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Heidegger: Wie Heidegger 1945 fast auf einen Lehrstuhl berufen wurde | |
Wie Martin Heidegger 1945 fast auf einen Tübinger Lehrstuhl berufen wurde Alte Heidegger‑Knappen hatten gleich nach Kriegsende versucht, ihren Meister aus Freiburg aus der Schußlinie zu bringen, indem sie andernorts seine Berufung betrieben - in Tübingen wie auch in Göttingen. Im Frühsommer 1945, zwei Monate nach dem Ende des Nazi‑Reichs, schrieb der kommissari-sche Dekan der Philosophischen Fakultät Heidelberg, Rudolf Stadelmann, 43, seinem verehrten Martin Heidegger, ob er sich vorstellen könne, an der Eberhard‑Karls‑ Universität zu lehren. In Tübingen waren nämlich zwei philosophische Lehrstühle zu besetzen, darunter auch der Königsthron, der Lehrstuhl für Systematische Philosophie, den der politisch belastete Theodor Haering soeben hatte räumen müssen. Heidegger, 56, Freiburger Ordinarius, hielt sich zu dieser Zeit im oberen Donautal auf, wohin seine Fakultät nach dem verheerenden Luftangriff auf Freiburg Ende November 1944 ausgelagert worden war. Heidegger antwortete sogleich. "Wie die Stimme des Dichters aus seinem Turm am heimatlichen Strom" hätten ihn Stadelmanns Worte erreicht. Tübingen sei für ihn "atmosphärisch sehr lockend", was könne schöner sein als "in der eigenen Heimat im Element Hegels, Schellings und vor allem Hölderlins" das eigene Denken "in seine gemäße Gestalt bringen zu dürfen". Nirgendwo sonst als "in unserem schwäbischen Land" werde dereinst nämlich "der abendländische Geist erwachen". Kein Sterbenswörtchen über die jüngste Vergangenheit und das eigene Mittun im Nazi‑Staat. Heidegger richtet den Seherblick unverwandt in die Zukunft: "Alles denkt jetzt den Untergang", philosophiert er privatissime für den einstigen Weggefährten, doch "wir Deutschen können deshalb nicht untergehen, weil wir noch gar nicht aufgegangen sind und erst durch die Nacht hindurch müssen." Zunächst aber mußte Heidegger sich im peinlich hellen Licht der "épuration" präsentieren, jenem politischen Selbstreinigungsprozeß der Universitäten, für den die französische Militärregierung die Rechtsgrundlage geschaffen hatte. In Freiburg war der ehemalige Rektor Heidegger, der die dortige Universität 1933 zur ersten "Führeruniversität" Deutschlands gepaukt und der "wachsenden Verjudung" der Wissen-schaft getrotzt hatte, der prominenteste Fall. Bereits am 23. Juli 1945, wenige Tage nach dem Brief an Stadelmann, stand der berühmte Philosoph das erste Mal vor einer "Berei- nigungskommission". Die Anfrage aus Tübingen war also vorsorglich gewesen. Stadelmann mußte geahnt haben, in welcher Klemme Heidegger steckte; denn er wußte wie kein zweiter, was sich während Heideggers Rektorat abgespielt hatte. Rudolf Stadelmann, den Eduard Spranger 1949 bei seinem frühen Tod "einen unserer geistvollsten Historiker" nannte, war 1938 nach Tübingen gekommen. Er lehrte zuvor in Göttingen, wo Heidegger ihn mit einem weltanschaulich lupenreinen Zeugnis auf einen Lehrstuhl befördert hatte. Als junger Privatdozent hatte Stadelmann in Heideggers Freiburger Rektoratsjahr 1933/34 die programmatische Ringvorlesung "Aufgaben des geistigen Lebens im nationalsozialistischen Staat" eröffnen dürfen. Stadelmann war für Heidegger so etwas wie die reinste, hoffnungsvollste Verkörperung des NS‑Dozenten‑Nachwuchses gewesen, gefolgschaftstreu und zuverlässig. Kein Wunder, daß er ihn 1933 außerdem zum Pressesprecher seines Rektoramtes ernannt hatte. Mit unbeschädigtem Ruf sprang Stadelmann in Tübingen über das Kriegsende hinweg. Er konnte sich als Mann des Neuanfangs empfehlen und auf dem Sessel eines Dekans die Richtung der Universität mitbestimmen. Würde er Martin Heidegger aus dessen Lage befreien können? Am 8. November 1945 nahm der Tübinger Ministerialrat Hans Rupp, rechte Hand von Kulturdirektor Carlo Schmid, folgende Notiz zu den Akten: Capitaine René Cheval, französischer Kontrolloffizier in Tübingen, habe ihm mitgeteilt, daß die Militärregierung es begrüße, "wenn Professor Heidegger auf einen philosophischen Lehrstuhl in Tübingen berufen würde". Dies sei kein Befehl, sondern eine Anregung, die Fakultät sei in ihren Berufungswünschen völlig frei. Aber wenn man Heidegger wolle, so hätten die Franzosen nichts dagegen. Schon in seinem ersten Brief an Stadelmann vom 20.Juli 1945 hatte Heidegger damit geprahlt, wie berühmt er in Frankreich sei. In der Tat hatte eine Pariser Zeitschrift gleich nach dem Krieg Unveröffentlichtes aus seiner Feder begehrt, und mit dem Einverständnis hoher Besatzungsoffiziere war er sogar um Kommentare zur politischen Lage gebeten worden. Heidegger stand also in französischer Gunst. Erst im Herbst 1945 sollte sich das Blatt wenden. In den ersten Wochen der "épuration" schien es noch so, als komme er glimpflich davon. Im September empfahl die Kommission, Heidegger zu emeritieren und ihm "beschränkte Lehrtätigkeit" zu erlauben. Gleichzeitig bescheinigte ihm die Militärregierung "disponibilité", also eine derart geringe Belastung, daß er volle Rehabilitierung erwarten durfte. Dagegen wehrten sich im Oktober 1945 einige Freiburger Professoren, die die rücksichtslose Machtentfaltung des Rektors Heidegger 1933 nicht vergessen hatten. Unter anderem beharrten sie darauf, daß Heidegger als intellektueller Verführer junge Gelehrte wie Stadelmann oder Wolfgang Schadewaldt auf die abschüssige Bahn geführt habe und am "politischen Verrat deutscher Universitäten" maßgeblich beteiligt gewesen sei. Dafür müsse er bestraft werden. Nicht lange nach dieser für Heidegger unangenehmen Wende pries Capitaine Cheval den bedrängten Philosophen in Tübingen an. Cheval kannte den Ehrgeiz von Kulturdirektor Carlo Schmid, in der kleinen Stadt am Neckar die beste Universität Deutschlands zu errichten. Dementsprechend Schmids Berufungspolitik. Nur edle Köpfe durften es sein: Butenandt, Spranger, Guardini, Thielicke, Glasenapp, Otto und Kretschmer. Würde nicht auch Heidegger gut in diese Nomenklatur passen? Die für Wissenschaft und Kultur, Erziehung und Unterricht zuständige Schmid‑Behörde in der Tübinger Nauklerstraße genoß gewisse Entscheidungsfreiheiten. Allerdings mußte sie ihre Wünsche von der französischen Militärregierung absegnen lassen. Im Fall Heidegger war dies das geringste Problem, denn die Franzosen hatten ihr Plazet ja schon vorauseilend erteilt. Es gab aber noch einen dritten Machtfaktor, der bei Neuberufungen zu beachten war: der wiedereingesetzte Universitätssenat. Die erste Berufungsliste, die am 23. November 1945 in der Philosophischen Fakultät diskutiert wird, sieht ganz so aus, als hätten die Heidegger‑Freunde sich leichtes Spiel ausgerechnet: der Meister aus Freiburg an erster Stelle, hinter ihm sein früherer Schüler Gerhard Krüger, und zwar, laut Zusatz, "mit Abstand". Das Protokoll erwähnt aber auch Widerspruch: Der Geschichtsprofessor Heinrich Dannenbauer nennt Heidegger philosophisch "unver-ständlich" und politisch "nicht unbelastet". Dekan Stadelmann erwidert, Heideggers Kompliziertheit dürfe einer Berufung nicht im Weg stehen, "denn zur propädeutischen Einführung seien andere da". Dannenbauers zweiten Einwand schmettert Stadelmann mit dem Hinweis ab, Heidegger sei "politisch geschützt". Dannenbauer bleibt der einzige, der gegen den Vorschlag stimmt. Anderntags steht die Fakultätsliste auf der Tagesordnung des Senats. Hier wird der Vorschlag Heidegger von vier Professoren "stark angegriffen". Es bildet sich eine Front, die nicht mehr aufzuweichen sein wird. Die beiden Sprecher der Oppositionspartei verdienen es, kurz vorgestellt zu werden: Da ist zunächst wieder der Historiker Heinrich Dannenbauer, 48. Er trat bereits 1932, also noch ein Jahr früher als Heidegger, der NSDAP bei. Als Parteigünstling wurde er im Juni 1933 der Universität Tübingen von der Stuttgarter Kultusbürokratie als Ordinarius aufgenötigt. Doch ausgerechnet dieser Professor legte sich in Tübingen mit den Nazis an wie kein zweiter: Er verteidigte sein Fach gegen die völkisch‑mythisierende Geschichtsbetrachtung und widersetzte sich der Nazifizierung der Universität. Mehrfach stand er vor der Amtsenthebung, die braune Studentenschaft machte nicht nur einmal gegen ihn mobil. Doch mit Courage korrigierte Dannenbauer noch während der Nazi‑Herrschaft seinen Fehler von 1932/33. Dennoch mußte er für ihn bezahlen: Von 1946 bis 1949 war er suspendiert. Heideggers Hauptgegner im Senat ist Erich Kamke, 55, Professor für Mathematik und schon 1933 "Nazi‑Hasser und überzeugter Demokrat" (so nannte Theodor Eschenburg ihn). Kamke war in der Zeit der "Führeruniversität" zu keinerlei Konzession bereit, er rief nicht "Heil Hitler!", hob nicht den Arm zum "Deutschen Gruß" und verzichtete überhaupt auf jedes "Zeichen einer auch nur äußerlichen Bejahung", wie seine Fakultät später anerkennend schrieb. Kamke war mit einer Jüdin verheiratet, galt also nach dem Beamtengesetz der Nazis als "jüdisch versippt" und wurde im Jahr 1937 "entpflichtet", das heißt: ohne Bezüge entlassen. Im Juni 1945 wurde er wieder in sein altes Amt eingesetzt. Kamke und Dannenbauer nun bereiten in der Senatssitzung vom 24. November 1945 dem Philosophen‑Dekan Stadelmann eine erste Niederlage. Die Berufungsliste mit Martin Heidegger auf Platz eins wird von der Senatsmehrheit (23:13) an die Fakultät zurückverwiesen. Stadelmann, derart brüskiert, legt dem Senat eine Woche später eine neue Liste vor. Heidegger steht jetzt nur noch auf dem zweiten Rang, vor ihm der ehrwürdige Nicolai Hartmann, hinter ihm Heinrich Scholz aus Münster, auf Platz vier abgerutscht der junge Gerhard Krüger. Stadelmann geht diesmal diplomatischer vor: Die Fakultät wisse, daß Heidegger, dieser "notwendig einseitige" Denker, in Tübingen Feinde habe. Doch ein Mann wie er, von solch faszinierender Lehrwirkung und Sprache, sei gegen Mißverständnisse weniger gefeit als andere. Zweifellos aber werde Heidegger sich "als eine aufrüttelnde Kraft gerade unter der geistig träge gewordenen Jugend der Nachkriegszeit bewähren". Und so verläuft die Diskussion in der Senatssitzung vom 1. Dezember 1945: Nachdem Berichterstatter Theodor Steinbüchel beantragt hat, den geänderten Vorschlag anzunehmen, wundert sich Kamke laut Protokoll, "daß Heidegger wieder auf der Liste ist". Dannenbauer bemerkt, die neue Liste sei ungefähr die alte, die nun benannten Philosophen Hartmann und Scholz seien zu bejahrt, daher würden wieder nur Heidegger und Krüger übrigbleiben. Guardini, Littmann und später auch Kluckhohn sprechen sich für Heidegger aus, der stets "gegen das Negative" eingestellt gewesen sei und sich längst von der Nazi‑Partei abgewandt habe. Knoop warnt, den "ungünstigen Eindruck" überzubewerten, den Heidegger bei einem Tübinger Vortrag hinterlassen habe. Kamke aber hält seine Forderung aufrecht, Heidegger von der Liste zu streichen, worüber unkorrekterweise nicht einmal abgestimmt wird. Mit 31:8 votiert der Senat schließlich für den Vorschlag der Fakultät. Kamke kündigt einen Sonderbericht an, der dem Rektor wie auch Kulturdirektor Schmid vorgelegt werden soll. Von welchem Tübinger Vortrag war da die Rede? Die Legende weiß, daß Heidegger im Herbst 1945 inoffiziell in Tübingen gesprochen und das Bild eines Verwirrten geboten habe: Kunstdünger und Gaskammer, soll er gesagt haben, seien ein und derselbe Ausdruck zeitgenössischer Seinsvergessenheit. Victor Farias nimmt indessen an, daß mit "Tübinger Vortrag" jene Rede gemeint ist, die Heidegger als Freiburger Rektor am 30. November 1933 unter dem Titel "Die Universität im nationalsozialistischen Staat" im Tübinger Vortragssaal "Museum" gehalten hat. Der Bericht, den Erich Kamke am 1. Dezember 1945 im Senat angekündigt hatte, wurde zwei Tage später fertig. Er begründet detailliert das "Sondervotum" von sieben Professoren, die "mit Nachdruck bitten, von Heideggers Berufung nach Tübingen abzusehen". Kamke charakterisiert Heidegger als dunklen, abstrusen Denker und liefert auch Belegzitate: "Die Nichtung läßt sich nicht in Vernichtung und Verneinung aufrechnen. Das Nichts selbst nichtet." Solche Sprache, solches Denken seien ein Symptom der "Pathologie unserer Zeit". Heidegger, der "Prophet der Zeitkrisis", stelle eine Gefahr für die gegenwärtige Generation dar. Während des Rektorats von 1933/34, so Kamke weiter, habe Heidegger sich als "höchst aktiver Nationalsozialist" ins Zeug gelegt, die Universitätsverfassung zerschlagen und das Führerprinzip durchgesetzt. Heidegger habe einen "nicht unwesentlichen Teil von Schuld für die jetzigen Leiden unseres Volkes zu tragen". Die Berufung eines so belasteten Mannes wäre im übrigen eine "Kränkung" aller kurz zuvor aus politischen Gründen gefeuerten Kollegen (1945/ 46 mußten in Tübingen insgesamt 29 Professoren gehen). Senatsberichterstatter Steinbüchel haut in dieselbe Kerbe, wenn er dem Kulturdirektor eine Berufung Heideggers als Ungerechtigkeit gegen den suspendierten Lehrstuhl‑Vorgänger Haering schildert. Bei allen Mitläufern und kleinen Funktionsträgern des Nazismus wurde zu dieser Zeit ein strenger Maßstab angelegt. Ehemalige Wehrmachts‑Offiziere, HJ‑Führer oder Angehörige der Waffen‑SS blieben vom Studium ausgeschlossen. Konnte man da einen Heidegger auf die Lehrkanzel bitten? Anfang 1946 verschlechterte sich Heideggers Lage. Die Bereinigungskommission hatte neue Beweise gegen ihn gefunden, und am 19. Januar fällte der Freiburger Senat sein Urteil: Emeritierung unter Entzug der Lehrbefugnis; außerdem wurde Heidegger Zurückhaltung in der Öffentlichkeit auferlegt. Vier Tage danach schrieb er seinen letzten Brief nach Tübingen: Stadelmann möge die Sache nun ruhen lassen. Der Ausweg war verstellt.
Aber noch bevor das Freiburger Urteil erging, war in Tübingen eine eigenständige Entscheidung gefallen. Am 11. Januar 1946 informierten Fakultät und Senat Carlo Schmids Behörde, daß Gerhard Krüger Tübingens vornehmsten Philosophie‑Lehrstuhl erhalten solle. Und so geschah es auch. Ein Kompromiß? Kamkes Sieg? Für Heidegger kam es in Freiburg indessen noch dicker, auch die Franzosen zogen ihre schützende Hand von ihm, und er mußte fast fünf Jahre warten, bis er offiziell wieder lesen durfte und seine große Zweitkarriere begann. Mythisch umhüllte er, was da 1945/46 abrollte. Zum Abschied von Stadelmann gab er noch einmal Hölderlin das Wort: "Lang ist / die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre." Kurt Oesterle |