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Tiger im Tank

Olaf L. Müller behauptet, ein Problem gelöst zu haben, das Philosophen über dreihundert Jahre zu Verzweiflung brachte

 Können wir uns einen Menschen vorstellen, der sich so massiv täuscht, dass alle (oder fast alle) seine Meinungen falsch sind? Wer für die Möglichkeit des massiven Irrtums plädieren will, muss sich eine Vorgeschichte ausdenken, die in sich stimmig ist und den Irrtum erklärt.

Im ersten Band seiner zweibändigen Habilitationsarbeit

Müller, Olaf L.: Wirklichkeit ohne Illusionen

Band 1:Hilary Putnam und der Abschied vom Skeptizismus oder Warum die Welt keine Computersimulation sein kann. 240 S., kt., € 36.—, 2003, Mentis, Paderborn

 geht der Göttinger – nunmehr an der Berliner Humboldt-Universität lehrende – Philosoph Olaf L. Müller verschiedene Szenarien eines solchen möglichen Totalirrtums durch, von Attrappen über Halluzinationen bis hin zu Träumen. Dazu stellt er sich einen Getäuschten vor, in dessen Bewusstsein sich genau dasselbe abspielt wie bei uns (und der aus exakt denselben Gründen exakt dasselbe glaubt wie wir, Müller nennt ihn den engen Doppelgänger einer Person P). Alle die genannten Szenarien erweisen sich hinsichtlich einer völligen Täuschung als unmöglich. So kann die Welt eines permanent Träumenden nicht einzig und allein aus Luftkissen bestehen. Denn damit der Getäuschte träumen kann, muss er am Leben sein, er braucht Getränke und Speisen sowie Luft zum Atmen. Die Meinung unseres Doppelgängers, er speise, wäre demnach kein Irrtum. Der Doppelgänger kann sich also in weit weniger täuschen, als es zunächst den Anschein hat. Das Gedankenspiel vom ewigen Traum ist demnach gewissen Bedenken ausgesetzt, deshalb sucht Müller nach einem für den Skeptiker weniger problematischen Gedankenspiel.

Es ist prinzipiell vorstellbar, dass die Funk­tionen unserer Organe von funktionsgleichen Maschinen übernommen werden. Um zu     überleben, braucht der seit jeher Träumende nicht notwendigerweise einen funktionierenden menschlichen Körper. Wenn wir aber noch weitergehen, seinen Körper wegdenken und an dessen Stelle lauter medizinische Maschinen setzen: Welchen Sinn soll es dann noch haben, vom Überleben des Träumenden zu sprechen? Und wer träumt noch, wenn der Körper nicht mehr da ist? Ob die menschliche Seele ganz ohne Körper überleben und z.B. träumen könnte, ist umstritten. Und es ist sogar umstritten, ob wir uns das vorstellen könnten.

Allerdings: Nehmen wir an, das Gehirn unseres engen Doppelgängers liege in einem Tank mit Nährflüssigkeit, der dem Innern  eines lebendigen Menschenschädels exakt entspricht, dann dürfte das Gehirn unseres Doppelgängers im selben Rhythmus einschlafen, träumen und aufwachen wie wir. Stellen wir uns nun das eingetankte Gehirn ohne Restkörper, mit gekappten Nervenbahnen vor. Das eingetankte Gehirn erhält nun keine Informationen mehr von außen. Es ist zwar hellwach, und doch ohne jede Körperempfindung oder Sinneswahrnehmung, eine, wie Müller zugesteht, höllische Vorstellung.  Und ohne geeigneten Input auf den gekappten Nervenbahnen wäre es ein Wunder, wenn das Gehirn ausgerechnet die Erlebnisse durchmacht und den Ansichten verfallen sein soll, die es braucht, um unser enger Doppelgänger zu werden.

Bei normalen Menschen kommen die elektrischen Impulse letztlich von den Nervenzellen der Sinnesorgane, die ihrerseits durch kausale Ketten mit den Dingen draußen verbunden sind: mit roten Ziegelhäusern, singenden Amseln und betörend duftenden Nelken. Wir nehmen nun an, dass die Nervenzellen unseres Gehirns im Tank mit einem Computer verbunden sind, der dem Gehirn unsere Welt vorgaukelt. Der Tank sorgt wie bislang für das Überleben des Gehirns; neu ist der Computer, der das Gehirn mit elektrischen Reizen versieht. Dieser Computer enthält eine komplette binäre Repräsentation des Zustandes unserer Welt (also nicht etwa derjenigen Welt, in der er verwirklicht ist). Diese Repräsentation umfasst exakte Daten über den Zustand meines Körpers. Da dem Computer sämtliche Naturgesetze eingespeichert sind, kann er den Nachfolgezustand jedes Weltzustandes berechnen und insbesondere ermitteln, welche elektrischen Ereignisse sich im Laufe der Zeit an den Nervenzellen meiner Sinnesorgane abspielen. Diese theoretisch errechneten elektrischen Impulse erzeugt der Computer dann wirklich und schickt sie auf die Nervenbahnen des eingetankten Gehirns, das – wegen seiner Baugleichheit mit meinem Gehirn – in seiner Welt genau dieselben Sinneseindrücke empfangen wird wie ich in meiner Welt. Der Computer zieht die Bewegungssignale des eingetankten Gehirns in seine Berechnung des nächsten Weltzustandes mit ein und liefert dem Gehirn in Echtzeit die resultierenden Rückmeldungen sowohl über die vermeinten Kontraktionen der vermeintlichen Muskeln  als auch über eventuell veränderte sinnliche Wahrnehmungen. Im Ergebnis wird das eingetankte Gehirn sein ganzes Leben qualitativ exakt dieselben sinnlichen Erfahrungen und Körperempfindungen haben wie ich. Und wenn es also in der Tat mein enger Doppelgänger ist, dann wird es – im Gegensatz zu mir – lauter falsche Meinungen haben. Nicht ganz, allerdings. Denn eine seiner Überzeugungen bleibt wahr: Ich habe ein Gehirn.

Um auch diese Meinung falsch werden zu lassen, sieht Müller zwei mögliche Strategien. Entweder man erfindet die Geschichte eines getäuschten Bewusstseins, das überhaupt nicht an einen materiellen Bewusstseinsträger gebunden ist, oder man placiert das Bewusstsein des Getäuschten in einen materiellen Bewusstseinsträger, der kein Gehirn ist. Allerdings: Die Idee eines Bewusstseins ohne materiellen Träger steckt voller Rätsel. In den Bereich des Vorstellbaren würde sie rücken, wenn man eine Zwei-Welten-Lehre nach cartesianischer Machart annehmen würde (wie sie laut Müller  heute kein ernstzunehmender Philosoph mehr vertritt). Diese Konzeption kennt aber keine plausible Antwort auf die Frage, wie es möglich sein soll, dass ein immaterielles Bewusstsein auf materielle Körper einwirkt (und umgekehrt). Aber die Annahme eines Trägers, der kein Gehirn ist, führt in ebenso gefährliches Gelände der Philosophie des Geistes. Wenn wir jedoch die funktionalistische These, wonach Bewusstseinszustände nicht von den materiellen Bestandteilen ihres Trägers abhängen, annehmen, können wir das Gedankenexperiment wie folgt weiter verfolgen:

Wir schneiden die Neuronen aus dem Gehirn im Tank heraus, ersetzen diese durch ein funktionsgleiches Bauelement aus Silizium und verbinden sie mit denjenigen Silizium-Bauelementen, die für die Neuronen stehen, mit denen die ursprünglichen Neuronen verknüpft waren. Diese künstlichen Synapsen haben dieselben elektrotechnischen Eigenschaften wie ihre biologischen Gegenstücke. Und die künstlichen Neuronen feuern bei genau demselben Schwellenwert wie das Original. Sollte der Funktionalismus recht haben, ändert sich durch diesen Austausch am Bewusstseinszustand des manipulierten Gehirn nichts. Damit ist Müller zufolge ein Gedankenexperiment gelungen, in dem sich der Getäuschte sogar hinsichtlich der Existenz seines Gehirns irrt. Denn er nimmt an, es bestehe aus Biomasse, während der postoperative Träger des Bewusstseins des Getäuschten aus Silizium besteht. Und im Gegensatz zu einem echten Gehirn braucht ein Silizium-Netzwerk zum Überleben keinen Sauerstoff, keine Flüssigkeit, keine Nährstoffe. Dennoch: Der Getäuschte hat immer noch wahre Meinungen über seine Welt. So glaubt er an die Existenz von Silizium - womit er völlig richtig liegt. Und er glaubt mit Recht an allerlei Naturgesetze hinter den Kulissen, die das Verhalten der Elementarteilchen steuern. Und wenn wir auch alle seine Meinungen über die Welt falsch machen, bleibt folgende Meinung des Getäuschten wahr: Es gibt materielle Gegenstände.

Dieses Gedankenspiel vom Gehirn im Tank, das auf Putnam zurückgeht, zeigt uns in den wesentlichen Zügen einen Getäuschten, dessen geistiges Innenleben sich von unserem Innenleben nicht unterscheidet und trotzdem - in fast allem - falsch liegt. Könnten wir uns nicht genauso stark über unsere Welt und unsere Umwelt täuschen wie der Getäuschte aus dem Gedankenspiel?

Für Müller ist klar: Wenn ich meine Wissensansprüche gegen die Bedrohung durch das Gedankenspiel vom Gehirn im Tank verteidigen möchte, so muss ich andere Ressourcen heranziehen als Beobachtung oder sinnliche Wahrnehmung. Und Müller behauptet: Es lässt sich a priori, genauer: mit Hilfe philosophischer Überlegungen, beweisen, dass ich kein eingetanktes Gehirn bin. Der Beweis, so behauptet Müller, stelle eine philosophiegeschichtliche Sensation dar, denn damit sei ein Problem gelöst, das Philosophen über dreihundert Jahre lang zur Verzweiflung getrieben hat: Wir haben eine positive Antwort auf die Frage, ob wir wissen können, wie unsere Welt und Umwelt aussieht.

Die Grundidee des Beweises wurde von Hilary Putnam entdeckt und im Jahre 1982 als erstes Kapitel seines bahnbrechenden Buches Reason, Truth and History veröffentlicht. Unmittelbar nach dieser Veröffentlichung begann der philosophische Streit um den Beweis. Die wenigsten Philosophen mochten sich von Putnams Argumentation überzeugen lassen. Der Beweis war zu schön, um glaubwürdig zu sein. Müller zufolge laufen aber die meisten Einwände gegen Putnam ins Leere, weil sie auf einem falschen Verständnis des Beweises beruhen. Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Reason, Truth and History wurde ein Fortschritt im Verständnis des Beweises erzielt: 1991 hat Crispin Wright eine Fassung vorgelegt (und ein Jahr später veröffentlicht), die so übersichtlich ist und auf so sicheren Prämissen fußt, dass man sich der Überzeugungskraft seiner Überlegungen nur schwer entziehen kann. Und der Beweis ist überraschend kurz: ein Vierzeiler. Er besteht aus zwei Prämissen, einem Zwischenschritt und der Konklusion:

 

Erste Prämisse: In meiner Sprache bezeichnet das Wort „Tiger“ die Tiger.

Zweite Prämisse: In der Sprache eingetankter Gehirne bezeichnet das Wort „Tiger“ keine Tiger.

Zwischenschritt, folgt aus den Prämissen: Also unterscheidet sich meine Sprache von der Sprache eingetankter Gehirne.

 Konklusion, folgt aus dem Zwischenschritt: Also bin ich kein Gehirn im Tank

Müller zufolge hat aber die Fassung von Wright trotz aller Attraktivität eine gründliche Überholung nötig: Der Beweisgang stimmt hinten und vorne nicht.

Wenn unser enger Doppelgänger seit jeher im Tank steckt, dann geht zwar in seinem Bewusstsein qualitativ dasselbe vor wie bei uns. Trotzdem spricht er eine andere Sprache als wir (so der von den Prämissen erzwungenen Zwischenschritt). Unser enger Doppelgänger muss also nicht unser semantischer Doppelgänger sein. Das dürfte sich aber auf die Meinungen des eingetankten engen Doppelgängers auswirken. Was er über „Gehirne“ denkt, hat einen anderen Gegenstand als die wortwörtliche Wiederholung des Gedankens oder Satzes bei uns. Unser enger Doppelgänger ist also auch nicht zwangsläufig unser doxastischer Doppelgänger. Übrigens muss unser enger Doppelgänger nicht unbedingt ein Mensch sein: Gehirne im Tank sind keine Menschen und kommen trotzdem fürs Doppelgängertum in Betracht.

Üblicherweise wird die erste Prämisse nicht hinterfragt. Der Streit dreht sich um die zweite Prämisse, in der substantiellere philosophische Annahmen zu stecken scheinen, nämlich sog. externalistische Annahmen, denen zufolge es beim Bezeichnen auf kausale Verbindungen ankommt. Der ersten Prämisse, so Müller, können wir uns a priori sicher sein, weil sich ihre Wahrheit bereits aus der Bedeutung ihrer Teilausdrücke ergibt: Die Prämisse ist analytisch.

Es muss eine Minimalbedingung erfüllt sein, bevor ein Sprecher mit Hilfe eines Wortes irgendwelche Dinge in der Welt bezeichnen kann. Diese Minimalbedingung lautet: Ohne kausalen Kontakt kein erfolgreiches Bezeichnen. Bedeutungen sind das Resultat von etwas handfest Weltlichem, dem (regelgeleiteten) Gebrauch der Ausdrücke durch ihre Verwender. Ist diese Minimalbedingung verletzt, dann ist es ein merkwürdiges Mysterium, wie ein gegebenes Wort ausgerechnet den Gegenstand bezeichnen soll, den es bezeichnet. Wer diese Minimalbedingung ablehnt, läuft Gefahr, fürs Erfassen semantischer Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke obskure übernatürliche Fähigkeiten postulieren zu müssen: Sprache wäre kein Teil der Natur.

Nun unterhalten eingetauchte Gehirne gar keine Beziehung zu Tigern.

Die Prämissen 1 und 2 sind, so Müller, gleichzeitig zu stark und zu schwach, um den Zwischenschritt „Meine Sprache unterscheidet sich von der Sprache eingetankter Gehirne“ logisch zu erzwingen. Zu stark sind sie, insofern in ihnen die Konklusion „Also bin ich kein Gehirn im Tank“ bereits versteckt enthalten ist - der Zwischenschritt ist demnach überflüssiger Ballast. Ohne ihn lässt sich der Beweis viel eleganter führen.

 

Zwei Prämissen der Form

 

(1) In meiner Sprache bezeichnet das Wort  „Tiger“ die Tiger

(2) In der Sprache eingetankter Gehirne be- zeichnet das Wort „Tiger“ keine Tiger

 können rein logisch keinen Satz der Form

(3) Also unterscheidet sich meine Sprache von der Sprache eingetankter Tiger

 

erzwingen.

Es handelt sich hier um einen egotistischen Fehlschluss. Man sieht das anhand des analogen Beispiels

 

(1A) In meiner Sprache bezeichnet das Wort „ich“ mich selbst

(2A) In Deiner Sprache bezeichnet das Wort „ich“ nicht mich, sondern Dich

(3A) Also unterscheidet sich meine Sprache von Deiner

 

Um diesen Beweis steht es schlecht. Obwohl die Prämissen 1A und 2A ganz sicher zutreffen, könnte die Konklusion immer noch falsch sein, d.h. es könnte sein, dass ich dieselbe Sprache spreche wie Du. Wir tun also gut daran, ohne diesen dubiosen Doppelschritt auszukommen.

 

Der Beweis ist gescheitert, weil in ihm nicht berücksichtigt wird, dass Sprache, Welt und Umstände zusammen darüber entscheiden, welche Dinge ein gegebenes Wort bezeichnet. Wir fügen anstelle des dubiosen Zwischenschritts den schwächeren (und korrekt deduzierten) Zwischenschritt ein

 

(3’) Wenn ich „Tiger“ sage, dann unterscheiden sich Sprache, Welt oder Umstände der Äußerung dieses Wortes von Sprache, Welt oder Umstände der Äußerung des Wortes aus dem Munde eines eingetankten Gehirns.

 

Es kommt also nicht darauf an, ausgerechnet einen sprachlichen (wie bei Crispin Wright) Unterschied zwischen mir und den eingetankten Gehirnen dingfest zu machen. Irgendein Unterschied zwischen meiner Lage und der Lage eingetankter Gehirne genügt.

 

Der neue, kurze Müllersche Beweis lautet nun:

 

1) Meine Äußerungen des Wortes „Tiger“ bezeichnen die Tiger

2) Die „Tiger“-Äußerungen eingetankter Gehirne bezeichnen keine Tiger.

3) Also bin ich kein Gehirn im Tank