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04 2020

Was macht Hannah Arendt so interessant? Fragen an Nils Baratella

aus: Heft 4/2020, S. 26-31
 
 
Die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ ist auf ein breites Publikumsinteresse gestoßen. Was fasziniert ein breiteres Publikum an Arendt?
 
Nils Baratella: Ein Faszinosum liegt vielleicht darin, dass sich in Arendts Leben und Werk das 20. Jahrhundert spiegelt. Hannah Arendt entstammt dem gebildeten Judentum Königsbergs, das vor der Shoah und dem Zweiten Weltkrieg eine große Ausstrahlungskraft besaß. Sie studierte in den 1920er Jahren, in einer Blütezeit der Philosophie bei so bekannten und prägenden Lehrern wie Martin Heidegger und Karl Jaspers, hörte aber auch Edmund Husserl. 1933 wird sie ins Exil gezwungen und findet nach einer langen Odyssee erst Jahre später in den USA eine neue Heimat. Diese Erfahrungen thematisiert sie als eine der ersten bereits international sichtbar, wie sie auch zu den prominentesten Intellektuellen gehört, die den Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts zur Sprache bringt: totalitäre Politik, die massenhafte Migration zwischen den Kriegen, der Zweite Weltkrieg, die Shoah und die weit zurückreichende Geschichte des Antisemitismus. Arendt erkennt die fundamentale Krise der Ethik und der Moral und thematisiert diese als eine Krise des modernen Politikverständnisses, weil sie diese Bereiche nicht trennt, sondern deren politische Dimension betont. Auf dieser Grundlage wendet sie sich Fragen zu, die bis heute von Relevanz sind: Was heißt Wahrheit und Lüge in der Politik? Ist die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten? Wie lässt sich Freiheit politisch verwirklichen?
 
Arendt ist also an den Fragen der Zeit interessiert und dabei häufig so weitsichtig, dass sie mitunter geradezu in die Zukunft, die unsere Gegenwart ist, zu blicken scheint, wie der Text, den Joe Biden anfragte, in dem die massive, medial vermittelte Lüge in der Politik Thema ist (siehe FAZ vom 19.08.2020). Hannah Arendt verstand sich als public intellectual. Sie sucht die Öffentlichkeit und mischt sich ein. Dies tut sie in Texten, die auch deswegen ein breites Publikum erreichen, weil diese den akademisch-philosophischen Schreibstil hinter sich lassen, um dabei zwar philosophisch gebildet und anspruchsvoll zu bleiben, zugleich aber auch für Menschen   außerhalb der Akademie nachvollziehbar, interessant und zum Denken anregend zu sein. Das Interesse rührt also vielleicht ganz banal daher, das Arendts Texte berühren, weil sie verstanden werden wollen.
 
Im akademischen Bereich sind in kurzer Zeit verschiedene Bücher erschienen. Sie haben einige davon rezensiert. Worin sehen Sie die Gründe für dieses akademische Interesse an Arendt?
 
Nils Baratella: Der Anspruch an die Wissenschaft zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beizutragen und sich zu Themen zu äußern, die virulent sind, verstärkt sich deutlich in krisenhaften und schwierigen Zeiten, wie wir sie in unserer Epoche erleben, deutlich. Hier bietet sich Arendt als Stichwortgeberin an, die zu einigen der gegenwärtigen Themen, wie Flucht, totalitären Bewegungen, aber auch totalitären Regierungsformen etc. Einiges zu sagen hat. Zudem sind einige alte Voreingenommenheiten verschwunden. Arendt wird nicht mehr nur als die Schülerin Heideggers oder als eine elitaristische Antimarxistin wahrgenommen. Vielmehr wächst die Auffassung, dass Arendt ein eigenständiges, philosophisch untermauertes Denken des Politischen darlegt, das dessen grundlegende Bedingungen auf den Begriff bringt. Dabei handelt es sich um ein Denken, dass die politische Dimension von Formen kollektiver Selbstvergewisserung, zu denen die Philosophie maßgeblich gehört, auf einer wiederum eigenen philosophischen Grundlage betont, und dabei das Kollektive: das, was uns verbindet, im Auge behält.
 
Viele sehen in Arendt eine Phänomenologin. Was macht Arendts Zugang zur Phänomenologie aus?
 
Nils Baratella: Zunächst ihre philosophische Ausbildung im Kontext der Phänomenologie und der Existenzphilosophie bei Martin Heidegger, Karl Jaspers und auch Edmund Hus­serl, den Arendt auch hörte. Dies ist aber vordergründig. Denn die Ausbildung allein macht Arendt noch nicht zur Phänomenologin. Ein tiefergehender Blick auf ihre Themenwahl und ihre Methode hingegen lässt deutlicher werden, warum Hannah Arendt in diesem Kontext gelesen werden kann: eine zentrale Perspektive ihrer Arbeit ist, Pluralität als die grundlegende Bedingung menschlicher Existenz zu erschließen, ohne sie jedoch in bloße Differenzlosigkeit aufzulösen. Den Begriff der Pluralität gewinnt Arendt nun freilich aus einem phänomenologisch intendierten Nachdenken über die Frage, was die Grundbedingungen menschlichen In-der-Welt-Seins sind. Arendt greift klassische phänomenologische Themen wie das In-Erscheinung-treten, das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität und die Praktiken des Lebensvollzugs auf. Zudem wird gerade am Begriff des Denkens, mit dem sich Arendt immer wieder auseinandersetzt, deutlich, dass sie sich durchaus auch bewusstseinsstrukturellen Themen widmet, um diese zur Grundlage ihrer Theorie des Politischen machen zu können. Mit diesen Themen eröffnet Arendt der Phänomenologie das Themenfeld des Politischen.
 
Aber auch ihre Methode ist phänomenologisch geschult. Arendt geht immer wieder so vor, dass sie zunächst die basalen, auch historischen, Bedingtheiten von Phänomenen und Begriffen zunächst beschreibt, um dann deren Zusammenhänge und (mitunter dialektischen) Strukturen herauszuarbeiten und erst dann Schlussfolgerungen zu ziehen und selbst Position zu beziehen.
 
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