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WÜRDIGUNG

Hans Albert – zu seinem 100. Geburtstag

aus: Heft 4/2020, S. 32-37
 
Am 8. Februar 2021 wird Hans Albert 100 Jahre alt. Albert hat wie kein zweiter zur Verbreitung des Kritischen Rationalismus in Deutschland beigetragen und stand mit seiner Mitwirkung am Positivismusstreit lange Zeit im Mittelpunkt der Debatte. Nachstehend würdigen Freunde, Schüler und Kritiker sein Werk.
 
Eric Hilgendorf: Hans Albert und sein Beitrag zur Verteidigung der Aufklärung
 
Ein Schiff allein auf hoher See – ohne festen Grund, ohne Ziel, ohne Vorgaben, wie es steuern soll – dieses Otto Neurath entlehnte Bild kennzeichnet die Stellung des Menschen in der durch die Wissenschaften entzauberten Welt. Eine der einflussreichsten philosophischen Antworten auf die hier zum Ausdruck kommende Sicht der conditio humana haben Karl Popper und Hans Albert gegeben. Ihr „kritischer Rationalismus“ bekennt sich zum erkenntnistheoretischen Realismus, indem er am Glauben an eine von unserem Dafürhalten unabhängige Außenwelt festhält. Sie stehen des Weiteren in der Tradition des Skeptizismus: Alle unsere Annahmen sind grundsätzlich fallibel; es gibt kein sicheres Wissen. Und schließlich bekennen sich Popper wie Albert zum Humanismus: Ohne Götter oder andere uns vorgegebene überlegene moralische Instanzen müssen wir unser Schicksal selbst bestimmen; dabei stellen wir, selbst ein Produkt der Evolution, den Menschen und seine natürlichen individuellen wie sozialen Bedürfnisse in den Mittelpunkt.
 
Als moderne Denkschule ist der kritische Rationalismus Teil des weiten Spektrums der analytischen Philosophie, welche wiederum auf den Schultern der „logischen Positivisten“ und Philosophen des Wiener Kreises Anfang des 20. Jahrhunderts und damit in der Tradition der Aufklärung steht. Ein charakteristisches Merkmal der analytischen Philosophie ist das Streben nach unbedingter Klarheit und logischer Konsistenz der verwendeten Sprache. Popper hat diese Tendenz in Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus in seiner Forderung nach Überprüfbarkeit (Falsifizierbarkeit) aller wissenschaftlichen Aussagen zugespitzt. In Poppers sozialphilosophischem Hauptwerk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde sieht er als seine Hauptgegner Autoren wie Hegel, die vorgeben, als überlegene Denker über sicheres Wissen zu verfügen, und mit unklaren, aber pompösen und entsprechend publikumswirksamen Formulierungen ihre Leser betäuben und in geistige Abhängigkeit zu bringen versuchen.
 
Hans Albert hat den kritischen Rationalismus systematisiert und dabei, weit über Popper hinausgehend, die Sozial- und Geisteswissenschaften mitsamt der Rechtswissenschaft einbezogen. Poppers metaphysisch belasteter „Dreiweltentheorie“ ist er nicht gefolgt, was seiner Bewunderung für den eine Generation Älteren keinen Abbruch tat. Im Positivismusstreit der 60er und frühen 70er Jahre verteidigte Albert die Positionen Max Webers und brachte den kritischen Rationalismus erfolgreich gegen den „Hegel-Marxismus“ der Frankfurter Schule in Stellung. Alberts großes Engagement im Positivismusstreit – vergleichbar mit dem Einsatz Max Webers im „Werturteilsstreit“ 50 Jahre früher – verschaffte ihm in Deutschland einen hohen Grad an öffentlicher Aufmerksamkeit, was dem Büchermenschen Albert nicht immer angenehm war. Der Positivismusstreit stellt im Wesentlichen eine innerdeutsche Auseinandersetzung dar, in der es nicht zuletzt um die Öffnung der deutschen Philosophie und Sozialwissenschaften für die von den Nazis aus Deutschland vertriebenen intellektuellen Standards der analytischen Philosophie ging, wie sie insbesondere in der angelsächsischen Welt längst anerkannt waren. Zu Recht hat Albert von der „Rückholung kritischen Denkens nach Deutschland“ gesprochen.
 
Will man Alberts Denkstil in einem Motto zusammenfassen, so könnte es „Konstruktion und Kritik“ lauten: Angesichts von Problemen beliebiger Art konstruieren wir vorläufige Lösungen, die sodann in einer offenen Diskussion der Kritik ausgesetzt werden. Bewähren sie sich, so werden sie (vorläufig) beibehalten, scheitern sie, so sollen sie durch neue vorläufige Lösungskonstrukte ersetzt werden. Die Forderung nach einer „sicheren“ Antwort, einer „letzten“ Begründung wird damit aufgegeben und durch die Methode der kritischen Prüfung ersetzt. Die Nähe zu einem evolutionären Entwicklungsmodell ist offensichtlich. Diesen Denkansatz empfiehlt Albert aber nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für die Sozial- und Geisteswissenschaften unter Einschluss der Rechtswissenschaft, darüber hinaus für alle Problemstellungen, mit denen Menschen konfrontiert sind. Der kritische Rationalismus wird bei Albert damit zum Modell einer auf Skepsis, Toleranz und Humanität beruhenden Lebensweise.
 
 
Die Einsicht in die Fehlbarkeit aller unserer Problemlösungsversuche hat sich heute fast allgemein durchgesetzt. Dagegen scheint die für Albert so wichtige Bereitschaft zu einer offenen, vorurteilsfreien und realitätsbezogenen Diskussion sämtlicherGesichtspunkte und Problemlösungsvorschläge nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern sogar an den Universitäten heute bedroht zu sein wie lange nicht mehr. Die einschlägigen Stichworte lauten „hate speech“, „fake news“ und „cancel culture“. Kritisches, den Idealen der Klarheit und Vorurteilsfreiheit verpflichtetes Denken ist wieder unter Druck geraten.
 
Michael Schmidt-Salomon: Ein Jahrhundertdenker
 
Die Begegnung mit Hans Albert hat mich entscheidend geprägt. Dabei hatte ich seinen Klassiker Traktat über kritische Vernunft anfangs als „Feindlektüre“ gelesen. Als ein vom Freudomarxismus und der Kritischen Theorie geprägter „linker“ Student glaubte ich ganz genau zu wissen, wo ich mich im sogenannten „Positivismusstreit“ verorten müsse. Doch die Argumentation des Traktats war so bestechend, dass meine Vorurteile schnell daran zerschellten.
 
Spätestens nach dem zweiten Kapitel „Die Idee der Kritik“ war ich von den Grundprinzipien des Kritischen Rationalismus überzeugt. Mir leuchtete sofort ein, dass hinter dem (oftmals kaschierten) „Anspruch auf Kritikimmunität“ eine „Angst vor der Wahrheit“ steht. Und mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr ich selbst in dogmatisch-bornierten Denkschablonen gefangen war, die ich niemals einer „kritischen Prüfung“ unterzogen hatte.
 
Rund zehn Jahre später kam es zu einer ersten persönlichen Begegnung, als ich auf einem Symposium anlässlich des 80. Geburtstags von Hans Albert referieren durfte. Der Jubilar beeindruckte mich nicht nur durch brillante Argumente, sondern auch durch die liebenswürdige, humorvolle, gänzlich uneitle Weise, in der er seine Thesen zur Diskussion stellte. 2004 zählte Hans dann auch zu den Gründungsbeiräten der Giordano-Bruno-Stiftung. Ein Jahr später wurde mir die ehrenvolle Aufgabe zuteil, an der Planung der Feierlichkeiten zu seinem 85. Geburtstag in Heidelberg mitzuwirken.
 
Bei diesem Anlass kam es zu einem Vorfall, der viel über den Menschen und Philosophen Hans Albert verrät: Ein renommierter Professor der Universität Heidelberg hielt einen Vortrag, dessen sprachliche Komplexität in einem umgekehrt-proportionalen Verhältnis zu seinem Bedeutungsgehalt stand. Da ich wusste, dass Hans große, inhaltsleere Worte ebenso verabscheute wie Karl Popper, war ich gespannt auf seine Reaktion – und wurde nicht enttäuscht. Ein schalkiges Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sagte: „Verehrter Kollege, herzlichen Dank für diesen äußerst gelehrten Vortrag, von dem ich nicht weiß, ob ich alles richtig verstanden habe! Aber bitte verraten Sie mir noch eines: Welches Problem wollten Sie eigentlich lösen?“
 
Die Suche nach adäquaten Problemlösungen ist die Aufgabe, der Hans Albert sein Leben gewidmet hat. Philosophie sollte, wie Albert darlegte, nicht um sich selbst zirkulieren, sondern Probleme lösen, die von Bedeutung sind. Deshalb verstand er den Kritizismus auch nicht als eine Veranstaltung für den Elfenbeinturm, sondern als eine Lebensweise, die sich im Alltag bewähren muss. Ganz in diesem Sinne haben wir im Februar 2020 das „Hans-Albert-Institut“ gegründet, das zu einer Stärkung des kritisch-rationalen Denkens in Politik und Gesellschaft beitragen soll. Wir wollen dabei dem Vermächtnis des „Jahrhundertdenkers“ Hans Albert nicht zuletzt dadurch gerecht werden, dass wir den ideologiekritischen Impuls seiner Philosophie auf die Probleme der Gegenwart anwenden, etwa auf die Verengung der Debattenkultur im Zuge des identitären Lagerdenkens. Angesichts der großen globalen Herausforderungen, vor denen wir stehen, gilt es heute in besonderem Maße, den „Alternativ-Radikalismus“ (Albert) zu überwinden. Denn nur so können wir, wenn es darauf ankommt, das Richtige tun – nämlich falsche Ideen sterben lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen.
 
Volker Gadenne: Was ich von Hans Albert gelernt habe
 
Als ich im Frühjahr 1969 begann, in Mannheim Psychologie und Philosophie zu studieren, hatte ich von Hans Albert noch nichts gehört. Ein Kommilitone empfahl mir dringend, doch einmal am Nachmittag ins Audimax zu kommen, dort würde die derzeit wichtigste Vorlesung stattfinden. Ich fand einen gefüllten Hörsaal vor. Ans Pult kam mit zügigen Schritten ein kahlköpfiger Herr, Ende vierzig, sportlich, dynamisch; und sehr streitlustig! Er sprach flüssig über wissenschaftstheoretische Fragen und lieferte sich Wortgefechte mit Teilnehmern, die ihn aus marxistischer Perspektive heftig angriffen. Es war eine völlig andere Atmosphäre als die, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Dies war kein Professor, der die Konfrontation mit den Linken ängstlich vermied, seine Lehre ausfallen ließ und sich beleidigt zurückzog, sondern einer, der sich den kritischen Fragen der Studenten stellte. Obwohl ich zunächst vieles nicht verstand, fand ich die Art, wie Albert agierte, sehr beeindruckend. Seine Fähigkeit, so treffsicher zu argumentieren, hatte er regelrecht zu einer Kunstfertigkeit entwickelt.
 
In der Folge besuchte ich auch alle seine Seminare. Wer sich die Mühe machte, sich durch die Lektüre der Schriften von Popper, Kuhn, Lakatos und Feyerabend vorzubereiten, für den waren diese Seminare von unschätzbarem Wert. Man lernte die verschiedenen Positionen auf eine Weise kennen, mit allen ihren Stärken und Schwächen, wie es auch die besten Lehrbücher nicht vermitteln können. Und man lernte, wie man argumentiert, man bekam es Woche für Woche vorgeführt und konnte es selbst üben, sofern man sich traute, sich zu Wort zu melden.
 
Als ich nach meiner Promotion bei Albert selbst Seminare mit ihm durchführte, machte ich den Vorschlag, die jeweils behandelten Philosophen doch ein wenig ausführlicher zu Wort kommen zu lassen, bevor man dazu überging, sie zu kritisieren. Dies stellte Alberts Geduld allerdings manchmal auf eine harte Probe, besonders, wenn es um seine Lieblingsgegner ging, etwa Habermas. Ein Referat über Habermas anzuhören und mit der Kritik zurückzuhalten, das war ihm fast unmöglich.
 
Ich habe von Albert viel gelernt und verdanke ihm mehr, als ich hier aufzählen kann. Zwei Dinge möchte ich aber erwähnen. Zum einen hat er mir vermittelt, wie wichtig es ist, sich bei jeder Arbeit, die man beginnt, zunächst darüber klar zu werden, was das Problem ist, zu dessen Lösung man einen Beitrag leisten möchte. Außerdem lernte man am Lehrstuhl Albert, dass es erlaubt ist, eigene Auffassungen zu entwickeln und dabei Kritik zu üben, selbst wenn sich diese Kritik gegen berühmte Personen und etablierte Lehrmeinungen richtet. Allerdings musste man die Bereitschaft mitbringen, seine entwickelten Ideen ebenfalls strenger Kritik unterziehen zu lassen.
 
Albert ist immer wieder und mit Recht als der wichtigste Vertreter des kritischen Rationalismus im deutschen Sprachraum gewürdigt worden. Viel zu selten wird aber darauf hingewiesen, dass er den kritischen Rationalismus nicht nur bekannt gemacht und auf viele Gebiete angewendet, sondern auch modifiziert und weiterentwickelt hat. Albert verzichtet z. B. auf ein Abgrenzungskriterium, da er Grenzziehungen für wenig fruchtbar hält. Er klärte die Frage nach dem den Status der Methodologie, die von Popper nicht ganz zufriedenstellend beantwortet worden ist. Und er hob die von Popper für wichtig erachtete Trennung zwischen dem Kontext der Entdeckung und dem der Geltung auf: Entdeckung und Prüfung von Theorien greifen ineinander, und methodologische Regeln beziehen sich nicht nur auf Geltungsfragen, sondern haben auch eine Entdeckungsfunktion.
 
Josef Mitterer: Ein Brief an Hans Albert
 
Lieber Hans,
Als Seminarleiter, Vortragender und wissenschaftlicher Programmdirektor hast Du viele Jahre das Europäische Forum in Alpbach geprägt. Dort bin ich Dir in den 1960er Jahren als Gymnasiast zum ersten Mal begegnet.
 
Du hast dafür gesorgt, dass ich mich willkommen fühlte. Ich wurde mit Essensmarken versorgt, manchmal auch mit Schnaps und war glücklich. Es gab keine Hierarchien, ich durfte zuhören und mitgehen.
 
Schon bei einer der ersten Sitzungen im Arbeitskreis zum Kritischen Rationalismus hast Du mir aufgetragen, das Protokoll zu verfassen. Ich war wie gelähmt, und ohne die schreibkräftige Hilfe von Karl Acham wäre ich wohl vor Scham über meine Unfähigkeit im Alpbach versunken.
 
Einmal, auf dem Weg vom Gasthaus Rossmoos zurück ins Dorf, habe ich Dir von meinen Zweifeln erzählt. Ich wollte philosophieren, aber wusste nicht, wie & wo ein Studium beginnen. Da hast Du gesagt, ich solle doch Soziologie studieren und das Philosophieren auf die freie Zeit verschieben – das würde mir vieles ersparen. Für diesen Rat bin ich Dir noch heute dankbar. Damit konnte ich die Sozialisierung in die damals gängigen philosophischen Distinktionen vermeiden. Du hast mir sogar eine Stelle als Hilfskraft an der Mannheimer Institutsbibliothek angeboten, falls ich dem österreichischen Bundesheer entkommen und nach Deutschland übersiedeln wollte.
 
Damals waren in Alpbach zwei sehr verschiedene Denktraditionen am Werk: Eine Transzendentalphilosophie, die in Wien praktiziert wurde und deren postnazistische Vertreter die Rückkehr der „Vertriebenen Vernunft“ verhindert hatten.
 
Und die wissenschaftliche Philosophie in der Tradition von Karl Popper und des Wiener Kreises zu der ich mich – auch Deinetwegen – hingezogen fühlte, und die für mich zur Herausforderung wurde.
 
Mein Buch „Das Jenseits der Philosophie“ enthält auch eine versteckte Auseinandersetzung mit Deinem Denken. Deine These, dass alle Sicherheiten in der Erkenntnis selbstfabriziert sind und also für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos, habe ich im Schlusssatz zu überbieten versucht: „Auch die Objekte der Erkenntnis sind selbstfabriziert“.
 
Aber damit war für Dich Maß (die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit) und Ziel (die Wahrheit) verloren. Darum hast Du mir auch als Widmung in das Buch „Vernunft und menschliche Praxis“ geschrieben: „Habe Deinen Aufsatz „Die Hure Wahrheit – auch Duerr ein Zuhälter?“ gelesen. Ich verstehe Dich jetzt besser: wenn ich Deine Auffassung akzeptiere, dann brauche ich mich um Argumente nicht mehr zu kümmern, und auch nicht um DEINE Argumente!! Oder nicht?“
 
Das hat mich nicht überrascht. Umgekehrt ist für mich auch der Kritische Rationalismus eine, wenn auch respektable, Argumentationstechnik mit deren Hilfe beliebige Auffassungen als widerlegt oder im besten Fall als vorläufig wahr ausgewiesen werden können. Der Kritische Rationalismus kann wie andere wahrheitsorientierte Theorien der Beliebigkeit nicht entgehen. Er ist nicht selbstanwendbar, und die Immunisierungsstrategien, die er an anderen kritisiert, macht er sich selbst zunutze.
 
Das ändert nichts an meiner Wertschätzung. Dein Denken steht für Transparenz und nicht für Transzendenz, und ich hoffe, dass ich von Dir mehr gelernt habe als nur die Abneigung gegen Wortschaumschlägerei und Begriffsinflation. Und es war eine Auszeichnung für mich, dass ich Dir die Laudatio zur Verleihung des Ehrendoktorates der Universität Klagenfurt halten durfte.
 
Jetzt, im ehrwürdigen Alter, bist Du vom meisterhaften Diskutanten (nie vergesse ich Deine Alpbach-Debatte mit Herbert Marcuse mit der gegenseitigen Aufforderung, Kant zu lesen) zum weisen Mann geworden, für den das Schweigen eine Tugend ist. Und trotzdem – oder gerade deshalb: Du hörst zu und setzt urplötzlich punktgenau einen Satz dort, wo er trifft.
 
Jürgen Mittelstraß: Über Gründe
 
Durch Hans Alberts Werk zieht sich wie ein roter Faden der ebenso nüchtern wie leidenschaftlich vertretene Versuch, mit Gründen gegen ein Begründungsdenken zu argumentieren. Das ist nur scheinbar paradox. Albert wendet sich – erkenntnistheoretisch noch weiter ausgreifend als Karl R. Popper – gegen ein deduktives Begründungsideal und schränkt gleichzeitig einen philosophischen Begründungsbegriff auf eben dieses Ideal ein. Von ihm als Münchhausen-Trilemma bezeichnet führt ein so verstandenes Begründungsdenken entweder in einen unendlichen Begründungsregreß (die Kette der zur Begründung herangezogenen Sätze reißt nicht ab) oder in einen Begründungszirkel (Sätze treten als ihre eigene Begründungsbasis auf) oder in die dogmatische Auszeichnung einer Begründungsbasis. Mit der Identifikation von Begründung und Deduktion wird entsprechend (mit Popper) das Ideal der Begründung zugunsten der Ideale der Bewährung und der kritischen Prüfung aufgegeben und finden Deduktionen in diesem Zusammenhang lediglich noch für die Ableitung von Falsifizierungsinstanzen zur Überprüfung von Hypothesen und Theorien Verwendung.
 
Um die Vernunft bzw. Unvernunft eines derartigen Begründungsdenkens und seiner erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen ging es in den 1970er Jahren auch zwischen Hans Albert und mir, der ich gegen einen in diesem Sinne reduktionistischen Begründungsbegriff und für die Ausarbeitung nicht-deduktiver, darunter operativer Formen der Begründung argumentierte (unter anderem dokumentiert in der 3. und 4. Auflage von Alberts großartigem „Traktat über kritische Vernunft“, 1975/1980). Einig waren wir uns dabei in der Ablehnung von philosophischen Letztbegründungsansprüchen, was Albert als sicheres Indiz dafür wertete, daß ich seinen Vorstellungen – im Begriff der kritischen Prüfung und einer fallibilistischen Konzeption auf Popperschen Wegen – doch näher stand als zugegeben. Das war hübsch gedacht und verfänglich argumentiert, allerdings auch mit der Folge, daß der Begründungsbegriff, um den es eigentlich ging, irgendwie im Nebel gegenseitiger Deutungsbemühungen verschwand.
 
In einer Hommage auf Hans Albert anläßlich der 50. Wiederkehr des Erscheinens des Traktats (in: Begegnungen mit Hans Albert, 2019) hatte ich schon einmal an seine streitbare Position in Sachen Gründe und Begründungen erinnert und schließlich gefragt: Gibt es in der Philosophie Schöneres als mit Gründen über den Begriff der Begründung zu streiten? Wohl kaum. Philosophie bedeutet Dialog, den Austausch und das Wägen von Argumenten, aber auch Streit – um das bessere Argument. Der Kritische Rationalismus, dem Hans Albert mit seiner philosophischen Arbeit ein unverwechselbares Profil gegeben hat, lebt vom beständigen Streit mit (gegebenen oder vermuteten) fundamentalistischen Tendenzen und Immunisierungsstrategien, und auch der Methodische Konstruktivismus, auf den ich mich in unserer Auseinandersetzung bezog, nimmt seinen Anfang mit dem Stichwort „Logik und Agon“ (Paul Lorenzen, 1960). Vor die Wahrheit – darin waren wir uns ebenfalls einig – haben die philosophischen Götter den Streit gesetzt. Hans Albert ist einer dieser Götter. In der „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“ (2. Auflage, I-VIII, 2005-2018) steht er zwischen Albatenius, dem arabischen Astronomen, und Alberti, dem italienischen Kunsttheoretiker – und auch Albertus Magnus, der doctor universalis, ist nicht fern. Ob ihm diese Nachbarschaft, Wissenschaft und Kunst, gefällt? Seine meisterlichen Polemiken, die ihm auch in der philosophischen Essayistik ein Denkmal setzen, sprechen dafür.
 
UNSERE AUTOREN:
 
Eric Hilgendorf ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Michael Schmidt-Salomonist promovierter Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Volker Gadenneist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Linz. Josef Mitterer ist pensionierter Professor für Philosophie an der Universität Klagenfurt. Jürgen Mittelstraß ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Konstanz.