eines Wasserhahns, um Wasser fließen zu lassen oder das Sich­Kratzen am Kopf, um einen Juckreiz abzu­stellen. Aller­dings liegen solche Beispiele nah bei Fällen, in denen man zweifeln kann, ob wir es überhaupt mit zweckrationalem Handeln zu tun haben und nicht nur mit einem habituie­rten Reflex. Auch die Ausbil­dung des Wil­lens zum Ergreifen eines be­stimmten Mittels kann manchmal auto­ma­tisch erfolgen, z. B. beim Suchen nach einem Stift zum Schrei­ben oder beim Än­dern der eigenen Gehrich­tung, um einem anderen auszuweichen. Anhänger Humes oder anderer Empiristen tendieren dazu, auch komplexere Willensbil­dungspro­zesse nach diesem Muster zu deu­ten. Man­che Entscheidungstheoretiker gehen sogar so­weit, überlegungsabhängige soziale Koor­dinationsprozesse durch Com­puterprogram­me zu simulieren und das staunende Publi­kum mit bunten Grafiken von ihrem Verlauf zu erfreuen. Allerdings passt das Sche­ma des psychologischen Auto­matismus dort, wo die willensbildenden Überlegun­gen etwas kom­plexer und aus­gedehnter sind, meist nicht zu unseren Erfahrungen.

Besonders klar ist das beim Übergang direkt zum Handeln. Bei Aristoteles etwa werden als Beispiele für praktisches Schließen auch Gedankengänge wie diese angeführt: "Ich will ein gesunder Mensch sein. ‑ Spazieren­gehen ist gesund. ‑ Schon gehe ich." Das ist natür­lich gro­tesk. Kein vernünftiger Mensch wird so schließen.

Normale Überlegungen verlaufen doch viel-mehr so: Wenn wir erkennen, dass ein ge­wollter Sachverhalt "p" nur zusammen mit "q" zu verwirklichen ist, haben wir zwar das Bewusstsein, dass wir (gemessen an den Regeln für eine realistische Willens­bildung) "q" ebenfalls wollen sollten, wenn wir am Wollen von "p" weiterhin festhalten und andere Op­tionen nicht gegeben sind. Aber weil wir uns zunächst unsicher sind, ob wir die Optionen­errmittlung schon weit genug vorangetrieben haben und weil wir uns erst einmal klar dar­über werden müs­sen, wie wir zu "p" und mit ihm eventuell konkurrieren­den anderen Wil­lensinhalten stehen, werden wir vernünftigerweise nicht sogleich zum Wollen von "q" (oder gar dessen Realisie­rung) übergehen, sondern weitere Überle­gungen anstellen. Erst nach­dem wir ab­schließend Stellung bezogen haben, ergibt sich daraus ein rationales, optional spezifi­ziertes Wollen und (eventu­elles) Handeln.

Und selbst dann ist die Umsetzung des Ergebnis­ses ein Schritt, der nicht immer vollzogen wird. Auch wenn wir als "volitiv Orientierte" keinerlei Zweifel mehr haben, dass wir mit dem Rauchen aufhören oder bittere Medizin schlucken sollten, heißt das eben nicht unbedingt, dass wir den Willen dazu auch haben, geschweige denn danach handeln. Und selbst hier erscheint die pau­schale Rede von "prakti­scher Irrationalität" unangebracht oder weltfremd. Denkbar ist allenfalls, dass wir als ratio­nale Wesen nicht umhin können, den Willen, diese Mittel zu wollen, auszubilden und dann vielleicht nach Wegen zu suchen, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Signifikanz höherstufigen Wollens

Könnte diese letztere Möglichkeit aber nicht ausreichen, um den prinzipiell nicht ergeb­nis­offenen Charakter praktischer Überlegun­gen zu retten? Man könnte fol­gendermaßen argumentieren. Präferentielles Gleich­gewicht zwischen gewollten Optionen ist zwar nicht aus­zuschließen, lässt sich aber durch Einsatz von Zufallsgeneratoren als Mittel zu über­geordneten Zwecken auflösen. Alle Mittel gehören zu den Optionen und müssen wie diese gewollt werden. Unter gewissen Um­ständen geschieht das automa­tisch. In kom­plexeren Fällen treten wir in regelgeleitete Überlegungen ein, die volitio­nal zunächst ergebnisoffen sind. Sie enden jedoch, ver­nünftig durchgeführt, immer in einem Wol­len ‑ zwar keinem konkreten, handlungsbe­zogenen Wollen erster Stufe, wohl aber in einem entsprechenden Wollen zweiter. Da-nach hören die Überlegungen auf. Wenn jetzt noch etwas offen ist, seien es Fragen der Handlungsmotivation oder der weiteren Wil­lensentwicklung, kann die Entscheidung nicht mehr überlegt fallen, sondern nur in Abhän­gigkeit von anderen Faktoren. Folg­lich sind willensbildende Überlegungen prinzipiell nicht ergebnisoffen.

Dieses Argument hat mehrere Schwachstel­len. Wird zwischen gleichgewichtigen Op­tio­nen nur per Zufall entschieden? Und vor allem: Zwingt die Einbeziehung der Folgen und Nebenfolgen nicht auch dazu, Zwecke zu problematisieren, einschließlich der bis­lang unbe­strittenen und höchstpräferen­zier­ten? Wenn der Rekurs auf das höher­stufige Wollen etwas zugunsten der Nichter­gebnis­offenheit ausrichten kann, muss es sich auch und vor allem bei der Zwecksetzung bewäh­ren. Wie also steht es damit?

Philosophen wie Hobbes, Locke, Edwards, Herbart, Schopenhauer, Ryle und viele ande­re haben geltend gemacht, dass die Rede von einem "Wollen des Wollens" un-sinnig sei, da sie in einen Regress führe. Ein Re­gress entsteht frei­lich nur dann, wenn zu­gleich der Anspruch erhoben wird, das Wil­lensfreiheitsproblem damit komplett zu lösen. Das Phänomen selbst kann man schwerlich bestreiten. Und natür­lich hat es auch Sinn, auf der zweiten Reflexionsstufe zu fragen, ob man frei ist, den Willen zu haben, den man haben will. Fraglich kann nur sein, an wel­chen Stellen optativische Einstellungen zweiter oder höherer Stufe auftreten und welche Rolle sie in prakti­schen Überlegun­gen spielen.

Um diese Fragen beantworten zu können, muss man zwei wichtige Unterscheidungen treffen. Erstens stellt sich die Frage, worauf sich das höherstufige Wünschen und Wollen richtet: Geht es tatsächlich um die Existenz des nächstniedrigeren Wünschens und Wol­lens? Oder geht es lediglich darum, die Motiva­tionskraft und eventuelle Hand­lungs­wirksamkeit einer optativischen Ein­stellung, die bereits vorliegt, zu ändern oder zu be­kräftigen? Zweitens sollte man positive und negative Varianten tren­nen: Geht es darum, dass eine bestimmte Einstellung erst aus­gebildet bzw. motivational verstärkt wird? Oder soll eine bestehende Einstellung abge­schafft bzw. motivational abge­schwächt werden, so dass sie z. B. nicht mehr zum Handeln führt? Je nachdem, welchen Fall man ins Auge faßt, ändert sich auch die Signifikanz der Höherstufigkeit.

Optativische Stellungnah­men zur Motivatio­nalität schon bestehender Wünsche und Willensregungen sind keine Seltenheit. Sie treten so gut wie immer auf, wenn wir uns reflexiv fragen, was wir als nächstes oder langfristig tun sollen. Nachfol­gende Hand­lungsentschlüsse sind von ihnen getragen. In vielen Fällen folgt die ge­wünschte Motiva­tionsänderung oder ‑be­kräftigung pro­blem­los und in der Form eines "psychologi­schen Automatismus". In man­chen Fällen folgt sie dagegen nicht. Wir alle erfahren das leid­voll, wenn uns ungewollt eine bos­hafte Bemerkung entschlüpft, wenn wir ein Laster nicht ab­stellen oder uns nicht dazu aufraffen können, etwas Gewolltes und reflexiv hoch Präferen­ziertes konsequent umzusetzen. Aber auch in diesen Fällen ist die Überle­gung mit der Ausbildung der höherstufigen Einstellungen ­beendet. Ob es dann zum Erfolg kommt oder nicht, ist Sache anderer Fak­toren. Unsere Freiheit ist eben, auch mit Bezug auf die eigene Moti­vationa­lität, ein­geschränkt.

Ähnlich verhält es sich bei der Negativ­variante der existenzbezogenen höherstufi­gen Einstellungen. Wünsche und Wil­lensre-gungen, die uns hartnäckig verfolgen, kön­nen wir zumeist nicht einfach durch unseren reflektierten, gegenteiligen Willen abschaf­fen oder auch nur aus dem Bewusst­sein ver-drängen. Allenfalls können wir uns (frei­lich mit durchaus offenem Erfolg) für den Ein­satz selbstmanipulativer Mittel ent­schei­den. Glücklicherweise sind Negativfälle wie die-se im Alltag relativ selten. Wenn sie auftre­ten, erlangen sie aller­dings ‑ unglück­licher­weise ‑ oft ein sehr hohes Gewicht.

Die korrespondierende Positivvariante ist ebenso hochgewichtig und selten. Doch liegt das nun, anders als bei den Negativfäl­len, keineswegs daran, dass wir so selten Gele­genheit hätten, Wünsche und Willensre­gun­gen, die wir noch nicht haben, auszubil­den. Ganz im Gegenteil. In diese Lage kommen wir ständig, nicht nur bei der op-tionalen Willensbildung, sondern auch bei der Zwecksetzung. Nur spielen höherstufige Einstellungen dabei eine weit geringere Rolle. Normalerweise genügt es, mögliche Gegenstände des Wollens oder Wün­schens zu erfassen, um direkt optativisch zu ihnen Stellung zu nehmen oder indifferent zu bleiben. Nur wenn Zweifel entstehen, etwa weil der betreffende Gegenstand sogleich als unvereinbar mit anderen (faktischen oder möglichen) Willensinhalten erkannt wird, kann der Schritt in die nächsthöhere Refle­xionsstufe naheliegen, muss es aber auch nicht in jedem Fall.

Der Rekurs aufs höherstufige Wollen ist also kein universelles Hilfsmittel bei der Analy­se der Willensbildung. Auch bei der Zwecksetzung und der Wahl zwischen mög-lichen Zwecken haben wir mit Fällen der direkten, nicht reflexiv vermittelten optativi­schen Stel­lungnahme zu rechnen, wie sie ähnlich auch bei der Wahl zwischen gleich­gewichtigen Mit­teln vorkommt.

Außerdem stellt sich natürlich die Frage, wie es zum höherstufigen Wollen und Wün­schen kommt. Spie­len in all diesen Fällen Überlegungen keinerlei Rolle, so dass wir bloße Beobachter dessen sind, was sich volitional mit uns vollzieht? Ich denke nicht, und ich ziehe daraus den Schluss, dass die These vom prinzipiell nicht ergeb­nisof­fenen prak­tischen Überlegen unhaltbar ist. Wenn wir zu über­legen begin­nen, ist volitiv zu­nächst vieles fraglich. Antworten ergeben sich teils aus der theore­tischen Optionener­mittlung und der Bewusst­ma­chung schon bestehender optativischer An­sprüche, teil­weise auch einfach daraus, dass etwas ohne Überlegung mit uns ge­schieht. Das aber erschöpft die Alternativen nicht. Offen­bar gibt es Formen des Über­legens, die auch in volitionaler Hinsicht ergebnisof­fen sind ‑ glücklicher­weise. Denn da alle faktischen Willensin­halte, einschließ­lich der höchstran­gigen, prinzipiell proble­matisierbar sind, blieben wir sonst im Wollen prinzi­piell desorientiert.

Entscheidung ergebnisoffener Überlegun­gen

Der konkrete Verlauf ergebnisoffener Über­legungen ist variantenreich. Hinsichtlich der Entscheidung sind "sub­jektivisti­sche" und "objektivistische" Ant­worten denk­bar. Letz­tere orientieren sich einmal mehr am Vor­bild des theoreti­schen Wissens. So wie es objektive, er­kennbare Wahrheiten gibt, so soll es auch objektive Forderungen geben, die op­tativische Einstellungen ebenso ratio­nal unausweichlich machen wie erkann­te Wahr­heiten assertori­sche. Als Beispiele ließen sich Kants Lehre vom kategorischen Impe­rativ als "Faktum der Vernunft" anfüh­ren oder Spielarten des Werterealismus.

Objek­tivistische Theorien aber müssen wenigstens zwei extrem starke Prämissen machen: Sie müssen zeigen, dass es die objektiven For­derungen tatsächlich gibt und dass ein ratio­naler Wille tatsächlich nicht umhin kann, ihnen zu folgen. Allerdings ist die erste Prämisse notorisch fragwürdig und die zweite ziemlich dubios.

"­Subjektivistische" Theorien führen die For­derungen allein auf die optativischen An­sprüche von Personen zu­rück. Wie können Menschen sich orientieren, wenn sie vor der (prinzipiell ergebni­soffenen) Frage stehen, wie sie sich zu einem oder mehreren mögli­chen Willens­inhalten stellen? Drei Orien­tierungsformen möchte ich dabei unter­schei­den. Die erste ist die bewusste, aktive Dezi­sion. Man selbst nimmt so oder anders Stel-lung zur Sache und damit ist sie erledigt ‑ einst­weilen jedenfalls, spätere Revisionen nicht ausge­schlossen. Die zweite Form ist die Fundierung der optativischen Stellung­nahme in anderen Haltungen, insbesondere eigenen Wertungen und Gefühlen. Die dritte Form schließlich ist eine Art "volitionaler Selbsterfahrung". Sie ist kein einmaliger Akt, sondern ein zeitlich länger erstrecktes, quasi‑experimentelles "Austesten" dessen, welche der (vo­rgegebenen oder durch mo­mentane Entschei­dung begründeten) optati­vischen Ansprüche sich dauerhaft als "be­friedigend" oder "per­sönlich tragfähig" erweisen und dadurch "unerschütterlich orien­tierend" werden. Vor allem im Blick auf langfristige, hoch­rangige Ziele wie beruf­liche Eignung, Part­nerschaft oder Welt­anschauung gewinnt diese Form ihre Plausi­bilität. Mit ihr kommt ‑ wie auch beim Rekurs auf subjektive Wertungen und Ge­fühle ‑ ein passivisches Moment ins Spiel, das der reinen Dezision fehlt und die prak­tische Ori­entierung der theoretischen Selbst­vergewisserung annähert, ohne doch mit ihr zusammenzu­fallen.

Alle drei For­men schließen einander nicht aus. Sie kön­nen und müssen sich wechsel­sei­tig ergän­zen, zumindest in Fällen der Lebens­orien­tierung. Aber der Anteil der einzelnen For­men kann unterschiedlich sein.

Auch Erfahrungen des "befriedigten Eins-   s­eins mit uns" oder Gefühls‑ und Wertungs­er­lebnissen gegenüber gibt es nicht nur die Möglichkeit der reaktiven, passivischen Entwick­lung von optativischen Einstellun­gen, die sie zum Inhalt haben. Es gibt auch die Möglich­keit, sie selbst ‑ als mögliche Gegenstände der optativischen Stel­lung-nahme ‑ zu problema­tisieren und erst da­nach aktiv Stellung zu nehmen. Ja, diese Form der aktiv‑optativischen Selbstaneig­nung ist unerlässlich, um jenem Gedan­ken der Auto­nomie Genüge zu tun, der für unser Selbst­sein konstitutiv ist. Wo immer sie fehlt, leben wir nicht, son­dern werden ge­lebt ‑ im personalen Sinne natür­lich, nicht im rein biologischen. In dieser Hinsicht unterschei­den sich auch die beiden nicht­dezisionisti­schen Orien­tierungsformen par­tiell nicht von der unreflek­tierten Übernah­me kultureller oder in­dividuell‑sozialisatori­scher Vorgaben oder der Entscheidung praktischer Fragen durch Zufall und andere Determinan­ten.

 

UNSER AUTOR:

 

Gottfried Seebaß ist Professor für Philoso­phie an der Universität Konstanz.

Vortrag auf dem XVII. Deutschen Kongress für Philosophie in Konstanz. Von der Re­daktion gekürzt. Die ungekürzte Fassung mit allen Nachweisen erscheint in: Betzler, Monika/Guckes, Barbara (Hrsg.): Autono­mes Han­deln. Harry G. Frankfurts Prakti­sche Philosophie (ca. 250 S., ca. DM 149.--, Frühjahr 2000, Akademie-Verlag, Berlin.