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Werte in der Wissenschaft | |
aus: Heft 3/2015, S. 20-35
Alexander Christian/Gerhard Schurz: Zur Geschichte des Werturteilsstreits in der Wissenschafts- und Sozialphilosophie Wertfreiheit und Wertbezogenheit von Wissenschaft wie auch die Idee der Freiheit der Forschung sind immer wieder kontrovers diskutiert worden ([1], Kapitel 3). In der Wissenschafts- und Sozialphilosophie ab dem 20. Jahrhundert können drei Phasen des Werturteilsstreits ([2], S. 7; [3]) unterschieden werden. Er beginnt mit einer Kontroverse zwischen Max Weber und Gustav Schmoller ([4], S. 37). Weber, einer der Gründerväter der deutschsprachigen Soziologie, trat im ersten Werturteilsstreit (1913-1917) entschlossen für die Freihaltung der akademischen Lehre von den Wertvorstellungen des Lehrenden ein ([4], S. 37). Im Unterschied zu „Kathedersozialisten“ wie Gustav Schmoller, die normativen Phänomenen einen besonderen Stellenwert zur Beschreibung und Planung ökonomischer Entwicklungen zusprachen und Werturteile als legitimen Bestandteil ihrer Lehrtätigkeit ansahen, lehnte Weber die überzeugte Verkündung sittlicher Urteile durch Wissenschaftler ab. Wertungen einerseits und Beschreibungen sozialer Phänomene andererseits seien klar voneinander zu trennen. Der Grund hierfür liegt in der Art und Weise, wie Werturteile gerechtfertigt werden: Da sie sich weder als logische Wahrheiten erweisen lassen, noch durch erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse strikt begründbar sind, sondern vielmehr durch subjektive Intuitionen, Interpretationen und Weltanschauungen begründet werden, bestehe keine Möglichkeit einer verbindlichen Klärung von Wertfragen ([2], S. 8). Politische Auseinandersetzungen, etwa über die Frage nach einer gerechten Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft, können folglich nicht allein durch sozialwissenschaftliche Expertise entschieden werden. Schon früh (1909) entzündete sich zwischen Weber und Schmoller ein Streit um die Frage, ob das Bruttosozialprodukt ein brauchbarer Indikator für den Wohlstand des Volkes sei ([3], S. 79). Weber verneinte dies und zeigte, dass eine Zunahme von Produktivität nicht unbedingt zu mehr Wohlstand führt und der Indikator die Verteilung von Gütern in einer Gesellschaft unberücksichtigt lässt. Die Wertneutralitätsforderung Webers kann als Minimalforderung zur Wahrung wissenschaftlicher Objektivität begriffen werden. Selbst wenn die wissenschaftspolitische Entscheidung gefällt wurde, dass Werturteile vom Katheder aus legitim sind, gilt trotzdem die Minimalforderung, dass Hochschullehrer objektive Sachurteile und subjektive Werturteile säuberlich trennen sollen. Werde diese Minimalforderung nämlich nicht befolgt, öffne die Freiheit der akademischen Lehre ideologischer Indoktrination Tür und Tor. Gleichzeitig schließt Weber praktische Werturteile nicht gänzlich aus den Wissenschaften aus: Erstens kann die Beschreibung eines faktisch vorliegenden Wertesystems in einer Gesellschaft ein sozialwissenschaftlicher Forschungsgegenstand sein, zweitens können aus Wissen über vorliegende Wertsysteme mit logischen Mitteln allgemeinste Wertvoraussetzungen rekonstruiert und logische Folgen hieraus hergeleitet werden und drittens erlaubt es die Expertise von Wissenschaftlern, Mittel zur Realisierung vorgegebener Zwecke und deren Nebenfolgen zu erörtern. Webers Forderung der Wertfreiheit der Wissenschaft schließt somit nicht aus, dass Wissenschaftler wichtige Beiträge zur Klärung von Wertfragen leisten. Sie liefern nämlich Wissen über Wirkzusammenhänge und Tatsachenbeschreibungen der Natur und der sozialen Wirklichkeit, womit sie den Teilnehmern von Diskussionen über normative Fragen eine gemeinsame Diskussionsgrundlage bereitstellen. Ein zweiter Werturteilsstreit, der in der Literatur auch als „Positivismusstreit“ bezeichnet wird, fand in den 1960er und 1970er Jahren statt und wurde hauptsächlich zwischen Vertretern der kritischen Theorie (Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas) und jenen des kritischen Rationalismus (Karl R. Popper und Hans Albert) geführt. Gegenüber dem ersten Werturteilsstreit, der um die Frage der Wertfreiheit der Sozialwissenschaft in Forschung und Lehre kreiste, wurden im Positivismusstreit eine Reihe neuer Themen erörtert, so etwa das Verhältnis von Sozial- und Naturwissenschaften, der Umgang mit der Wissenssoziologie und dem darin aufkommenden Verdacht der sozialen Konstruktion von Erkenntnisansprüchen sowie das Verhältnis von Logik und Dialektik ([3], S. 89). Eine Kontinuität, die die historiographische Einordnung des Positivismusstreits als Folge des ersten Werturteilsstreits berechtigt, liegt jedoch erst mit dem wiederholten Aufgreifen der Frage nach der Möglichkeit und Angemessenheit wertfreier Wissenschaft durch Habermas und Albert vor. Im Verlauf der Diskussion, die im Herbst 1961 mit einer internen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie unter der Organisation von Ralf Dahrendorf begann, wurde dem Thema der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft in Vorträgen von Popper und Adorno wenig Aufmerksamkeit zuteil ([3], S. 97). Albert und Habermas wandten sich dagegen ab Mitte der 1960er Jahre wiederholt der Frage der Wertneutralität zu. Während es Vertreter in der Traditionslinie der kritischen Theorie Horkheimers und Adornos als Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften ansahen, die gesellschaftlichen Verhältnisse einer Ideologiekritik zu unterziehen und Missstände anzuprangern, bemühte sich Albert um eine empirisch-wertneutrale Sozialwissenschaft, deren Nutzen zur Ideologiekritik gerade in der Bereitstellung von Wissen um die faktischen Zustände der Gesellschaft besteht. Eine paradigmatische Gegenposition zur Forderung wissenschaftlicher Wertneutralität wurde in dieser zweiten Runde von Habermas eingenommen, der in seinem Aufsatz Erkenntnis und Interesse (1965) Forschungsrichtungen gemäß ihrer zugrundeliegenden erkenntnisleitenden Interessen kategorisierte ([6], S. 64-7). Empirisch-analytische Wissenschaften seien auf erfolgskontrolliertes Handeln ausgerichtet, historisch-hermeneutische Wissenschaften strebten hingegen nach Sinnverstehen und Erreichung von Intersubjektivität und praktischem Konsens zwischen Mitgliedern der Gesellschaft. Beide Wissenschaftszweige unterzieht Habermas einer erkenntnistheoretischen Kritik, die auf einer skeptischen Haltung bezüglich subjektunabhängiger Tatchen basiert: Weder im Bereich der empirisch-analytischen Wissenschaften, noch im Bereich der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ließe sich Objektivität erzielen, die einen ungetrübten Blick auf die natürliche Welt bzw. Kulturtatsachen zuließe, der frei von partikularen Interessen der Forscher sei. Habermas kritisiert im Einzelnen den objektivistischen Schein von Basissätzen, denen der Empirismus unterstelle, Abbildungen von Tatsachen ohne subjektive Erkenntnisvoraussetzungen zu liefern ([5], S. 65). Basissätze sind dem Empirismus zufolge Aussagen, deren Zutreffen durch einfache Beobachtungsakte intersubjektiv in übereinstimmender Weise entschieden werden kann. Ein Beispiel wäre die Aussage von Person A zum Zeitpunkt t am Ort O: „Vor mit liegt ein roter Apfel.“ Habermas zufolge sind Basissätze jedoch keine neutrale Abbildung von subjektunabhängigen Tatsachen, sondern Ausdruck des Erfolges oder Misserfolges vorrangig entschiedener Operationen wissenschaftlicher Methoden, die auf spezifische Erkenntnisziele ausgerichtet sind ([5], S. 65). Ähnliches behauptet er auch über den Objektivitätsanspruch der historisch-hermeneutischen Wissenschaften, deren Interpretationen – etwa von tradierten Texten – maßgeblich auf vorgegebenen Überzeugungen und methodischen Entscheidungen über Interpretationsverfahren basieren ([5], S. 66). In Anbetracht solcher Überlegungen weist Habermas auf die Notwendigkeit hin, die Interessenbedingtheit von Erkenntnisansprüchen zu hinterfragen. Er fordert eine kritische Sozialwissenschaft, die sich nicht in den Zielen der genannten Forschungsrichtungen erschöpft. Vielmehr sollten die Sozialwissenschaften Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse aufdecken und zu ihrer Beseitigung beitragen ([5], S. 66-7), worin ihr emanzipatorisches Handlungsmotiv zum Ausdruck kommt. Im Wesentlichen besteht das Spannungsfeld zwischen Vertretern der wissenschaftlichen Wertneutralität und ihren Kritikern, in das die beiden Autoren eingeordnet werden können, auch noch 50 Jahre nach dem Ende des Positivismusstreits. Mittlerweile kann jedoch von einer dritten Phase des Werturteilsstreits gesprochen werden ([2], S. 7), in der neuartige Argumente zur Frage der Wertfreiheit versus Wertbezogenheit der Wissenschaften erörtert werden. Der Wissenschaftler qua Wissenschaftler fällt Werturteile Als Initialzündung des dritten Werturteilsstreits in der englischsprachigen Werturteilsdebatte kann Richard Rudners Artikel The Scientist qua Scientist Makes Value Statements (1953) betrachtet werden. Darin wird ein neuartiges Argument gegen die Ansicht entwickelt, dass der Begründungsprozess der Wissenschaft frei von wissenschaftsexternen Werten sei. Rudner macht zwei Annahmen, um zu zeigen, dass Wissenschaftler gezwungen sind, Werturteile zu fällen ([6]). - Erstens werden die meisten wissenschaftlichen Hypothesen nicht mit Sicherheit als wahr erwiesen, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gestützt. Wenn jedoch die Akzeptanz einer Hypothese nicht mit Sicherheit durch die empirischen Daten verbürgt ist, sondern diese nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für ihre Akzeptanz sprechen, dann geht mit der Akzeptanz einer Hypothese immer ein gewisses Irrtumsrisiko einher. Dieses Risiko, eine Hypothese in Anbetracht gesammelter Beobachtungsdaten als wahr zu akzeptieren, obwohl ein Irrtum vorliegen könnte, bezeichnete Carl G. Hempel auch als induktives Risiko ([7], S. 133). - Zweitens ist der Versuch der Bestätigung einer Hypothese in der Wissenschaft kein Selbstzweck, sondern auf einen praktischen Nutzen hin ausgerichtet. Wenn wir eine Hypothese als wahr akzeptieren, dann impliziert dies auch die Bereitschaft, gemäß dieser akzeptierten Hypothese zu handeln. Das Irrtumsrisiko — dies ist der entscheidende Punkt — geht nun im Irrtumsfall mit negativen und im Wahrheitsfall mit positiven Konsequenzen einher, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Nur durch die Abwägung positiver und negativer Konsequenzen von Handlungen, die aus der wahrscheinlichkeitsabhängigen Akzeptanz einer Hypothese folgen, können wir nach Rudner die Frage beantworten, welche Risiken wir bei der Entscheidung für oder gegen die Annahme von Hypothesen eingehen möchten. Offensichtlich fließen bei solchen Abwägung Werte in den Forschungsprozess ein, die außerhalb der Expertise von Wissenschaftlern liegen. Wissenschaftler, so argumentiert Rudner, müssen bei der Wahl eines annehmbaren Irrtumsrisikos erwünschte und unerwünschte Folgen von Handlungen bewerten, die im Bereich des Möglichen liegen. Folglich fällen sie, um über die Akzeptanz von wissenschaftlichen Hypothesen Aussagen machen zu können, notwendigerweise Werturteile. Dass in praktischen Zusammenhängen wissenschaftsexterne Werte notwendig sind, um ein akzeptables Irrtumsrisiko zu bestimmen, lässt sich leicht illustrieren. Bei der Herstellung von mundgeblasenen Karaffen aus venezianischem Glas, die hohe Personal- und Materialkosten involviert, könnte ein Irrtumsrisiko von 5% für die Annahme der Hypothese, dass eine Karaffe am Ende des Fertigungsprozesses nicht beschädigt wird, inakzeptabel scheinen. Im Vergleich dazu könnte jedoch ein Risiko von 5% für den Eintritt des Schadensfalls bei der maschinellen Fertigung von Wasserflaschen durchaus akzeptabel gelten, weil die anfallenden Kosten geringer sind. Die Folgerung, dass selbst die Hypothesenakzeptanz von externen Werten abhängt, wurde von einem bekannten Zeitgenossen Rudners kritisiert, nämlich Richard Jeffrey. Dieser schlug vor, dass sich Wissenschaftler auf die Angabe der Irrtumsrisiken der von ihnen untersuchten Hypothesen beschränken sollten. Die wissenschaftsexterne Bewertung bestimmter Risiken sollte erst durch die Wissensanwender erfolgen. Philosophen wie Heather Douglas und Thorsten Wilholt weisen diese Antwort auf Rudners Argument mit dem pragmatischen Argument zurück, dass gerade Wissensanwender von Wissenschaftlern erwarten, mit wahren Hypothesen versorgt zu werden ([8], [9]). Eine Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern, die Irrtumsrisiken von Hypothesen angeben, und Wissensanwendern, die Hypothesen vor diesem Hintergrund akzeptieren oder verwerfen, widerspreche somit einer plausiblen Erwartungshaltung an die Wissenschaft. Auch Rudner griff Jeffreys Vorschlag der Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Wissensanwendung auf und entwickelte ein epistemisches Gegenargument: Die bloße Angabe des Irrtumsrisikos einer Hypothese, auf die sich nach Jeffrey Wissenschaftler beschränken sollten, impliziert die Akzeptanz der betreffenden Wahrscheinlichkeitshypothese, nämlich des angegebenen Irrtumsrisikos. Angewandt auf das genannte Beispiel müsste sich ein Ingenieur, der mit dem Produktionsprozess von Wasserflaschen betraut wurde, nach Jeffrey auf die Angabe beschränken, dass das Risiko für beschädigte Flaschen bei 5% liegt. Damit, so Rudners epistemisches Gegenargument, akzeptiert er jedoch die Hypothese, dass das Risiko faktisch bei 5% liegt. Liegt hier ein unendlicher Regress vor? Schurz ([10], S. 329-30) zufolge ist dem nicht so. Die Annahme eines „Risikos 2. Stufe“, in Form einer Wahrscheinlichkeitsbewertung 2. Stufe für Irrtumswahrscheinlichkeiten, führt lediglich zu einem differenzierten Risikourteil der Form „mit 95% Wahrscheinlichkeit liegt das Irrtumsrisiko der Hypothese zwischen 4% und 6% und sein wahrscheinlichster Wert beträgt 5%“. Auf der zweiten Regressebene beträgt das Irrtumsrisiko also immer noch etwa 5%: es kommen lediglich die „Konfidenzintervallgrenzen“ von ± 1% hinzu. Auch Carl G. Hempel, der eine verfeinerte Version der Wertneutralitätsthese entwickelte, diskutiert Rudners Argument für die Notwendigkeit von Werturteilen im wissenschaftlichen Begründungsprozess innerhalb seines Ansatzes ([7], S. 132). Nach Hempel haben die deskriptiven Wissenschaften eine fundamentale Funktion zur Etablierung instrumenteller Werturteile. Damit sind Empfehlungen geeigneter Mittel gemeint, die Wissensanwender übernehmen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Der zentrale Punkt ist dabei, dass Wissenschaftler qua ihrer Expertise zwar über Mittel zur Erreichung von Zielen informieren, aber keine wertende Aussage über die zu erreichenden Ziele machen, denn dafür müssten sie wissenschaftsexterne Werte bemühen. Kategorische Werturteile über bestimmte Ziele, etwa das von einem Pädagogen angenommene Bildungsziel der Autonomie von Schülern, sind keiner erfahrungswissenschaftlichen Begründung fähig, anders als Aussagen über notwendige und optimale Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele, deren werthafte Annahme klar deklariert sein muss ([7], S. 122). Obwohl nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar, sind werthafte Annahmen dennoch rational kritisierbar und können revidiert werden. Hempel grenzt sich in dieser Hinsicht von einem übertriebenen Nonkognitivismus ab und überantwortet die Klärung moralischer Kontroversen keinesfalls einem moralischen Anarchismus. Wissenschaftler können auch hier wertvolle Beiträge leisten, indem sie etwa Wissen über erwünschte und unerwünschte Folgen der Anwendung von Zweck-Mittel-Empfehlungen bereitstellen, das bei der rationalen Diskussion von Wertfragen relevant ist ([7], S. 122-3). Innerhalb dieses Rahmens werden auch Rudners Überlegungen gewürdigt. Zwar gesteht Hempel in seinem Aufsatz Wissenschaft und menschliche Werte (1960) zu, dass unter den Gründen für die Akzeptanz einer Hypothese auch Wertannahmen sein können, jedoch wird deren Bedeutung relativiert. Im Kontext der Unterscheidung von Regeln der Bestätigung und Regeln der Akzeptanz erwidert er, dass die Bewertung der Wahrscheinlichkeit von Hypothesen bei vorliegenden Evidenzen nicht von externen Wertungen abhängt. Lediglich bei der Akzeptanz von unsicheren Hypothesen sind die praktischen Folgen zu berücksichtigten. Im Gegensatz dazu sind ausschließlich epistemische Werte entscheidend, wenn es um die Bestätigung von Hypothesen geht ([7], S. 133-5). Epistemische Werte, die auch als ‚epistemische Tugenden’ bezeichnet werden, sind auf Erkenntnis ausgerichtete Wertvorstellungen und beziehen sich auf wissenschaftliche Theorien bzw. Hypothesen. So werden beispielsweise in der Wissenschaft Theorien geschätzt, die erfolgreiche Voraussagen erlauben. Solche Theorien werden auch als ‚empirisch adäquat’ bezeichnet, weil ihre Voraussagen mit den Beobachtungen übereinstimmen. Nicht-epistemische Werte im wissenschaftlichen Begründungsprozess Das Argument Rudners, das den Einfluss externer Werte auf die Akzeptanz von Hypothesen verdeutlicht, wurde von einer Reihe von Philosophen und Philosophinnen aufgegriffen. Sie haben dessen Überlegung ausgebaut und zudem unabhängige Argumente gegen die Möglichkeit wissenschaftlicher Wertneutralität entwickelt. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Rolle nicht-epistemischer Werte im wissenschaftlichen Begründungsprozess zu, welche die modernen Vertreter wissenschaftlicher Wertneutralität vor Herausforderungen stellen. Douglas, deren pragmatisches Argument für Handlungsempfehlungen durch Wissenschaftler bereits angesprochen wurde, führt die Überlegungen von Rudner weiter: Nicht nur bei der Entscheidung über die Akzeptanz einer Hypothese fließen externe Werturteile ein, sondern auch in vielen anderen Schritten im Forschungsprozess, beispielsweise bei der Beschreibung gewonnener Daten und der Interpretation von Ergebnissen ([9], S. 152). So entscheiden sich Forscher für bestimmte Forschungsmethoden und bewerten dabei Irrtumsrisiken, die mit ihren methodologischen Entscheidungen einhergehen. Douglas verdeutlicht diesen Befund in ihrem Artikel Induktives Risiko und Werte in den Wissenschaften mit einer Fallstudie zur Festlegung des statistischen Signifikanzniveaus im Kontext der Forschung über die karzinogene Wirkung von Dioxin ([9], S. 158-64): Durch die Wahl eines mehr respektive weniger strikten Signifikanzstandards wird die Gefahr falscher Zusammenhangshypothesen (false positives) respektive falscher Nullhypothesen (false negatives) verringert. Wird ein Signifikanzniveau von 1% gewählt, dann wird bei der statistischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Konsum von Dioxin und der Entstehung von Krebs das Risiko minimiert, fälschlicherweise Krebsfälle zu diagnostizieren. Wird hingegen ein schwächeres Signifikanzniveau verwendet (5% oder mehr), dann wird das Risiko minimiert, fälschlicherweise Krebsfälle zu übersehen. Solche methodologischen Erwägungen sind im Kontext politischer Diskussionen von Grenzwerten für Substanzen relevant, die potentiell gesundheitsgefährdend sind. Da bei gleichbleibendem Umfang der zugrundeliegenden Stichproben nicht beide Risiken gleichzeitig minimiert werden können, muss zwischen politischer Überregulation und Unterregulation abgewogen werden. Die Frage der Wahl eines richtigen Signifikanzniveaus hängt nach Douglas von externen Werten ab und ist gegebenenfalls anfällig für politische oder kommerzielle Interessen. So könnten Interessengruppen von Dioxingeschädigten für ein schwächeres Signifikanzniveau plädieren, weil sie das Risiko der Überregulation als keinen triftigen Grund ansehen, die Gesundheit der Konsumenten zu riskieren. Umgekehrt könnten Dioxinproduzenten für ein höheres Signifikanzniveau argumentieren, weil die politische Überregulation ökonomische Schäden nach sich ziehen könnte. Forscher fällen also nicht nur in externen Phasen des Forschungsprozesses Werturteile, d. h. beispielsweise bei der Wahl von Forschungszielen und der Anwendung neuer Methoden, sondern sind von ihnen auch in Zwischenstadien und Vorstufen des wissenschaftlichen Begründungsprozesses beeinflusst ([9], S. 164). Neben Argumenten, die auf dem Problem der bei Akzeptanzentscheidungen involvierten Risiken basieren, wurden auch unabhängige Argumente für eine aktive Berücksichtigung von externen Werten im Forschungsprozess vorgebracht ([11]). Die feministische Wissenschaftsphilosophin Helen Longino geht dabei von einem klassischen Problem der Wissenschaftstheorie aus, das von Willard V. O. Quine und Pierre Duhem popularisiert wurde, nämlich der Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Hypothesen durch empirische Daten. Darunter wird das Phänomen verstanden, dass in der Wissenschaft oftmals alternative Hypothesen oder Theorien existieren und die empirischen Daten kein eindeutiges Urteil zulassen, welche Hypothese oder Theorie gewählt werden sollte. Mit anderen Worten, die empirischen Daten legen die Wahl einer Alternative nicht mit Bestimmtheit fest. Um mit solchen Situationen umzugehen, bemühen Wissenschaftler sogenannte superempirische Werte (bzw. Tugenden), die als Kriterien zur Wahl empirisch gleichwertiger Alternativen dienen. Traditionellerweise werden in Fällen der empirischen Unterbestimmtheit von Hypothesen drei superempirische Eigenschaften herangezogen, nämlich Einfachheit, explanatorische Vereinheitlichungskraft und die Konsistenz mit akzeptierten Hintergrundannahmen ([11], S. 215). Longino unterzieht diese Werte, die traditionellerweise in der Wissenschaftstheorie als epistemische angesehen werden, einer rigorosen Kritik: So bestehe apriori kein Grund zu der Annahme, dass das Universum einfach sei, zumal die Entscheidung für eine einfache Hypothese von unserem Verständnis einer adäquaten Erklärung sowie von konventionellen Vorentscheidungen über die ontologische Vielfalt der Welt abhängt ([11], S. 216-7]. Ähnlich kritisch bewertet Longino die Tugend der explanativen Vereinheitlichungskraft. Zunächst stellt sie fest, dass große Erklärungskraft und Allgemeinheit einer Theorie es wahrscheinlicher machen, dass sie nicht wahr ist. Zudem seien auch unsere Ansprüche an Erklärungsmodelle nicht eindeutig bestimmt. So können Forscher entweder lineare oder unikausale Modellen, die wenige Hauptfaktoren für einen Effekt identifizieren, oder reziproke Modelle, die komplexe Wirkverhältnisse erfassen, bevorzugen ([11], S. 217). Zuletzt sei auch nicht geklärt, warum die Widerspruchsfreiheit mit akzeptierten Hintergrundannahmen als Tugend gelten sollte, wenn die Wahrheit dieser Hintergrundannahmen wiederum vorausgesetzt werden muss. Konsistenz mit Hintergrundannahmen muss nicht zur Selektion von wahrheitsnahen Hypothesen führen, sondern könnte auch ein Ausdruck von Konservativismus und Stillstand sein. Longino bemängelt also, dass für die traditionellen superempirischen Werte nicht verallgemeinernd gezeigt werden kann, dass sie eher zur Wahl von wahren Hypothesen führen. Und mehr noch, es besteht kein Grund, warum nicht auch alternative feministische Werte wie zum Beispiel Neuartigkeit, ontologische Heterogenität, Wechselseitigkeit von Interaktionen und die Bedeutung wissenschaftlicher Hypothesen für die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und die Beseitigung von Ungerechtigkeiten verwendet werden sollten. Zwar teilt Longino mit der klassischen Wissenschaftstheorie die Annahme, dass empirische Adäquatheit ein gutes Kriterium zur Entscheidung zwischen Hypothesen ist, allerdings assoziiert sie mit den klassischen superempirischen Kriterien eine androzentrische Grundhaltung. Zur Illustration dieser Diagnose, in der Wissenschafts- und Sozialkritik zusammenkommen, verweist Longino u. a. auf Beispiele aus der medizinischen Forschung, in der Stichproben, die nur aus hellheutigen männlichen Probanden bestanden, als repräsentativ für die gesamte US-Population betrachtet wurden ([11], S. 218-9). Die einseitige Verwendung des Katalogs superempirischer Werte der traditionellen Wissenschaftstheorie führte hier zu einer Erkenntnisverzerrung, die durch komplementäre Verwendung alternativer feministischer Werte hätte verhindert werden können. Allerdings sind feministische Werte nicht die einzige Alternative zu den klassischen superempirischen Werten. Weitere Möglichkeiten sind beispielsweise religiöse Werte, etc. Insgesamt spricht sich Longino für einen umfassenden Pluralismus der Auswahlkriterien aus. Wertneutralität und soziale Verantwortung der Wissenschaft In Anbetracht der zuvor dargestellten Argumente stellt sich die Frage, wie mit externen und nicht-epistemischen Werten in der Wissenschaft umgegangen werden sollte. Sollten sie gebannt oder in den Forschungsprozess einbezogen werden? Die Beantwortung dieser Frage hat erhebliche Folgen für unser Verständnis von Wissenschaft, die soziale Verantwortung übernehmen soll. Angesprochen wurde bereits Longinos Vorschlag eines umfassenden Pluralismus der Auswahlkriterien, um die Marginalisierung von Interessengruppen zu verhindern und zur Aufdeckung und Auflösung ungleicher Machtverteilungen in unserer Gesellschaft beizutragen. Eine deutliche Gegenposition zu Modellen einer politisierten Wissenschaft, die etwa von postmoderner, sozialkonstruktivistischer oder feministischer Seite aus vertreten werden, entwickelt Noretta Koertge ([12]). Im traditionellen Modell, demzufolge Wissenschaft im Wesentlichen der Erklärung der Welt dient (Wissenschaft-als-Erklärung), sind die Bewertungskriterien auf das epistemische Ziel gerichtet, wahre und gehaltvolle Erklärungen zu finden. Dieses Erkenntnisziel schließt jedoch nicht aus, dass Wissenschaftler einen erheblichen Beitrag zur Erreichung sozialer Zwecke leisten können und aufgrund ihrer Expertise soziale Verantwortung übernehmen. In der Tradition von Karl R. Popper und Hempel stehend weist Koertge darauf hin, dass Forscher auch die praktischen Ziele der Wissensanwender berücksichtigen sollten und durch die Erzeugung von verlässlichen Forschungsergebnissen soziale Verantwortung übernehmen. Das von Koertge bevorzugte Erklärung-plus-Ethik-Modell der Wissenschaft versucht, den erkenntnisschädigenden Einfluss wissenschaftsexterner Interessen im Begründungszusammenhang einzuschränken, fordert aber bei der Wahl von Forschungszielen und im Zusammenhang der Wissensanwendung die Übernahme sozialer Verantwortung ein ([12], S. 247). Gleichzeitig kritisiert Koertge die angesprochenen Modelle politisierter Wissenschaft, wie sie etwa in Longinos Modell von Wissenschaft-als-Emanzipation (das an Habermas erinnert) exemplifiziert sind. Diese Modelle setzen voraus, dass der Einfluss wissenschaftsexterner Interessen im Forschungsprozess unvermeidbar ist, und unterminieren den Objektivitätsanspruch der Wissenschaft. Anstatt zur Aufdeckung und Beseitigung von Erkenntnisverzerrungen beizutragen, die durch den störenden Einfluss ideologischer Interessen bedingt sind, forcieren diese Modelle die Einführung von Werten, die von bestimmten Interessengruppen als progressiv angesehen werden, in alle Phasen des Forschungsprozesses. Im Gegensatz dazu verbietet das Erklärung-plus-Ethik-Modell politisch motivierte Entscheidungen bei der wissenschaftlichen Begründung von Hypothesen und verpflichtet sich auf einen Pluralismus der Problemstellungen ([12], S. 246-50). Auch die spezifische Forderung einer politisierten Wissenschaft, die im Dienst der sozialen Emanzipation stehe, wird von Koertge kritisiert. Ein solches Emanzipationsmodell sei weder durchführbar noch längerfristig konstruktiv. Vielmehr sei es selbstzerstörerisch. Zum einen gebe es, wie Diskussionen über politische, religiöse oder soziale Wertfragen zeigen, anhaltende und anscheinend unauflösbare Streitigkeiten über die `richtigen Werte´, die in einer Gesellschaft gelten sollten. Zum anderen untergräbt der ungehemmte Einlass wissenschaftsexterner Werte in den Forschungsprozess den Objektivitätsanspruch der Wissenschaft. Einer umfassenden Ideologisierung unterworfen wäre Forschung der Gefahr ausgesetzt, Erkenntnis am Maßstab politischer Erwünschtheit zu messen ([12], S. 249). Dass wissenschaftliche Wertneutralität und soziale Verantwortung miteinander kompatible Ziele sind und sogar voneinander profitieren, wird auch von Gerhard Schurz betont ([10]). Da Werte offensichtlich nicht gänzlich aus der Forschung ausgeschlossen werden können, schlägt er die folgende Präzisierung der Wertneutralitätsforderung vor: Ein bestimmter Bereich der Wissenschaften, nämlich ihr Begründungszusammenhang, soll frei sein von fundamentalen wissenschaftsexternen Wertannahmen ([10], S. 313). Die präzisierte Form der Wertneutralitätsforderung setzt eine in der Wissenschaftstheorie übliche Einteilung des Forschungsprozesses in drei Phasen voraus. Unterschieden werden der Entdeckungszusammenhang, in dem Problemstellungen konzipiert werden, der Begründungszusammenhang, in dem Forscher Daten erheben, um Hypothesen zu überprüfen, sowie der Verwertungszusammenhang, in dem gut gesicherte Erkenntnisse zur Erreichung verschiedenster Zwecke verwendet werden. In den externen Phasen des Entdeckungs- und Verwertungszusammenhangs sind wissenschaftsinterne und -externe Werte präsent. Beispielsweise werden Forschungsziele ausgewählt, die von besonderer politischer oder wirtschaftlicher Relevanz sind, und ebenso werden bei der Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse die praktischen Interessen der Wissensanwender berücksichtigt. Im internen Begründungszusammenhang verbietet die präzisierte Wertneutralitätsforderung jedoch, dass kategorische Werturteile, die keiner erfahrungswissenschaftlichen Begründung zugänglich sind, zur Rechtfertigung von wissenschaftlichen Hypothesen herangezogen werden. Zentral ist nun die Einsicht, dass Forscher sehr wohl legitime Werturteile fällen können, trotz des Verbots der Einbeziehung wissenschaftsexterner Wertannahmen in den Begründungsprozess und der Ablehnung der erfahrungswissenschaftlichen Begründung kategorischer Werte. Legitime Werturteile in diesem Sinn sind jedoch nicht kategorischer, sondern hypothetischer Art. Sie werden als abgeleitete Werturteile aus deskriptiven wissenschaftlichen Hypothesen und extern vorgegebenen Wertannahmen gewonnen. Zweck-Mittel-Schlüsse der Form ‚Wenn das Ziel (Z) angestrebt wird, dann sollte das notwendige oder optimale Mittel (M) angewendet werden’ sind hypothetischer Art, weil sie instrumentelle Empfehlungen relativ zu extern vorgegebenen Zielen benennen ([10], S. 308). Mit solchen hypothetischen Werturteilen werden keine kategorischen Fundamentalwerte ex cathedra proklamiert, wie schon Weber es kritisierte, sondern Mittel zur Erreichung von Zielen sowie die Konsequenzen von Wissensanwendungen aufgezeigt. Soziale Verantwortung übernehmen Forscher diesem Ansatz zufolge, indem sie durch ihr Fachwissen Mittel-Empfehlungen für von Wissenschaftsanwendern vorgegebene Zwecke abgeben und über die Konsequenzen von Wissensanwendungen möglichst umfassend informieren. Damit kommt der deskriptiven Wissenschaft nicht nur eine instrumentelle Funktion zu, sondern auch eine Unterstützerrolle für die Prozesse der demokratischen und individuellen Meinungsfindung, die auf die unvoreingenommene Darstellung der Faktenlage angewiesen ist. Wertabhängigkeit im Kontext kommerzialisierter Forschung Die Folgen kommerzieller Interessen im Forschungsprozess wurden in verschiedenen Fachrichtungen untersucht. Insbesondere in der biomedizinischen und pharmazeutischen Forschung wurden dabei eine Reihe von Erkenntnisverzerrungen durch die einseitige Wahl von Forschungszielen und die Verwendung fragwürdiger Forschungsmethoden identifiziert (pars pro toto [13], [14], [15], [16], [17], [18], [19]). Im Folgenden werden einige dieser Effekte dargestellt. In Bezug auf die einseitige Wahl von Forschungszielen kann man zwischen zwei Arten von Einseitigkeit unterscheiden: Zum einen können kommerzielle Interessen dazu führen, dass Fragestellungen aus dem Bereich der anwendungsorientierten Forschung zu Ungunsten von Zielen der Grundlagenforschung selektiert werden. So weist etwa Carrier darauf hin, dass die Bevorzugung von anwendungsorientierten Forschungszielen oftmals ein vermehrtes Streben nach kontextuellem Wissen um Kausalbeziehungen zur Folge hat, das relativ zu bestimmten Normalbedingungen gilt. Da der kommerzielle Nutzen eines tieferen theoretischen Verständnisses schwer einzuschätzen ist, scheint für marktwirtschaftlich orientierte Geldgeber Grundlagenforschung weniger attraktiv zu sein. Dabei besteht jedoch das Risiko, dass die einseitige Wahl von Forschungszielen aus dem Bereich der anwendungsorientierten Forschung zu einem Mangel an Erklärungskraft und Voraussagefähigkeit führt ([20], S. 380). Verlässliches Wissen, etwa über die Wirksamkeit von medizinischen Wirkstoffen, ist jedoch auf ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Wirkmechanismen angewiesen, um erwünschte Nebenfolgen und Risiken abzuschätzen ([20], S. 385). Die einseitige und durch kurzfristige ökonomische Interessen bestimmte Wahl von anwendungsorientierten Forschungszielen steht zudem im Widerspruch zu der Einsicht, dass Grundlagen- und Anwendungsforschung in einem komplexen Wirkverhältnis zueinander stehen, dessen Nichtbeachtung einen wesentlichen Blockadefaktor für Synergien im Forschungsprozess darstellt ([21]). Zum anderen kann die einseitige Wahl von Forschungszielen in der ungleichen Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessengruppen bestehen. Bezogen auf die pharmazeutische Forschung bemängelte das Global Forum for Health Research bereits 1997 das erhebliche Ungleichgewicht zwischen den Ausgaben zur Erforschung von Heilmitteln für Krankheiten, die hauptsächlich wenige Menschen in den wohlhabenden Industrienationen betreffen, und Mitteln zur Erforschung von Krankheiten, die in Entwicklungs- und Schwellenländern grassieren. Der statistische Befund, dass lediglich 10% der Ausgaben im Bereich der Gesundheitsforschung auf Krankheiten ausgerichtet ist, die für 90% der globalen Belastung durch Krankheit (disease burden) verantwortlich sind, wird auch als 10/90-Lücke (10/90-gap) bezeichnet ([22]). Nach Yamey werden in der kommerziellen Pharmaforschung sogenannte vernachlässigte Krankheiten (neglected diseases) deswegen ignoriert, weil potentielle Wirkstoffe nur ein geringes Marktpotential besitzen ([23], S. 176-7). Lediglich 16 der 1393 zwischen den Jahren 1975 und 1999 auf den US-Markt gebrachten Präparate waren für den Einsatz gegen vernachlässigte Krankheiten gedacht. Da die öffentlichen Gesundheitssysteme der westlichen Industrienationen die Medikamentenentwicklung weitestgehend in die Hände von Pharmakonzernen gelegt haben, bleiben die Interessen der wirtschaftlich Schwachen und politisch Einflusslosen oftmals unberücksichtigt ([23], S. 177). Lösungsvorschläge für Probleme durch die einseitige Wahl von Forschungsfragen reichen von tendenziell liberalen Ansätzen, die die Selbstregulierungskräfte der marktorientierten Forschung betonen und staatliche Institutionen nur dann in Verantwortung sehen, wenn Sicherheitsbedenken gegeben sind ([20], S. 396), bis zur Forderung nach einer vollständigen Verstaatlichung der Gesundheitsforschung und der Abschaffung pharmazeutischer Patente ([24], S. 366). Die Diskussion der Wertabhängigkeit moderner Pharmaforschung beschränkt sich keinesfalls auf die Erörterung erkenntnistheoretischer Probleme durch einseitig gewählte Forschungsziele, sondern weist vielfältige Bezüge zur Forschungsethik und Methodenforschung der biomedizinischen Wissenschaften auf. Insbesondere werden in diesem Kontext die Auswirkungen von Interessenkonflikten (conflicts of interest) im Forschungsprozess untersucht, die zur Nichtbeachtung von professionellen, ethischen oder rechtlichen Vorgaben führen können. Da die ordnungsgemäße Planung, Durchführung, Auswertung und Veröffentlichung von medizinischen Studien eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche pharmazeutische Forschung ist, deren Ergebnisse in gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse einfließen und in der klinischen sowie ärztlichen Praxis umgesetzt werden ([25], S. VII), ist die Aufrechterhaltung von Objektivität und Integrität des Forschungsprozesses ein hohes Gut. Interessenkonflikte, die etwa persönlicher, finanzieller oder politischer Natur sein können, bergen zwei Risiken in sich ([26], S. 196). Erstens können sie dazu führen, dass Denk- und Wahrnehmungsprozesse von Forschern beeinflusst werden. Zweitens können Interessenkonflikte bewirken, dass Entscheidungsprozesse und Verhaltensweisen von Forschern im Forschungsprozess externen Interessen angepasst werden. Wie genau finanzielle Interessenkonflikte im wissenschaftlichen Begründungsprozess zu Abweichungen von den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis (responsible conduct of research) führen, illustrieren die folgenden Beispiele für fragwürdige Forschungsmethoden. Sie führen zur Begünstigung von Forschungsbefunden, die mit den kommerziellen Interessen von Geldgebern übereinstimmen, sowie zur Unterdrückung von Ergebnissen, die marktwirtschaftlichen Zielen entgegenstehen. Medizinische Wirkstoffe, Therapieformen und medizinische Produkte werden in klinischen Studien, die in einem kontrollierten Umfeld stattfinden, auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Klinische Medikamentenforschung wird dabei üblicherweise in vier Phasen unterteilt: In Studien der Phase I werden neue Substanzen, die zuvor in der präklinischen Forschung in Labor- und Tierversuchen getestet wurden, erstmalig unterdosiert an Menschen eingesetzt ([25], S. 16-7). Hierbei werden keine therapeutischen Ziele verfolgt, sondern pharmakokinetische und -dynamische Eigenschaften des Wirkstoffes an zumeist gesunden Probanden untersucht. Konkrete Forschungsziele sind dabei quantitatives Wissen um mögliche Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen sowie die Bestimmung der maximal verträgliche Dosis (maximum tolerated dose, MTD) eines Wirkstoffes bzw. einer Kombination von Wirkstoffen. Letztere wird durch die dosislimitierende Toxizität (DLT) definiert, die nicht mehr akzeptable Nebenwirkungen und Toxizitäten beschreibt ([27], S. 292). Nach der Bestimmung der MTD wird in Studien der Phase II der Wirksamkeitsnachweis der Testsubstanz angestrebt, um einen formalen Zulassungsantrag des Arzneimittels auf den Weg zu bringen. Dessen positiver Bescheid ist für eine kommerzielle Nutzung der Forschungsergebnisse unabdingbar. Phase III-Studien erbringen den Wirksamkeitsnachweis im Vergleich zu etablierten Behandlungsmethoden oder Placebos. Spätere Studien der Phase IV liefern weitere Evidenz über die Wirksamkeit und dienen der Wahrung der Arzneimittelsicherheit ([25], S. 17). Über Details der Medikamentenentwicklung, deren Grundzüge hier vereinfacht referiert wurden, informiert die Richtlinie E8 der International Conference on Harmonisation ([28]). Eine für alle Phasen geltende Voraussetzung ist, dass klinische Studien mit geeigneten Patienten oder gesunden Probanden durchgeführt werden. Versuchsteilnehmer müssen die im Prüfplan einer klinischen Studie definierten Einschlusskriterien erfüllen und dürfen die ebenfalls definierten Ausschlusskriterien nicht erfüllen. Ein- und Ausschlusskriterien werden durch methodische und moralische Erwägungen bestimmt, um die Objektivität der späteren Forschungsergebnisse sowie die moralische Integrität der hinführenden Forschung zu gewährleisten. Damit ist eine potentielle Einlassstelle für finanzielle Interessen von Geldgebern in den Forschungsprozess identifiziert: Pharmakonzerne haben im Kontext der Medikamentenentwicklung neben dem Hauptziel der Findung sicherer und wirksamer Medikamente zwei Interessen: Erstens soll das zeitliche Verhältnis zwischen der Entwicklung und der kommerziellen Nutzung von medizinischen Wirkstoffen günstig sein. Medikamente sollen so schnell wie möglich auf den Markt gelangen und dort so lange wie möglich Profit abwerfen ([16], S. 3). Zweitens sollen Forschungsergebnisse für die Verträglichkeit und Wirksamkeit eigener Präparate sprechen und Konkurrenzpräparate in einem möglichst schlechten Licht erscheinen lassen. Eine Möglichkeit, beide Interessen bereits in frühen Phasen der Medikamentenforschung zu befriedigen, besteht in der Begünstigung und Unterdrückung von Studienergebnissen durch den fragwürdigen Umgang mit Studienteilnehmern. Da die Teilnahme an klinischen Studien mit Unannehmlichkeiten und Risiken verbunden ist, setzen Pharmakonzerne finanzielle Anreize für potentielle Studienteilnehmer. Diese Praxis hat dazu geführt, dass die neben- oder hauptberufliche Teilnahme an klinischen Studien eine lukrative Erwerbsquelle für viele Menschen wurde. Elliot beschreibt eine Reihe von Fallstudien hierzu ([16], S. 1-24). Finanzielle Anreize sind aus verschiedenen Gründen problematisch: Um in den Genuss finanzieller Anreize zu kommen, können Studienteilnehmer versucht sein, ihre Teilnahme an früheren klinischen Studien verheimlichen, weil deren Angabe dazu führen könnte, dass sie die Ausschlusskriterien der Studie erfüllen. Ferner kann die so herbeigeführte Erfüllung der Einschlusskriterien dazu führen, dass an ungeeigneten Studienteilnehmern geforscht wird. Da Versuchsteilnehmer oftmals neuen experimentellen Wirkstoffen ausgesetzt sind, können sich unerwünschte Wechselwirkungen zwischen nicht deklarierten und bekannten Wirkstoffen ergeben. Gleichzeitig besteht auch die Möglichkeit der direkten Begünstigung und Unterdrückung von Ergebnissen durch die Organisatoren klinischer Studien. Diese können nicht nur finanzielle Anreize für die Teilnahme setzen, sondern auch zum vorzeitigen Abbruch von Studien führen, deren Ergebnisse nicht das gewünschte Resultat zu liefern scheinen. Auch können die Studienabbrecherquoten manipuliert werden, indem offizielle oder inoffizielle Zahlungen an Studienteilnehmer erfolgen. Ergibt sich etwa, dass Studienteilnehmer mit Nebenwirkungen zu kämpfen haben, könnten Anreize gesetzt werden, damit Studienteilnehmer vorzeitig abbrechen und deren Daten unberücksichtigt bleiben. Vice versa könnten finanzielle Anreize für den vollständigen Durchlauf einer klinischen Studie dazu führen, dass Nebenwirkungen verheimlicht werden. Die umfangreiche Literatur über Erkenntnisverzerrungen in der biomedizinischen Forschung im Spannungsfeld kommerzieller Interessen hat eine Vielzahl von fragwürdigen Praktiken im Forschungs- und Publikationsprozesses identifiziert, die an dieser Stelle nicht dargestellt werden können. Wir verweisen deswegen auf die beiliegende Literaturübersicht. Schluss Die Rolle von Werten in der Wissenschaft wird in der Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie seit mehr als 100 Jahren mit wechselnder Intensität diskutiert. Obwohl die Möglichkeit wissenschaftlicher Wertneutralität weiterhin kontrovers ist, können zwei Sachverhalte festgestellt werden: Erstens wurden neue Argumente entwickelt, die eine differenzierte Perspektive auf den Problembereich ermöglichen. Die einfache Forderung einer wertfreien Wissenschaft scheint ähnlich kritikwürdig zu sein, wie der Aufruf zu einer unkontrolliert politisierten Wissenschaft. Zweitens besteht Einigkeit darüber, dass der ungehemmte Einfluss wissenschaftsexterner Interessen im Forschungsprozess zu erheblichen Erkenntnisverzerrungen führen kann und deswegen interne wie externe Regulierungsmaßnahmen notwendig sind. Letzteres belegt auch die umfangreiche wissenschaftspolitisch relevante Forschung über Interessenkonflikte im Kontext der Entwicklung medizinischer Wirkstoffe. Die Beharrungstendenz des Themas, das im vorliegenden Bericht skizziert wurde, ist ein Reflex auf den kritischen und konstruktiven Bezug der Wissenschaftstheorie auf eine sich stetig transformierende Wissenschaftslandschaft. Ein philosophisch begründetes Verständnis der dargestellten Argumente für und wider wissenschaftliche Wertneutralität kann letztlich als eine notwendige Voraussetzung für die Sicherstellung wissenschaftlicher Objektivität und Integrität gelten. UNSERE AUTOREN: Alexander Christian ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie der Universität Düsseldorf und schreibt derzeit eine Doktorarbeit über Verzerrungen in der biomedizinischen Forschung. Gerhard Schurz ist Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Philosophie an der Universität Düsseldorf und Direktor des Düsseldorf Center for Logic and Philosophy of Science (DCLPS). Er ist Autor von über 200 Aufsätzen in internationalen Fachzeitschriften. Buchpublikationen u. a.: The Is-Ought Problem, Dordrecht: Kluwer (1997), Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2006, 4. Aufl. 2014), Evolution in Natur und Kultur, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag (2011), Philosophy of Science: A Unified Approach, New York: Routledge (2013) und Wahrscheinlichkeitstheorie, Berlin: De Gruyter (2015). Mit Martin Carrier veröffentlichte er 2013 den Sammelband Werte in den Wissenschaften. Berlin: Suhrkamp. Literatur [1] Wilholt, T. (2012): Die Freiheit der Forschung. Berlin: Suhrkamp. [2] Schurz, G. & Carrier, M. (2013): „Einleitung und Übersicht“, in: Carrier, M. & Schurz, G. (2013, Hg.): Werte in den Wissenschaften. Berlin: Suhrkamp, S. 7-30. [3] Dahms, H.-J. (2013): „Bemerkungen zur Geschichte des Werturteilsstreits“, in: Carrier, M., & Schurz, G. (2013, Hg.). Werte in den Wissenschaften. Berlin: Suhrkamp, S. 74-107. [4] Weber, M. 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[25] Schumacher, M., & Schulgen, G. (2008): Methodik klinischer Studien. 3. Auflage. Berlin: Springer. [26] Shamoo, A. E., & Resnik, D. B. (2015): Responsible Conduct of Research. 3. Auflage. New York: Oxford University Press. [27] Holländer, N. & Schumacher, M. (2008): „Planung und Auswertung von Phase I und Phase II Studien“, Kapitel 16 in: Schumacher, M., & Schulgen, G. (2008): Methodik klinischer Studien. 3. Auflage. Berlin: Springer. [28] ICH E8. General considerations for clinical trials. London, UK: International Conference on Harmonisation; 1997. Adopted by CPMP September 1997 (CPMP/ICH/ 291/95). |