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ESSAY

Strasser, Peter: Das Ende der Geschichte und die Ideologien danach

 

Peter Strasser:

Das Ende der Geschichte

und die Ideologien danach

 

Anfang und Ende der Eschatologie

 Die abendländische Idee des historischen Fortschritts, die bis in unser Jahrhundert mächtig hereinwirkt, hat ihren Ausgangs-punkt in der jüdisch‑christlichen Escha-tologie. So etwa verkündet bei Lukas 9,27 Jesus seinen Jüngern: "Wahrhaftig, das sage ich euch: Von denen, die hier stehen, wer-den einige den Tod nicht erleiden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben." Grundle­gend ist von An­fang an die Idee der Ver­derbnis, die es wieder aufzuheben gilt. Die Welt wird als schlecht gedacht, und nun kommt es auf das Ende an. Im Christentum werden Himmel und Hölle endgültig ge­schieden, und jeder Mensch wird für immer in einer der beiden Sphären plaziert.

 Für die Entwicklung des europäischen Ge­schichtsdenkens ist aber auch noch ein anderes Endzeitszenario wichtig, das para­digmatisch in der indisch‑iranischen Lehre der Apokatastasis, einer Art kosmischer restitutio in integrum, vorgebildet ist. Sie geht davon aus, daß nach dem Kampf zwi­schen Gut und Böse die ursprüngliche Voll­kom­menheit wiederhergestellt werden und selbst noch "das Land der Hölle der Glück­selig­keit zurückgegeben" werden wird.

Die christliche Endzeiterwartung wird in dem Augenblick geschichtlich, in dem die Vollendung der Menschheit selber historisch gedacht wird. In diesem Sinne legt die letzte große Geschichtseschatologie der Marxismus vor. Ausgehend von einem Ur­kommunismus, beschreibt der Historische Materialismus die Geschichte als eine Dy­namik von ökonomischen Ausbeutungsfor­mationen und daran anschließenden Klas­sen­kämpfen. Die Sklavenhaltergesellschaft wird von der Feudalgesellschaft und endlich vom Kapitalismus abgelöst. Erst mit dem Zusammenbruch der kapitalistischen Wirt­schaftsform kommt die Geschichte zum Stillstand. Der Arbeiter übernimmt die Pro­duktionsmittel, und die Ausbeutung hört auf. Der Staat als Agent der besitzenden Klas­se der Bürger stirbt ab. Das ist die Prophezeiung.

Sie ist in unserem Jahrhundert, durch die Massakrierung Millionen Unschuldiger in Stalins Lagern und Maos China, darüber hinaus aber durch die Diktaturen des ge­sam­ten Ostblocks auf die ernüchterndste Weise widerlegt worden. Das Scheitern der mar­xistischen Prophetie wird, neben der Hitlerschen Apokalypse des Tausendjähri­gen Rei­ches, zu einem Hauptgrund für die Korrumpierung der abendländischen Idee des Fort­schritts.

Der Fortschritt wird zweideutig

Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt das op-ti­mistische Geschichtsmodell der Aufklä­rung zu schillern. Einerseits gerät die bür­gerli­che Kultur immer mehr unter Beschuß. Unter den gebildeten Schichten macht sich eine zum Teil rigorose Modernismuskritik breit. Andererseits findet man unter den linksre­volutionären, aber auch unter faschi­stischen Geistern Formen einer Technik­euphorie, die an Heilserwartung grenzt. Man erhofft von der Durchtechnisierung der Welt den Aufstieg einer neuen glanzvollen Epo­che mit einem neuen Menschen.

Typisch für die angezeigte Spannung ist Oswald Spenglers Untergang des Abend-landes, ein monumentales Werk, dessen beide Bände 1918 und 1922 erscheinen, im Gegensatz zu Ernst Jüngers Der Arbeiter von 1932. Spenglers Diagnose lautet, daß die abend­ländische Kultur im 19. Jahrhun­dert bereits deutliche Zeichen einer zivilisa­to­rischen Dekadenz zeigt, wie sie für hoch­vergreiste, dem Untergang nahe Kulturen ty­pisch ist. Besonders hervorgehoben wer­den die Dik­tatur des Geldes und der öffent­li­chen Mei­nung (Presse), die politische Instabilität, die weitgehende intellektuelle Ver­ödung, sicht­bar im Eklektizismus und Historismus, sowie eine Hoffnungslosigkeit hin­sichtlich jedweder geistigen Erneuerung. Auch Jünger prophezeit das Ende der ver­rotteten bürgerlichen Kultur. Gleich­zeitig jedoch sieht er im Arbeiter einen neuen Typus, eine "planetarische Rasse". Aufgabe dieser Rasse ist es, den Triumph der Tech­nik sicherzustellen. An die Stelle der bür­gerlichen Demokratie mit ihren Freiheiten wird eine sogenannte "Arbeitsdemokratie" treten. Es wird das Ende der Geschichte gekommen sein, die Nationalstaa­ten werden zugunsten eines Weltstaates verschwinden. "Das Ziel der Technik ist Erdvergei­stigung", sagt Jünger.

Negative Eschatologie

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird dann aber endgültig der Schlußstrich unter die positive Geschichtseschatologie nach Art der Comte, Hegel, Marx oder Jünger gezogen. Der abendländische Fort-schritt wird vor­nehmlich unter dem Aspekt gesehen, daß er bei Auschwitz und Hiro-shima endet.

Typisch für dieses Empfinden ist die Ge-schichtsrekonstruktion der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die erstmals 1944 in New York erscheint. Von dem listenreichen Odysseus führt, nach dem Urteil der Auto-ren, eine Linie zu Marquis de Sade und Kant, und von da weg zum Nazi‑Faschis-mus. Die These des Buches lautet, daß die Aufklärung, um die Gewalten des Mythos zu brechen, selber gewalttätig werden muß. Der Faschismus erscheint als das Resultat einer Auf­klärung, die wieder in den Mythos zurückschlägt, weil sie weder dessen Gewalt noch dessen Hoffnungspotentiale zu bannen vermochte.

Obwohl die Dialektik der Aufklärung histo­risch kaum ernst zu nehmen ist, hat sie doch großen Einfluß auf das Denken der deutschen Nachkriegslinken, insbesondere der revoltierenden Studentenschaft in den 60er Jahren. Denn sie befriedigt das Ge-schichts­bedürfnis der kritischen Intelligenz, indem sie eine Art negativer historischer Eschato­logie bietet und dabei zugleich be-ansprucht, mit den Mitteln einer selbst-reflexiven, radikalisierten Aufklärung zeigen zu können, daß das aufgeklärt bürgerliche Denken und der Faschismus ineinanderspie­len.

Das Ende der Geschichte: Postmodernis-mus

1974‑76 erscheint Der Archipel GULAG von Alexander Solschenizyn. Das Buch über Stalins Straflager löst bei der europäi­schen Linken einen Schock aus. Der stalini­stische Terror erscheint nicht mehr als eine Verirrung, sondern er spiegelt das Wesen des Kommunismus, so wie Hitler und die realen Nazis nicht eine Verirrung des Natio­nalsozialismus waren, sondern sein We­sen offenbarten. Die lange Zeit geblendete Linke muß endlich von ihrem äußersten, letzten Geschichtsposten auf dem Weg zum irdischen Paradies Abschied nehmen. Die sogenannte "Diktatur des Proletariats" war Menschenfresserei und bestenfalls nichts als banale Diktatur.

1979 erscheint La Condition postmoderne von Jean‑François Lyotard. Mit diesem kleinen Traktat des bis dahin weniger be­kannten französischen Philosophen beginnt die europäische Postmoderne. Jedenfalls erhält sie hier ihren klarsten Ausdruck. Die Grundthese des Buches lautet, daß das Ende der großen, epochenüberspannenden Ge­schichtserzählungen, der "Metaerzählun­gen", gekommen sei. Die Idee der Endzeit, der Eschatologie, wird bei Lyotard noch einmal ironisch ausgespielt. Endzeit, das meint eigentlich: Ende der Geschichte, sei es nun der jüdisch‑christlichen, der marxi­stischen oder einer anderen. Alle diese Geschichtser­zählungen waren offen oder verkappt my-thologisch und religiös inspi­riert. Sie alle dienten dazu, die Vielfalt des Histori­schen in ein ideelles Korsett zu zwängen. Nun aber steht, so Lyotard, der Anerken­nung der rea­len historischen Viel­falt nichts mehr im Wege.

Der postmoderne Blick auf die Geschichte ist unhintergehbar pluralistisch. Es gibt nicht eine Geschichte, sondern viele Ge­schichten, die sich ihrerseits nicht wieder auf eine große Supergeschichte reduzieren lassen. Lyotard plädiert, wie alle Postmo­derni­sten, für kulturelle Heterogenität und die produktive Funktion des Dissenses. Der Kon­sensualismus, der auf die eine Wahrheit drängt, steht fortan unter dem Verdacht, die Fülle der historischen Figurationen, sei es aus Angst, sei es aus Machtgier, gewaltsam glätten oder sogar unterdrücken zu wollen.

Man kann sagen, daß der Postmodernist gewisse Themen der Moderne (Pluralis­mus, Relativismus, Konstruktivismus) besonders scharf akzentuiert. Deshalb darf man auch sagen, daß der Postmodernist zugleich eine zentrale Gestalt der Moderne ist.

Transzendenz der Geschichte - Imma­nenz der Moderne

Zusammenfassend läßt sich feststellen, auf welchen Grundpostulaten die Idee des histo­rischen Fortschritts im Abendland beruhte:

 

n Transzendenz des historischen Sinns. Alle relevanten geschichtlichen Ereignis­se haben ihren Sinn außerhalb ihrer selbst. Deshalb bedauerte zum Beispiel Kant in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschich­te in weltbürgerlicher Absicht (1784), daß so viele Menschengeschlechter gelebt ha­ben, ohne wissen zu können, im Dienste welcher Vervollkommnung sie tätig sind.

n Transzendenz der historischen Utopie. Der historische Endzustand ist an einen Prozeß der Fulguration, das heißt an die plötzliche Entstehung von etwas strukturell Neuem, gebunden. Dasselbe gilt für die einzelnen historischen Etappen und die Brüche zwi-schen ihnen: die Ausschöpfung der über-kommenen Potentiale würde nicht genügen, um die Etappenbrüche und schließlich den definitiven Endzustand herbeizuführen.

n Transzendenz des individuellen Lebens-sinnes. Der Sinn des einzelnen Men­schen-lebens hängt, vermittelt über seine Kultur, von der Beziehung zum historischen Sinn und letztlich zur historischen Utopie ab.

Im Gegensatz dazu bezeichnet "Modernität" einen kulturellen Zustand, in dem die ge­nannten Transzendenz‑Postulate mehr oder minder verneint werden. Die Moderne hat einen immanenten Sinn, ein immanentes Telos. Dementsprechend meint die Ent-faltung der Moderne eine zunehmende Realisierung der in ihr selber gelegenen Potenzen: Ent­faltung des wissenschaftlich‑ technisch und ökonomisch induzierten Wohlstands; Reali­sierung von sozialer Ge­rechtigkeit, Freiheit und demokratischer Beteiligung an der politischen Willensbil­dung. Das Ziel dieser Potenzen, das heute als "Globalisierung" bezeichnet wird, ist die friedliche, pluralistische, wirtschaftlich ausbalancierte Weltö­kumene auf hohem, technisch stabilisiertem Lebensniveau.

Grundlegend für die geistige Haltung der Moderne sind der kognitive und der mo­ra-lische Universalismus. Während der kog­ni-tive Universalismus zur Vorstellung einer wissenschaftlichen Wahrheit und Methode führt, die über alle religiösen, kulturellen und ideologischen Partikularismen hinweg verbindlich ist, führt der moralische Univer­salismus zu der Vorstellung, daß alle Men­schen hinsichtlich ihrer grundlegenden Le­bensinteressen prima facie gleichwertig sind.

Die Moderne in ihrer entwickelten Form anerkennt kein Ziel außerhalb ihrer eige­nen konstitutiven Prämissen (welche im übrigen ein gewisses Maß an Toleranz gegen­über den Zielen prämoderner Gesellschaften fordern). Korrespondierend dazu wird auch die Sinnfrage des Einzellebens nicht mehr durch sein Bezogensein auf Werte jen­seits der Moderne strukturiert. In den Konsoli-dierungsphasen der Moderne mögen noch stark kollektive und ursprünglich religiös geprägte Ziele im Vordergrund stehen. Man denke an den Kampf der Arbeiter, die Men­schenrechtsbewegung oder die protestan­tisch gefärbte Unternehmermoral. Doch letztlich wird es im Kontext der Säkulari­sierung darum gehen, dem einzelnen die Möglichkeit eines glücklichen Lebens zu bieten ‑ eines Lebens, dessen Sinn sich in seinem Gelebtwerden tatsächlich realisiert.

Die einzig denkbare Rechtfertigung der weltweiten Ausbreitung und Konsolidierung einer Welt ohne historische Transzendenz liefert der Hedonismus oder Utilitarismus. Dieser Lehre gemäß bemißt sich der Sinn des individuellen Lebens daran, wie glück-lich es durchlebt wird, utilitaristisch ausge­drückt: wie groß sein Nutzen, die "Lebens­quali­tät" ist. Entbehrung und Unglück haben einen Sinn nur, wenn sie Teile eines über­ge­ordneten Lebensprogrammes sind, dessen Einlösung die Leiden subjektiv aufwiegt, so daß die Glücksbilanz oder Lebensqualität nicht in den Negativbereich absinkt.

Jenseits der Geschichte - Individuali- stische und universalistische Moderne

Wenn aber das individuelle Lebensglück die fundamentale Sinnkategorie ist, dann er-scheinen auch die wissenschaftliche und moralische Rationalität, das heißt der theo­retische und praktische Universalismus, nur noch als Mittel zum Zweck. Ihre Bewer­tung hängt von faktischen Machtverhältnissen ab. Warum sollten die Starken ihre Le­bens-qualität nicht zuungunsten der Schwachen und Armen steigern? Der Universalis­mus ist zweckrational nur solange, als die einzelnen Glückswerber einander die möglichen Glücksbeschaffungspositionen ‑ Machtposi­tionen ‑ tatsächlich streitig ma­chen können.

Die sich daraus ergebende Kultur kann man als individualistische Moderne cha­rakteri-sieren. In ihr gibt es nur einen Grund, die Gier nach Glück und Macht zu brem­sen, nämlich das voraussehbare Instabilwerden des Gesamtsystems durch die Gefähr­dung der sozialen Rahmenbedingungen, die ein möglichst freies Spiel der Kräfte erst er­möglichen. Der legitime Anwendungsbe­reich des moralischen Universalismus ist strikt limitiert: Man muß sich eines sozialen Gesamtzustandes versichern, der die Un­gleichheiten nicht so weit ansteigen läßt, daß der Bürgerkrieg wahrscheinlich, der Ruf nach einem starken Staat plausibel und, in der Folge, das Glücksstreben des einzelnen empfindlich tangiert wird. Auf diese Weise kann auch eine Art "hedonistischer Ökolo­gie" entstehen. Ihr Grundgedanke ist der, daß die Ausrottung von Tier‑ und Pflanzen­beständen oder der unbehinderte Raubbau an den Rohstoffen der Erde das individuelle Glücksstreben erheblich beeinträchtigen könnte.

Obwohl der Hedonismus ein Grundzug der Moderne ist, wäre seine konsequente Reali­sierung mit abscheulichen Konsequenzen verbunden. Solange unser eigenes Glücks­biotop nicht destabilisiert würde, dürften wir die Interessen der anderen rück­sichtslos mißachten. Wir dürften tun, was wir heute de facto tun, nämlich im Dienste der Erhö­hung unserer eigenen Lebensqualität ande­ren Wesen, Menschen wie Tieren, unnötiges Leid zufügen, die natürlichen Ressourcen unserer Erde vergeuden, usw. In­tuitiv kön­nen wir also einer Instrumentalisierung oder Schwächung des Universalismus nicht wirk­lich zustimmen. Denn wir erfahren und er-kennen die Welt nicht einfach als eine Summe rein faktischer, empirischer Eigen­schaften und Sachverhalte, deren Wert sich daran bemißt, inwieweit sie für unsere Glücksansprüche oder Interessen von Vor­teil sind.

Unsere primäre Erfahrung der Welt ist werthaft. Und der europäische Universalis­mus ist das Ergebnis einer durch zunehmen-des Tatsachenwissen und vielfache andere Bildungsprozesse belehrten Werterkenntnis. Es ging und geht dabei darum, die univer­salistischen Gehalte unserer Primärerfah-rungen als objektive Merkmale von Dingen, Subjekten und Beziehungen herauszuarbei-ten. So ist das Postulat der Gleichheit aller Menschen kein bloßes Postulat. Es hat einen naturrechtlichen Status. Es ist das Ergeb­nis der Erkenntnis, daß alle Menschen gleich sind. Eine derartige Erkenntnis reicht tiefer als die naturwissenschaftliche Abstraktion, obwohl es gerade letztere ist, die un­sere Primärerfahrungen bildet, korrigiert und unterstützt.

Der Zusammenhang zwischen werthaften Primärerfahrungen, naturwissenschaftli­cher Erkenntnis und der Zuerkennung bestimmter Rechte ist sehr komplex, kulturell geprägt und häufig umstritten. Das zugegeben, gehört es dennoch zum immanenten Telos der Moderne, einen Begriff von Ökologie zu formulieren, welcher der generellen Tat-sache dieses Zusammenhanges Rechnung trägt. Wir wissen demnach, und zwar trotz unserer Neigung zum Hedonismus, daß wir kein Recht haben, mit der Natur nach eige­nem Gutdünken zu verfahren. Denn das kä-me einer Verletzung der den Dingen inhä­renten Werthaftigkeit gleich. So ein Wissen konstituiert die universalistische Mo­derne.

Die Utopie der universalistischen Moder­ne

Es gibt in der Moderne starke Kräfte gegen die Bemühung, die universalistischen Wert­gehalte unserer Primärerfah­rungen herauszu­arbeiten. Besonders erwähnt sei der Natura­lismus, sozusagen die Ideologie der Natur­wissenschaften. Sie geht davon aus, daß Menschen Biomechanis­men und letzten En-des Maschinen sind. Der Naturalismus paßt sehr gut zum Hedonis­mus, beides sind pro-nonciert antimetaphysische Haltungen. Auf einer dazu konvergie­renden Linie be­wegt sich der Konstruktivismus, der das Konzept einer objektiven Wirklichkeit und daher auch einer objektiven Wertwirklichkeit leugnet und so wieder­um mit dem Postmo-dernismus zusammenstimmt, der die unhin­tergehbare Unterschied­lichkeit der Kulturen und ihrer "Sprachspiele" lehrt.

Eine universalistische Ökologie ist mit der Frage konfrontiert, was es bedeutet, daß den Dingen Werte inhärieren. Tatsachen als Tat-sachen werden verursacht, aber Werte als Tatsachen werden gestiftet. Hier liegt der Punkt, wo der religiöse Unterstrom der Mo-derne als die ontologische Kraftquelle des Universalismus sichtbar wird. "Stiftung" ist eine religiöse Kategorie, jedoch nun, im modernen Kontext, streng universell inter­pretiert, also an keinen Mythos mehr gebun­den. Im universalistischen Begriff von Öko­logie geht es tatsächlich um den logos der Welt, diese verstanden als oikos, als "Haus­verband". Das macht den internen Zwiespalt der Moderne besonders deutlich. Entweder ihr immanentes Telos ist der latente Krieg der Interessen, der jederzeit in einen offenen Macht‑ und Glückskrieg ausbrechen kann, ohne daß sich dagegen von der Natur der Dinge her etwas einwenden ließe. Oder aber das immanente Telos der Mo­derne ist sub­stantiell universalistisch und weist daher über sich selbst hinaus: es ist "gestiftet", und der Ort der Stiftung kann dann kein menschlich‑immanenter sein. Denn objekti­ve Werte lassen sich durch die subjektiven Werte der menschlichen Autonomie, durch Dezisionen, nicht stiften.

 Es gibt eine Utopie der universalistischen Moderne, die nicht bloß die Idee der Menschheit als das Ideal des Zusammenle-bens aller umfaßt. Der Logos, um dessen Realisierung es geht, umfaßt der Tendenz nach die ganze Natur, und das utopische Ziel der Ökologie ist dann eine Form von Apokatastasis. Es geht dann nämlich um die Wie­derherstellung eines Zustandes, der, gleichsam unendlich fragmentiert, aus den Wert- ­und Unwerterfahrungen, die wir an und mit den Dingen machen, zu uns spricht. Selbst das Land der Hölle soll der Glückse­ligkeit der Welt zurückgegeben werden.

Die theoretische Formulierung der Apokata­stasis ist uns unmöglich. Wir können und sollten uns nur bemühen, auf jeder Etappe unseres unabschließbaren irdischen Weges zu ihr hin die jeweils faßbaren universalisti­schen Gehalte so klar wie möglich zu for­mulieren und, im Rahmen unserer Kräfte, in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne ‑ und nur in diesem ‑ ist der Weg das Ziel. Der Weg ist aber wesentlich zielhaft, weil uns das Ziel stets nur in der Gestalt der Etappe faßbar wird. Das ist, wie am Anfang des Christentums, abermals eine Utopie ohne Geschichte, weil ohne Vollendung inner­halb der Welt.

Ideologien nach dem Ende der Geschich­te

In einem bestimmten Sinne ist es richtig, mit dem Ende der Geschichte auch das En-de der Ideologien anzusetzen. Die großen okzidentalen Ideologien zehrten davon, daß sich einzelne Teile der Menschheit (Völker, Nationen, Rassen, religiöse und schließlich soziale Kollektive) über andere erhoben, und zwar kraft eines Ideals, das eschatolo­gisch strukturiert war. Die Zeit die­ser Ideo­logien ist vorbei, solange die Moderne in den skizzierten Umrissen existiert.

Das bedeutet keineswegs, daß es innerhalb der Moderne nicht zu Reaktionsbildun­gen kommt, die eine Erneuerung der Geschichte fordern. Ein gutes Beispiel bietet die franzö­sische Nouvelle Droite rund um ihren Vor­denker Alain de Benoist. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie im Gegensatz zur Front National von Jean Marie LePen auf eine "metapolitische" Langzeitstrategie setzt. Sie will das geistige Klima Frankreichs grundle­gend verändern und so auf den Umsturz vorbereiten. Die Nouvelle Droite bemerkt ihre anachronistische Position und versucht nun, daraus einen Vorteil zu ziehen, indem sie im demokratischen "Einheitsbrei" der Meinungen und Moden eine geistige Son­derstellung beansprucht. Drei Axiome der herrschenden Kultur werden in Frage ge­stellt: erstens die Menschenrechte, zweitens die Forderung nach weitestmöglicher sozia­ler Gleichheit und drittens die pauschale Verurteilung des Faschismus (das sog. "Fa­schismus‑Tabu"). Dementsprechend werden als ideologische Hauptfeinde jene Be­wegun­gen und Phänomene identifiziert, die mit dem Universalismus der Moderne asso­ziier­bar sind, etwa die jüdisch‑christliche Reli­giosität wegen ihrer "egalitären" Ten­den­zen, der politische Liberalismus, der Euro‑Ame­rikanismus, die Sozialdemokra­tie, die multi­kulturelle Gesellschaft. Ange­strebt wird demgegenüber eine rassisch weitgehend entmischte Gesellschaft von "Indoeuropä-ern", die sich durch eine strenge hierarchi­sche Struktur nach dem platoni­schen Muster "Wächter, Priester, Krieger, Produzent", ver­bunden mit einem polythei­stisch‑­heidni­schen Glaubensbekenntnis, auszeich­nen soll-te.

Um die soziale Funktion von Ideologien zu begreifen, muß man untersuchen, inwie­fern sie an Ideen, Gefühle und Verhaltensten-denzen anknüpfen, die für das Selbstver­ständnis einer Gesellschaft fundamental sind. So konnte der deutsche Faschismus der Zwischenkriegszeit damit rechnen, eines Tages als soziale Leitideologie zu fungieren. Denn er verstärkte und verknüpfte eine Rei-he von kollektiven Sehnsüchten, darunter jenen eschatologischen Zug, der selbst her­vorragende Vertreter der geistigen Land­schaft daran glauben ließ, daß sich das Schicksal der Nation, und damit das Welt­schicksal überhaupt, erst durch die Bewäh­rung des deutschen Wesens im Kriege zum Guten wenden ließe.

In demselben Sinne kann die Nouvelle Droite heute nicht mehr hoffen, in den Rang einer Leitideologie aufzurücken. Denn ob­wohl die moderne französische Gesell­schaft weder frei ist von den ökonomischen Pres­sionen des Weltkapitalismus (Arbeitslo­sig­keit, Pauperisierung immer größerer Teile der Bevölkerung, Abbau wohlfahrtsstaatli­cher Leistungen), noch von den Gefährdun­gen des Chauvinismus, steht sie doch gleich­zeitig unter dem Vorzeichen der Nachgeschichte. Strategisch gesehen liegt das Grund­problem einer Großideologie wie der Nouvelle Droite darin, daß sie innerhalb einer Gesellschaft wirksam werden muß, die, statt an historische Utopien zu glauben, auf eine Mischung aus ethischem Universa­lismus und politischem Pluralismus setzt. Die Nouvelle Droite hat keinen politischen Gegner mehr, der, wie seinerzeit der Kom­mu­nismus, eine gewissermaßen legitime Verkörperung der eschatologischen Grund­haltung des Systems wäre. Deshalb wird der Rechtsradikalismus nicht bloß von seinen Gegnern in einzelnen Punkten bekämpft, sondern insgesamt als systemfremd emp­funden.

Es bleiben dem Rechtsradikalen daher nur zwei Taktiken. Die eine Taktik dringt auf den Systemumsturz, sie ist potentiell terrori­stisch. Wie aber soll man in einer funk­tio­nierenden Demokratie die revolutionäre Ambition von dem schnöden Verdacht be­freien, es ginge bloß um die Installierung eines totalitären Nachfolgesystems, in dem die Machtgier der dann Herrschenden mög­lichst effektiv, d.h. ohne demokratische Kontrolle, befriedigt werden könnte? Die zweite Taktik ist daher radikal pragmatisch. Der konservative Revolutionär bequemt sich in das von ihm zum Untergang bestimmte System hinein, um dort, wie die Nouvelle Droite, den langen Marsch durch die Gehir­ne anzutreten, oder, wie die Front National, lauthals und populistisch die "einzig wahre" Opposition zu mimen.

Die Ideologie der Ideologielosigkeit

Insgesamt hängt der Erfolg der rechtsra­di-kalen Ideologie davon ab, ob sich das plura­listische System der Moderne stabili­sieren kann. Es kommt in hohem Maße auf den ökonomischen Fortschritt an. Durch die Ausnützung aller verfügbaren Ressourcen muß genügend Glück dauerhaft generiert werden, damit der einzelne nicht dazu ten­diert, den Systemerhaltern die Fol­gebereit­schaft aufzukündigen.

Ob das gelingen kann, ist eine der Über­lebensfragen der Moderne, und es ist ver­ständlich, daß sich rund um sie so etwas wie eine Ideologie der Ideologielosigkeit gebildet hat. Ihr Kern besteht in dem Dog­ma, daß der freie Markt die Metaphysik der Geschichte ersetzt. Technik und Ökonomie sind trans‑eschatologische Gewalten, die auf keinen historischen "Ort der Erfüllung", auf keine "Vollendung der Geschichte" mehr zusteuern. Ihr Ziel ist vielmehr die Steige­rung jener Quantitäten und Intensitäten, deren die individualistische Moderne bedarf, um Lebenssinn erzeugen zu können. Es geht darum, den sozialen Glückspool, die "plea­surable states of consciousness" auf einem Level zu halten, der die kollektive Neigung zur Apathie oder zum Amoklauf niedrig hält.

Die Botschaft des Marktes und der Börsen lautet daher, daß die Globalisierung der Ökonomie das beste Mittel sei, Frieden und Wohlstand langfristig zu optimieren. Doch für diese Botschaft spricht in Wahrheit nur ein Negativbefund: der Zusammenbruch des Kommunismus. Alles andere ist Wunsch­denken, dem sich auch die Politiker erge­ben, weil sie immer weniger Mittel zur Hand haben, um das Problem der Lohnar­beit zu lösen oder wenigstens steuern zu können. Der Weltkapitalismus hat inzwi­schen alle Keynesianischen Perspektiven vernichtet. Gleichzeitig deuten viele An­zeichen darauf hin, daß das kapitalistische System an einer Reihe unlösbarer Probleme leidet: (a) es ist ausweglos parasitär, denn es braucht, um profitabel produzieren zu können, große Ausbeutungsareale, etwa die "Billiglohnländer"; (b) es ist in hohem Maße instabil, heute nicht zuletzt wegen des welt­weiten Großspekulantentums an den Börsen; (c) es zeigt eine unaufhaltsame Tendenz zur Konzentration der ökonomi­schen Megapo­tenzen in wenigen Händen, was sehr rasch zur Korrumpierung des po-litischen Bereichs führt.

Sollte das eben Gesagte stimmen, dann stehen die Chancen radikaler Ideologien, die einen Umsturz des Systems fordern, lang­fri-stig nicht schlecht. Das Schreckliche aber, das sich dabei andeutet, schließt ein, daß die neuen Extremisten ohne die Hoffnung ans Werk gehen werden, welche die abend­ländische Eschatologie immerhin noch be-reit­hielt. Es wird der Hobbessche Levia­than sein, das Symbol für den universellen Bür­ger­krieg im Kampf der Interessen und Lei­denschaften, dem sich dann alles unter­wer­fen muß.

Man kann also nur blind darauf vertrauen, daß die Bindungskräfte der universali­sti­schen Moderne stark genug sind, um das Ende der Geschichte nicht mit dem Ende der zivilisierten Welt zu besiegeln.

 

UNSER AUTOR:

 

Peter Strasser lehrt Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Graz.

Von ihm ist soeben erschienen: Journal der letzten Dinge (301 S., kt., 1998, Edition Suhr­kamp, Suhrkamp, Frankfurt).