Michael Heidelberger: Die Erweiterung der Wirklichkeit im Experiment Was ist das Besondere an der modernen Naturwissenschaft? Die einen werden vielleicht auf die Mathematisierung als einen entscheidenden Faktor verweisen, andere auf den Ausschluß teleologischer oder mythischer Erklärungen aus empirischen Kontexten und die damit einhergehende Auflösung des Begriffs des Kosmos. Wieder andere heben die Methode der Idealisierung hervor, die aus den verwickelten Erscheinungen einzelne wirkende Faktoren abstrahiert. Alle diese Erklärungsversuche werden sich aber darin einig sein, daß die Eigenart der modernen Naturwissenschaft wesentlich auf dem Experiment beruht. Häufig wird sogar die experimentelle Vorgehensweise mit der naturwissenschaftlichen (oder wenigstens der physikalischen) Methode schlechthin gleichgesetzt. Während man in der Antike und im Mittelalter weithin mit der passiven Beobachtung der Natur zufrieden war, wurde in der Neuzeit das aktive Eingreifen in die Natur zum Wesensmerkmal der empirischen Wissenschaft. Bei der herrschenden Einigkeit über die zentrale Rolle des Experiments erwartet man eigentlich, daß ihm in der Wissen-schaftsphilosophie ein vergleichsweise breiter Raum gewidmet würde. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Die Rolle, die das Experiment spielt, wird von wenigen Autoren und dann meist nur in wenigen Sätzen abgehandelt. Dies allein muß nicht schon ein Fehler oder ein Versäumnis sein. Es könnte ja durchaus sein, daß das Experiment eben keine Probleme (mehr) aufwirft und so gut verstanden ist, daß sich eine nähere Diskussion erübrigt. Es muß einen aber dann doch stutzig machen, daß die Unterschiede in den verschiedenen wissen-schaftstheoretischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts ausgerechnet in bezug auf das Experiment nur selten relevant werden sollen. Die Einschätzung des Experiments in der jüngeren Wissenschaftsphilosophie Sowohl der Logische Empirismus als auch der Kritische Rationalismus von Karl Popper, aber auch der diese beiden Richtungen in Frage stellende Ansatz von Thomas Kuhn sehen die Rolle des Experiments unisono in der Überprüfung von Theorien und nur in ihr. Das Experiment liefert Tatsachen, die, in Beobachtungssätzen ausgedrückt, die naturwissenschaftlichen Theorien bestätigen oder widerlegen. Dem Experiment wird also eine rein kritische Rolle zugesprochen. Bei der experimentellen Überprüfung der Theorien kommt die hypothetisch‑deduktive Methode zur Anwendung: Aus der in Frage stehenden Theorie werden Beobachtungsaussagen gefolgert und sodann die Bedingungen experimentell realisiert, unter denen die beobachtete Tatsache gemäß der Theorie einzutreten hat. Tritt die Vorhersage ein, ist die Theorie be-stätigt, tritt sie nicht ein, ist sie widerlegt. So einleuchtend diese Auffassung auf den ersten Blick auch ist, so sollte man sich doch ganz klar darüber werden, daß ein Preis dafür zu bezahlen ist. Zum einen werden nämlich damit all diejenigen Aspekte des Experiments, die nichts mit dem Wahrheitswert von Theorien zu tun haben, wie z. B. Theorienentstehung, ausgeblendet; zum andern wird die sprachliche Fassung des beobachtbaren Resultats als der einzige Punkt gesehen, an dem das Experiment mit der Theorie in irgendeine Art von Verbindung tritt. Experiment und Theorie wirken sozusagen nur in den wenigen flüchtigen Begegnungen der Überprüfung aufeinander ein. Diese Einschätzung war bekanntermaßen nicht immer die vorherrschende. Von Francis Bacon und Isaac Newton im 17. bis John Stuart Mill im I9. Jahrhundert und weit darüber hinaus sah man die Rolle des Experiments vornehmlich in der Erzeugung von Theorien. (In der Künstlichen Intelligenz‑Forschung der Gegenwart erfährt dieses Programm in mancher Hinsicht eine Renaissance.) Nach dieser Auffassung sind nur solche Theorien akzeptabel, die durch Induktion und Generalisierung aus dem Ex-periment logisch abgeleitet sind. Für Bacon, Newton und Mill besitzt das Experiment (zumindest in ihrer programmatischen Absicht) demnach einen wissens-generierenden, schöpferischen Charakter. Experimente sind für die Erzeugung von Gesetzen und Theorien notwendig und konstitutiv. Zu Anfang unseres Jahrhunderts erfuhr dieser Induktivismus durch Pierre Duhem eine besonders scharfe und einflußreiche Kritik, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrt hat. Um die allgemeine Unzulänglichkeit des Induktivismus zu zeigen, zerpflückte Duhem stellvertretend die von Newton und André-Marie Ampère angeführten Paradebeispiele und zeigte, daß dabei von einer Ableitung aus den Beobachtungstatsachen keine Rede sein kann. "Im Lauf ihrer Entwicklung", folgert Duhem hieraus, "steht es einer physikalischen Theorie frei, einen beliebigen Weg einzuschlagen, vorausgesetzt, daß er jeden logischen Widerspruch vermeidet; im speziellen steht es ihr frei, keinerlei Rechenschaft von den experimentellen Tatsachen zu geben." Diese Rechenschaft ist erst dann gefordert, "wenn die Theorie ihre vollständige Ausbildung erfahren hat". Damit also das Experiment seine eigentliche Funktion, die Überprüfung der Theorie, ausüben kann, muß ihm die Theorie schon vorhergehen. In diesem Sinne schrieb bereits Justus von Liebig im Jahre 1863 "Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinne existiert gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d.h. eine Idee vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik." Liebigs und Duhems Kritik wurde vom ex-tremen Anti‑Induktivismus Karl Poppers wiederaufgenommen und weitergeführt. "Der Experimentator", so schreibt Popper, "wird durch den Theoretiker vor ganz bestimmte Fragen gestellt und sucht durch seine Experimente für diese Fragen und nur für sie eine Entscheidung zu erzwingen ... Doch ... nicht um eine Induktionsgrundlage für die Theorienbildung zu schaffen [geht der Experimentator in dieser Weise vor]; vielmehr muß der Theoretiker seine wichtigste Aufgabe bereits gelöst haben: die Frage möglichst scharf zu formulieren." Es ist "nur die Theorie und nicht das Experiment ..., nur die Idee und nicht die Beobachtung, die der Wissenschaftsentwicklung immer wieder den Weg zu neuen Er-kenntnissen weist." Für Popper hat also das Experiment nur die negative Aufgabe zu versehen, uns vor unfruchtbaren theoretischen Wegen zu bewahren. Duhem war noch einen Schritt weitergegangen und stellte sogar die Fähigkeit des Experiments, diese negative kritische Aufgabe zu erbringen, in Frage. Selbst im Fall, daß eine Theorie reif genug ist, experimentell geprüft zu werden, kann das Experiment nach seiner Meinung keine Entscheidung für oder gegen die Theorie erzwingen. Allein aus dem Ergebnis einzelner Experimente können wir keine definitive Einsicht darüber gewinnen, ob die Theorie nun durch die gemachten Erfahrungen als bestätigt oder entwertet anzusehen ist. Eine Theorie, meint Duhem, kann erst dann als experimentell widerlegt gelten, wenn ein zusammenhängendes System von Theorien mit einer ganzen Gruppe experimenteller Tatsachen in Konflikt gerät. Duhem spricht also dem Experiment nicht nur seine wissensgenerierende Funktion ab, sondern schränkt selbst seine kritische Funktion drastisch ein. Wie Imre Lakatos überzeugend gezeigt hat, lassen sich Theorien mit einigem Geschick, zumindest für eine gewisse Zeit, vor einer experimentellen Widerlegung retten, wenn man nur hartnäckig genug den konkreten Bedingungen bei der Ausführung des Experiments, den benutzten Instrumenten oder stillschweigend aufgestellten Hilfshypothesen die Schuld für die der Theorie zuwiderlaufende Erfahrung zuschiebt. Der Vorrang der Theorie wird also nochmals verstärkt und das Experiment in seinem Wert wiederum herabgesetzt. Von dem Logischen Empiristen Hans Reichenbach stammt die (von Gottlob Frege u.a. schon vorausgedachte) einfluß‑ und folgenreiche Unterscheidung zwischen dem Entdeckungs‑ und Rechtfertigungszusammenhang von Theorien ‑ eine Unterscheidung, die auch bei Popper unter anderem Namen, nämlich als Unterscheidung von Tatsachen- und Geltungsfragen, auftaucht. Welche Ereignisse auch immer sich tatsächlich im Geiste oder Labor eines Forschers abgespielt haben mögen, bis sich eine Theorie einstellt ‑ sie sind vollkommen irrelevant für die Fragen, die die Anerkennungswürdigkeit einer Theorie und überhaupt die logische Analyse des naturwissenschaftlichen Wissens betreffen. Wie Newton zu seiner Gravitationstheorie kam, ob durch die unsanfte Berührung seines Kopfes mit einem Apfel oder durch scharfsinnig ausgedachte Experimente, ist für ihre Geltung vollkommen irrelevant. Ein Experi-ment kann möglicherweise eine psychologi-sche Hilfe sein, uns auf gute Gedanken für Theorien zu bringen. Aber diese heuristische Leistung ist weder notwendig noch hinreichend dafür, daß das Experiment sei-nen Zweck erfüllt und unterliegt überdies starken individuellen Schwankungen. Auch für Reichenbach ist also die generierende, schöpferische Bedeutung des Experiments für die Rolle, die es in der Wissenschaft zu spielen hat, irrelevant. Seine Unterscheidung führte dazu, daß man die ganze Aufmerk-samkeit nur auf die Frage richtete, wie Theorien zu rechtfertigen sind, aber nicht auf das Problem, was Experimente leisten. Obwohl nun Thomas Kuhn als der hauptsächliche Überwinder des Logischen Empirismus und als notorischer Kritiker Pop- pers gilt und zudem in seiner einflußreichen Arbeit über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen Reichenbachs Unterscheidung ausdrücklich in Zweifel zog, war er doch mit seinen Vorgängern in der Einschätzung der Rolle des Experiments ganz einig. Der Entdeckungszusammenhang, den Kuhn als relevant für die Begründungsfragen von Theorien nimmt, wird bei ihm einzig und allein durch andere Theorien, aber nicht durch Experimente gestiftet. Hierin folgte er seinem Lehrer Alexandre Koyré, der in seinen wissenschaftshistorischen Studien die Entstehung der modernen Naturwissen-schaften als einen Sieg der Metaphysik des mathematisch orientierten Platonismus über den Aristotelismus und über vorwiegend experimentell und technisch orientierte Richtungen ansah. Für Koyré wie für Kuhn ist daher die Geschichte der Wissenschaften als eine Abfolge von "intellektuellen Mutationen" anzusehen. Die Paradigmen haben die Priorität in bezug auf Begriffsbildung, Beobachtung und Apparaturen! Nach dieser Sicht hätte eine Geschichte des Experiments keinen nennenswerten Erklärungswert und stellte nur ein kontingentes Epiphänomen dar. In all den bisher behandelten Ansätzen wird zwischen Beobachtung und Experiment nicht grundsätzlich unterschieden. "Ein Experiment ist im Grunde nichts anderes als eine provozierte Beobachtung", wie schon einmal Claude Bernard diese Haltung ausdrückte. Die Tatsache, daß der Mensch han-delnd eingreift, besitzt in diesen Auffassungen keine besondere Bedeutung. Das Experiment wird mit dem Registrieren des Resultats gleichgesetzt. John Stuart Mill sah daher den handelnden Eingriff nur als ein Hilfsmittel zur Erzeugung von Bedingungen, die normalerweise "von selbst" nicht eintreten. Würde uns die Natur die Fälle präsentieren, die wir im Experiment künstlich erzeugen, dann könnten wir auch auf das Experiment, den handelnden Eingriff, verzichten: "Um die Umstände zu verändern, können wir ... unsere Zuflucht zu der Beobachtung oder zu dem Experiment nehmen; entweder wir finden in der Natur einen Fall, der unserem Zweck entspricht, oder durch eine künstliche Anordnung der Umstände machen wir einen. Der Wert des Beispiels ist abhängig von dem, was es an und für sich ist, nicht von der Art, wie es erhalten wurde.... Es gibt der Art nach keinen Unterschied, keine logische Distinction zwischen den beiden Verfahrensarten in der Forschung." Einer der wenigen Denker, der diese Meinung nachdrücklich verwarf, war Hermann von Helmholtz, der ein durch willentlichen Eingriff erhaltenes Resultat prinzipiell von der bloßen Beobachtung unterscheidet. Nur durch den eigenen aktiven Eingriff in den Lauf der Dinge können wir nach seiner Meinung Wissen erwerben. Die passive Be-obachtung allein kann hier nichts ausrichten. Durch den Willensakt können wir nämlich die Bedingungen, die im Vorgang gesetzt sind, kennenlernen, während wir bei der bloßen Beobachtung unter zu vielen Möglichkeiten wählen müßten: "Die überzeugende Kraft jedes Experiments [durch das wir die Erscheinungsweise der Objekte abändern] ist aber hauptsächlich deshalb so sehr viel größer, als die der Beobachtung eines ohne unser Zutun ablaufenden Vorganges, weil beim Experiment die Kette der Ursachen durch unser Selbstbewußtsein hindurchläuft. Ein Glied dieser Ursachen, unseren Willensimpuls, kennen wir aus innerer Anschauung und wissen, durch welche Mo-tive er zustande gekommen ist. Von ihm aus beginnt dann, als von einem uns bekannten Anfangsglied und zu einem uns bekannten Zeitpunkt, die Kette der physischen Ursachen zu wirken, die in den Erfolg des Versuches ausläuft." Nur durch das Experiment, d. h. letztlich aus Urteilen über Handlungen des (freien) Selbstbewußtseins, können wir nach Helmholtz ein Wissen über Ursachen gewinnen: "Durch verhältnismäßig wenige, gut angestellte Versuche bin ich im Stande, die ursächlichen Bedingungen eines Ereignisses mit größerer Sicherheit festzustellen, als durch millionenfache Beobachtung, bei welcher ich die Bedingungen nicht habe beliebig verändern können." Helmholtz illustrierte die Überlegenheit des willentlichen Handelns gegenüber dem blos-sen Beobachten am Beispiel der Ausdehnung des Quecksilbers durch Erwärmung. Wenn wir die Volumenänderung des Quecksilbers nur passiv beobachten und sie niemals unter verschiedenen Bedingungen in verschiedener Ausprägung selbst herbeiführen könnten, dann hätten wir kein Mittel, um alternative Vermutungen über die Ursa-che auszuschließen. Wir könnten z.B. auch annehmen, daß die Feuchtigkeit der umgebenden Atmosphäre die Ursache darstellt oder hunderterlei Faktoren mehr. Wenn wir jedoch unter bewußter Variation der Bedingungen die Ausdehnung des Quecksilbers nach Belieben experimentell hervorrufen oder verhindern können, läßt sich schließlich die Erwärmung als Ursache der Ausdehnung identifizieren. Einer der wenigen Denker in neuerer Zeit, der wie Helmholtz vom erkenntnistheoretischen Vorrang des Experiments überzeugt war, war Hugo Dingler. Für ihn ist gerade die aktive Seite des Experiments wesentlich, und er versucht, dem Experimentieren als einem technischen Handeln gerecht zu wer-den. So heißt es bei ihm: "Das Experiment unterscheidet sich nun von der Erfahrung im allgemeinen Sinn dadurch, daß es stets mehr oder weniger starke Elemente enthält, die aktiver Natur sind." Im Gegensatz zu Helmholtz ist es aber bei Dingler schwer, eine andere Funktion für das Experiment auszumachen als die kritische. Das aktive Eingreifen beim Experiment besteht für ihn darin, die fundamentalen Begriffe einer Wissenschaft, auf die alle anderen aufbauen, durch Apparate im Experiment technisch zu realisieren. Erst durch dieses Eingreifen werden die Erfahrungen mit der Theorie verknüpft und damit die Theorie experimentell begründet. Obwohl Dingler die aktive Seite des Experiments ernst nimmt, spielt auch bei ihm das Experiment wesentlich nur im Geltungs‑, nicht aber im Entdeckungszusammenhang eine Rolle. Die an Dingler an-knüpfenden Autoren waren aber fast die einzigen, die dem experimentellen Eingriff einen wesentlichen Platz in der Wissenschaftsphilosophie einräumten. Im Rückblick erscheint also die Diskussion des Experimentbegriffs in der Wissen-schaftsphilosophie vom späten 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit im Großen und Ganzen als eine Abfolge sich steigernder negativer Resultate: Wir wissen immer mehr darüber, was das Experiment nicht leistet, und verstehen immer besser, wo frühere mit dem Experiment verbundene epistemische Ansprüche ihre Grenze finden. Als Folge dieser Diskussion entstand ein Phänomen, das man die »Unsichtbarkeit des Experi-ments« nennen kann. So wie Thomas Kuhn zufolge wissenschaftliche Revolutionen normalerweise unsichtbar sind, weil sich die Wissenschaft ihre Geschichte als bruchlose, sich steigernde Vorgeschichte ihrer gegenwärtigen Einsichten zurechtzimmert, so bleiben das Experiment und seine Entwicklung unsichtbar, weil die Wissenschaftsphilosophie seine Rolle für die Erkenntnisgewinnung auf die der Überprüfung einschränkt. In den letzten Jahren begann das Experiment mit seinen verschiedenen Funktionen und mit seiner reichen Geschichte wieder sichtbar zu werden. Dieser Umschwung ver-dankt sich hauptsächlich detaillierten historischen und wissenschaftssoziologischen Untersuchungen. Diese Arbeiten lassen zum Teil auch hoffen, daß das Augenwerk nicht wie bisher nur auf die Physik fixiert bleibt, sondern sich auch auf andere experimentelle Disziplinen richtet. In der Wissenschafts-philosophie ist es vor allem Ian Hackings Buch Representing and Intervening zu ver-danken, daß ein gewisser Wandel eingetre-ten ist. Man hat endlich eingesehen, daß man den revolutionären Experimentiermethoden z.B. eines Galileo Galilei oder Michael Faraday einfach nicht gerecht wird, wenn man Experiment und beobachtetes Resultat miteinander gleichsetzt, wie es die vorherrschende Meinung tut. Die genaue Berücksichtigung der Geschichte liefert gute Gründe für die Vermutung, daß die Unsichtbarkeit des Experiments in der Wissenschaftsgeschichte nur scheinbar ist und aus der Blindheit der Wissenschaftsphilo-sophie resultiert. Die gegenwärtige Lage ist eine Herausforderung, neue philosophische Ansätze zu entwickeln oder alte zu stärken, in denen das Experiment angemessen (und das heißt vor allem: in Berücksichtigung seines Reichtums) behandelt werden kann. Das Experiment als Umgang mit dem wissenschaftlichen Instrument Wir haben eine Reihe von Positionen zum Experiment untersucht, die nun zu bewerten sind. Einerseits scheint es nicht ausreichend zu sein, dem Experiment lediglich eine überprüfende Rolle zuschreiben zu wollen. Unter anderem geht dabei gerade sein schöpferischer Charakter als wesentliches Element verloren. Andererseits wäre es aber zu stark, das Experiment (über seine theorienprüfende Rolle hinaus) als eine mit letzter Beweiskraft ausgestattete Instanz zu sehen ‑ entweder als positiv beweisende, wie der Induktivismus es tut, oder auch als negativ beweisende im Sinne Poppers. Die schöpferische Seite des Experiments wäre nicht genügend berücksichtigt, wenn man sie lediglich als eine rein heuristische oder psychologische Dimension bei der Theorienbildung ansehen würde, die beim einen Forscher zum Tragen kommt und beim an-dern nicht. Das Entstehen der "richtigen Ideen" hängt viel stärker vom richtigen Experimentieren ab, als Liebig dies wahrhaben wollte. Aber wiederum wäre es zu stark, das Experiment nun gleich auch als eine Entdeckungsmethode für Gesetze oder Theorien gelten zu lassen, wie es starke Versionen des Induktivismus im vorigen Jahrhundert getan haben, aber auch in neuester Zeit wieder tun Es scheint also, daß keine der genannten Theorien des Experiments wirklich befriedigen kann. Gefragt ist eine Position, die gewissermaßen in der Mitte zwischen den genannten Extremen liegt: Dem Experimentieren muß neben seiner kritischen auch eine schöpferische Seite zugestanden werden, aber auf eine Weise, die den starken Induktivismus vermeidet. Um eine solche Position zu entwickeln, muß man zuerst einmal den wissenschaftlichen Instrumenten als den Mitteln des Experimentierens den ihnen gebührenden Rang wieder einräumen. Gerade in bezug auf den Instrumentgebrauch scheint mir die Spannung zwischen dem in der Wissenschafts-philosophie herrschenden Experimentbegriff und den genannten neueren Untersuchungen zur Wissenschaftsgeschichte am größten zu sein, oder, um es paradox zu formulieren, hier wird die Unsichtbarkeit des Experi-ments am sichtbarsten. Im folgenden wird davon ausgegangen, daß der Instrument-gebrauch einen notwendigen Bestandteil des Experiments darstellt. Wie jedes Instrument ist auch das wissen-schaftliche in erster Linie eine technische Erfindung, also eine künstliche Vorrichtung ‑ ein Artefakt, das ohne den Menschen nicht vorkommen würde. Eine technische Erfindung ist für einen vom Menschen gesetzten Zweck geschaffen, der sich ohne menschlichen Eingriff erfahrungsgemäß nicht (oder nicht auf diese Weise) erfüllen läßt. Insofern überwindet eine Erfindung eine von der Natur gesetzte Beschränkung. Natürlich be-sitzt jede technische Erfindung als materieller Gegenstand auch eine naturale Seite. Insofern kann sie die Naturgesetze auch nicht außer Kraft setzen, sondern befindet sich mit der Natur in Einklang. Was sind nun die besonderen Merkmale, die ein wissenschaftliches Instrument vor an- deren technischen Erfindungen auszeichnet? Zur Beantwortung müssen wir die verschiedenen Zwecke bestimmen, für die Instrumente geschaffen werden. Neben der unbe-strittenen Funktion, Daten zur Überprüfung von Theorien zu liefern, scheinen mir mindestens noch drei weitere Zwecke wesentlich zu sein, die einzeln oder zusammengenommen in verschiedenen Kombinationen (auch zusammen mit der theorienprüfenden Funktion) in einem Instrument realisiert sein können: 1. der Zweck der Erfahrungserweiterung (produktive Funktion), 2. der Zweck der Phänomenstrukturierung (repräsentierende oder strukturierende Funktion) und 3. der Zweck der Beherrschung der Bedingungen (konstruierende und imitierende Funktion). Man kann nun die wissenschaftlichen In- strumente danach einteilen, welchem dieser Zwecke ihre Verwendung gewöhnlich dient. Es ist klar, daß hier Mischformen auftreten und sich die Verwendungsweise eines Instruments im Laufe der Zeit signifikant ändern kann. Historisch sind gerade dies natürlich die interessanten Fälle. Es gilt aber, zuerst einmal die Grundtypen zu finden und darzustellen, bevor man zu komplizierteren Formen übergeht. Ein Instrument mit produktiver Funktion hat den Zweck, die Wirklichkeit des Menschen zu erweitern, d.h. Phänomene zu erzeugen, die sonst nicht im Bereich der menschlichen Erfahrung auftreten. Es werden Erscheinungen für unsere Erfahrung hervorgerufen, die ohne das Instrument (oder ein dazu funktional äquivalentes) nicht in der Natur als dem Inbegriff der Erscheinungen vorkämen. Es handelt sich also um "absichtliche selbsttätige Erweiterung der Erfahrung", wie Ernst Mach es einmal ausgedrückt hat. Viele Instrumente, deren produktiver Charakter besonders einsichtig ist, wurden in der frühen Neuzeit erfunden, wie Luftpumpe oder Elektrisiermaschine. Die Luftpumpe stellt ein Vakuum her, das ohne das Instrument in der Natur für den Menschen nicht erfahrbar wäre. Die Elektrisiermaschine produziert elektrische Phänomene, die ohne sie (bzw. ohne andere, gleichwertige Instrumente) den menschlichen Sinnen, und damit unserer Erfahrung, nicht zugänglich wären. Wir müssen uns aber nicht nur auf die frühe Neuzeit beschränken: Gerade in der Teilchenphysik der Gegenwart gibt es genügend Beispiele für produktive Instrumente. Man denke etwa an die großen Teilchenbe-schleuniger, die fast in einem fort neue Materiebausteine produzieren. Die Experimenttypen in den genannten Bei-spielen stoßen in Bereiche vor, die den Sinnen auch nicht in anderen Dimensionen oder auf andere Weise zugänglich sind. Es gibt aber auch noch eine andere Art produktiver Instrumente, die neue Phänomene da-durch produziert, daß sie die Leistungsfähigkeit unserer Sinne verbessert oder die Erscheinungen in Komponenten zerlegt. Diese Instrumente werden auf Phänomene angewendet, die schon unter anderen Bedingungen der menschlichen Erfahrung zugänglich und bekannt sind. Insofern könnte man deshalb solche Instrumente bedingt produktiv nennen, da sie nicht Phänomene schlechthin produzieren, sondern nur unter solchen Bedingungen, unter denen sie uns nicht (oder normalerweise nicht) zugänglich sind. Für die sinnesverbessernden Instrumente sind wieder viele in der frühen Neuzeit erfundene Instrumente einschlägig ‑ allen voran das Fernrohr und das Mikroskop. Sie führen Phänomene durch Erweiterung eines schon bestehenden Zugangs in die Erfahrung ein. Ohne Teleskop können wir die weit entfernte Wetterfahne nicht sehen; wir können aber näher an den Kirchturm herangehen und uns ihrer Existenz auch ohne Instrument versichern. Bei den Jupitermonden oder anderen weit entfernten astronomischen Objekten wird dies natürlich schon schwieriger. Ein ähnliches Vorgehen ist bei der Luftpumpe und der Elektrisiermaschine aber nicht möglich. Natürlich gibt es für Beobachtungsinstrumente Grenzen, an de-nen auch der beste Beobachter unter den günstigsten Bedingungen nicht mehr den Einsatz des Instruments durch das unbewaffnete Sinnesorgan ersetzen kann. Aber der Übergang ist dabei fließend und nicht sprunghaft, wie dies bei den unbedingt produktiven Instrumenten der Fall ist. Beobachtungsinstrumente sind uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir nicht mehr nachvollziehen können, welche geistige Anstrengung es den Menschen zur Zeit ihrer Erfindung kostete, sie als Instrumente zu begreifen, die neue Wirklichkeiten schaffen. Schließlich sind noch diejenigen produktiven Instrumente zu behandeln, die neue Phänomene durch Komponentenzerlegung schon bekannter Phänomene zugänglich machen. Beispiele, die hier einschlägig sind, sind das Prisma und das Spektroskop. Hier wird aus dem uns zugänglichen Phänomen des Lichts ein Teil‑Phänomen herauspräpariert, das uns ohne das Instrument nicht zugänglich wäre. Repräsentierende Instrumente haben den Zweck, die Abhängigkeit eines Phänomens von anderen Phänomenen am Instrument selbst symbolisch darzustellen und damit die Ordnung der Phänomene in der Welt zu begreifen. Beispiele für Instrumente, die eine solche Funktion erfüllen, sind Uhren, Waagen, Elektrometer, Galvanometer, Thermometer, Winkelmesser usw. Mit Hilfe solcher Instrumente werden Phänomene in andere transformiert und zwar so, daß sich die Ordnung der einen Phänomenklasse in der der anderen (zumindest angenähert) wiederfindet. Beim Quecksilber-Thermometer z.B. werden dem Wärmesinn zugängliche Phänomene transformiert in Phänomene, die dem Gesichtssinn zugänglich sind (Ausdehnung der Quecksilber-Säule). Durch die-se Transformation wird eine Beziehung zwischen den Phänomenen hergestellt ‑ im Fall des Thermometers zwischen den Wärmeer-scheinungen und den Quecksilberausdehnungen. Auf diese Weise kann die Veränderung des Instruments stellvertretend für die Veränderung gewisser anderer Phänomene genommen werden. Das Instrument dient zur symbolischen Darstellung der Eigenschaften von Phänomenen. Die Höhe der Quecksilbersäule im Thermometer repräsentiert den Wärmezustand des gemessenen Körpers. Repräsentierende Instrumente sind symbolische Artefakte, deren Zustände als Zeichensysteme zur Darstellung von Wirklichkeit dienen. Entscheidend ist dabei übrigens nicht, daß es sich wie bei den angeführten Beispielen häufig um Meßinstrumente handelt. Auch wenn ein Instrument nur ein Mehr oder Weniger oder ein Gleich anzeigt, also bloß eine komparative Ordnung, wie das viele Instrumente aus der frühen Neuzeit taten und wie das die Waagen auf den Märkten bis heute oft noch tun, ist die repräsentierende Funktion gewährleistet. Meßinstrumente sind Instrumente, die besonders gut für Repräsentationen hergenommen werden können. Sie liefern vollständigere, genauere und detailliertere Repräsentationen, als dies Instrumente tun, die nur für qualitative Vergleiche geeignet sind. Instrumente mit konstruierender Funktion schließlich sind dazu da, die Phänomene so zu beeinflussen und zu bearbeiten, daß sie in einer gewünschten Weise beherrschbar werden. Es gilt dabei, die bei der reinen Darstellung des Phänomens störenden Umstände so weit wie möglich auszuschalten. Hier kann auf die 1745 erfundene Leidener Flasche Bezug genommen werden. Dieses Instrument war nicht dazu da, die Elektrizität als Phänomen aufzudecken oder sie zu messen, auch nicht, um eine Theorie zu überprüfen, sondern um Elektrizität anzu-sammeln und aufzubewahren. Es kommt al-so bei dieser Art Instrument darauf an, das Phänomen "abzurichten", es beherrschbar, modellierbar, manipulierbar zu machen, es von fremden Einflüssen in einer Laborumgebung zu isolieren. Zu dieser Sorte von Instrumenten gehören auch diejenigen, mit deren Hilfe man (wie der Physiker Martinus van Marum es 1785 ausdrückte) "imitative" Experimente durchführen kann, d.h. Experimente, die Phänomene in einer anderen als der gewöhnlichen Dimension reproduzieren. Ein Beispiel aus Van Marums Zeit ist die Nachahmung eines Blitzschlags in ein Haus durch die Entladung einer Elektrisiermaschine in ein Modell eines Hauses in kleinerem Maßstab. Auf diese Weise hat man die Zuverlässigkeit von Blitzableitern getestet. Für uns sind heute vielleicht Windkanal‑Experimente und dergleichen technische Modellierungen ge-läufiger. Die Unterscheidung zwischen produktiven und repräsentierenden Funktionen von Instrumenten trifft sich mit ähnlichen, schon früher gemachten Vorschlägen. Im 17. Jahrhundert unterschied man zwischen "philosophical instruments" als Hilfsmitteln der neuen experimentellen Naturphilosophie zur Erzeugung von Phänomenen und den "mathematical instruments" als Hilfsmitteln der "mixed mathematics" (d.h. der 'angewandten' Mathematik, die neben abstrakten auch physische Eigenschaften zum Gegenstand hat), mit denen man die Phänomene maß. In unserer Zeit spricht Jed Buchwald vom Unterschied zwischen "Entdeckungsexpe-rimenten (discovering experiments)", die neue Effekte hervorrufen oder prüfen, und "Meßexperimenten (measuring experiments)", in denen Zahlen für Parameter gefunden werden, die schon in ein vorbereitetes Schema passen. Der eigentliche Zweck der Meßinstrumente scheint mir nicht im Auffinden von Zahlen zu liegen, die die Phänomene charakterisieren, sondern im Ergründen der Ordnung der Phänomene untereinander, der Abhängigkeit der experimentellen Variablen voneinander. Dieser Zweck ist besonders gut, aber nicht notwendigerweise, durch Meßinstrumente erfüllbar. Es gibt eben auch einen komparati-ven Gebrauch von Instrumenten, der die Phänomene in eine komparative Reihe ein-ordnet, ohne quantitativ zu sein. Deshalb ist die Bezeichnung "repräsentierende Instrumente" der von Buchwald vorzuziehen. Es scheint mir auch besser zu sein, von produktiven als von Entdeckungsinstrumenten zu sprechen, weil in "Produktion", aber nicht in "Entdeckung" die schöpferische Dimension des menschlichen Eingreifens schon mitgedacht ist. Kritik der Theorielastigkeit des Experi-ments Die diskutierte Unterscheidung zwischen den produktiven, repräsentierenden und konstruierenden Instrumenten ermöglicht nun einen differenzierteren und angemesseneren Blick auf das Experiment. Sie erlaubt auch eine Kritik an der Standardauffassung, daß sich die Rolle des Experiments in der Überprüfung einer schon zuvor aufgestellten Theorie erschöpft ‑ daß also zuerst eine Theorie existieren muß, bevor ein Experi-ment überhaupt möglich und sinnvoll ist. Um diese Einschränkung der Experiment‑ Rolle in Zweifel zu ziehen, muß man folglich zeigen, daß es auch ohne eine vorausgesetzte Theorie sinnvolles Experimentieren geben kann. Dies scheint der seit vielen Jahren weithin akzeptierten Lehre von der Theoriebeladenheit der Beobachtung zu widersprechen ‑ der Auffassung nämlich, daß es, überspitzt ausgedrückt, in den Wissenschaften ohne Theorien gar keine Tatsachen gibt. Wissenschaftliche Tatsachen werden nach dieser Ansicht erst von Theorien oder Paradigmen bestimmt, die ihnen gegenüber erkenntnistheoretischen Vorrang besitzen. Im folgenden möchte ich zeigen, daß man sich einer Äquivokation in bezug auf "Theorie" schuldig macht, wollte man aus der Theoriebeladenheit der Beobachtung schließen, daß je-des Experiment eine Theorie voraussetzt, die es überprüft. Dazu gehe ich von einem Autor aus, der als einer der ersten die Theoriebeladenheit der Beobachtung und, was meinen Ausführungen stark entgegenkommt, auch die Theoriebeladenheit des Instrumentgebrauchs vertreten hat, nämlich der schon genannte Pierre Duhem. So heißt es bei ihm: "Nur die theoretische Interpretation der Erscheinungen ermöglicht den Gebrauch der Instrumente." Man muß hier genau darauf achten, was Duhem unter einer "theoretischen Interpretation" versteht: Die Interpretation einer Gruppe von Erscheinungen, so führt er aus, "ersetzt das Gegebene, mit Hilfe der Beobachtung wirklich Erhaltene durch abstrakte und symbolische Darstellungen, die mit ihnen [den Erscheinungen] übereinstimmen auf Grund der Theorien, die der Beobachter als zulässig annimmt." Deshalb ist das Re-sultat eines Experiments für ihn auch "nicht einfach die Beobachtung einer Erscheinung", etwa daß ein einen Spiegel tragender Eisenstab oszilliert, sondern erst die Feststellung, daß die bei der Oszillation verwendete Spule einen bestimmten elektrischen Widerstand besitze. Der Begriff des elektrischen Widerstandes und die Rolle, die er in einer Theorie mit anderen Begriffen spielt, ermöglicht es, so Duhem, das in diesem Beispiel beobachtete Resultat des Experi-ments in einem "abstrakten und symbolischen Urteil" auszudrücken. Zu jedem Instrumentgebrauch im Experiment gehört al-so für ihn eine Theorie, die die Ebene der bloßen Erscheinungen übersteigt und eine symbolische Interpretation dieses Gebrauchs liefert. Der Physiker zieht aus dem Expe-riment seine Schlußfolgerungen in abstrakten Ausdrücken, "denen wir keinen Sinn unterlegen können, wenn wir nicht die physikalischen Theorien kennen, auf die sich der Autor stützt." Hier haben wir eine klare Beschreibung dessen vor uns, was wir als "Theoriebeladenheit der Beobachtung bzw. des Experi-ments durch theoretische Interpretation" bezeichnen können. Diese Art der Theoriebeladenheit wird nun häufig verwechselt mit einer anderen Art. Seit N.R. Hanson (1958) ist es anerkannt und zum Gemeinplatz geworden, daß unsere Beobachtungen von un-serem Vorwissen, unseren Überzeugungen und Wahrnehmungsgewohnheiten abhängen. Zur Unterscheidung können wir dies »Theoriebeladenheit durch Bezug auf Vorwissen« nennen. Nun ist klar, daß jedes Experiment eine "theoretische Erwartung" in bezug auf relevantes Vorwissen beinhaltet und daß eine Theorie möglicherweise auch revidiert wird, falls diese Erwartung enttäuscht wird. Dies heißt aber keinesfalls, daß in jedem Experiment eine durch theoretische Interpretation gewonnene Behauptung überprüft wird. Zwar geht in jedes Experimentieren ein Hintergrundwissen mit ein und wird im Experiment nebenbei mitüberprüft, aber we-der ist es der eigentliche Zweck des Experiments, dieses Vorwissen zu überprüfen, noch muß dieses Vorwissen eine theoretische Interpretation des Experiments beinhalten. Wenn eine experimentelle Prüfung einer Theorie ansteht, dann ist es allenfalls der spezielle Vorgriff auf die Erfahrung, der von dieser Theorie über das relevante Vorwissen hinaus behauptet wird, den man da-bei einem Test unterzieht. Man kann also Hansons These von der Theoriebeladenheit, wenn man sie recht versteht, in bezug auf das Experiment vollkommen zustimmen, aber gleichzeitig die Behauptung Duhems ablehnen, daß jedes Experiment dadurch auch schon eine solche Theorie voraussetzt, die erst die theoretische Interpretation des Experiments liefert. Ich vertrete also die Auffassung, daß zwar unser Experimentieren und Beobachten in einen begrifflichen und theoretischen, die Erwartungen steuernden Rahmen eingebettet ist, daß aber daraus nicht folgt, daß mit jedem Experiment eine ihm vorrangige Theorie überprüft wird, die erst die notwendige theoretische Interpretation des Ergebnisses liefert. Eine genauere Untersuchung zeigt, daß die von Duhem herangezogenen Beispiele einseitig sind, da sie sich durchweg auf Experimente mit repräsentierenden Instrumenten beziehen. Wie steht es mit den produktiven und konstruierenden Experimentierfunk-tionen? Muß auch hier eine abstrakte und symbolische Deutung der instrumentell er-zeugten Erscheinungen vorausgehen, um sinnvolles Experimentieren möglich zu machen? Ein Blick auf die tatsächliche Experimentierpraxis legt eine negative Antwort nahe. Bei beiden geht es in erster Linie um die Zurichtung der Phänomene, ohne daß dieser Gebrauch immer schon symbolisch gedeutet sein müßte, um überhaupt sinnvoll zu sein. Um bei dem oben angeführten Beispiel Duhems mit der elektrischen Widerstandsmessung zu bleiben: Bevor das von Duhem genannte Beispiel mit der elektronischen Widerstandsmessung möglich wurde, war es notwendig, Elektrizitätsquellen herzustellen (produktives Experimentieren) und zwar solche, die konstant sind (konstruktives Experimentieren). Außerdem mußte über den Zusammenhang von elektrischen und magnetischen Wirkungen soweit Kenntnis bestehen, als dies für die Verwendung der Instrumente bei der Widerstandsmessung notwendig war (ebenfalls produktives Experimentieren). Diese Voraussetzungen wurden also ihrerseits in Experimenten geschaffen, in denen keine theoretische Interpretation der beobachteten Tatsachen durch ab-strakte Symbole, keine Ersetzung konkreter Aussagen durch symbolische Darstellungen nötig war. Auch bei den anderen oben angeführten Beispielen für produktives und konstruktives Experimentieren mit der Luftpumpe und der Leidener Flasche ist es klar, daß dabei keine theoretische Interpretation eines Erfahrungsbefundes überprüft wird, sondern die Möglichkeiten des apparativen Eingriffs und Umgangs ausgereizt werden. Der Einsatz von produktiven und konstruktiven Instrumenten beim Experimentieren setzt im Normalfall keine theoretische Interpretation voraus. Experimente können also in ihrer Ermittlung der Tatsachen durchaus selbständig gegenüber der Theorie sein. Produktive und konstruktive Experimente werden gerade deshalb durchgeführt, um erst die Bedingungen kennenzulernen, unter denen sich das Phänomen verläßlich darstellen läßt. Durch das Experimentieren sollen die Bedingungen aufgefunden werden, die die von Duhem geforderte Entwicklung hin zu einer Theorie mit symbolischen und ab-strakten Begriffen erst ermöglichen. Man ist daher versucht, das vorher angeführte Zitat Duhems schlichtweg umzudrehen und zu sagen: Nur der Gebrauch der (produktiven und konstruktiven) Instrumente ermöglicht die theoretische Interpretation der Erscheinungen. Im produktiven und konstruktiven Experimentieren führt also der Instrumentgebrauch ein theoriefreies Eigenleben. Wie sieht es nun mit den repräsentierenden Instrumenten aus? Zumindest prima facie scheint Duhem damit recht zu behalten, daß wir den Umgang mit solchen Instrumenten in einer abstrakten und symbolischen Sprache darstellen müssen, die sich aus einer oder mehreren Theorien ergibt. Gerade bei Meßinstrumenten wird dies besonders deutlich. Ohne das Ohmsche Gesetz und ohne ein Wissen um die Bedeutung der Begriffe von Stromstärke und Spannung ist der Begriff des Widerstandes nicht sinnvoll zu verwenden. In die Konstruktion der Instrumente zur Widerstandsmessung geht ein Wissen um das Ohmsche Gesetz mit seinen abstrakten Begriffen schon mit ein. Aber auch repräsentierende Instrumente können zusätzlich noch eine schöpferische Dimension erlangen. Dieser Fall tritt dann ein, wenn sich die Bedeutung der verwendeten Begriffe im Experiment erweitert. Experimente mit verzweigten Stromkreisen setzen zwar das Ohmsche Gesetz voraus, aber man muß nicht schon die Kirchhoff-schen Verzweigungsgesetze kennen, um die Versuchsresultate zu beschreiben. Experimente zur Abhängigkeit des Widerstandes von der Temperatur führen zu einer Erweiterung der Anwendung des Widerstandsbegriffs, ohne daß schon eine Theorie über diesen neuen Zusammenhang vorausgesetzt sein muß, der die theoretische Interpretation der Grundbegriffe liefert. Selbst wenn das Instrument theoretisch stark "aufgeladen" ist, kann man immer noch den Unterschied machen zwischen einer theoretischen Interpretation, die sich auf die Verwendung des Instruments in einem bestimmten Experiment erstreckt, und einer solchen, in der das nicht der Fall ist. Im ersten Fall würde es sich um eine überprüfende, repräsentierende Verwendung des Instruments handeln, im letzteren Fall um eine Erweiterung einer theoretischen Interpretation in einer schöpferischen, bisher von der Theorie noch nicht interpretierten Verwendungsweise des Instruments. Je mehr in einer Forschungstradition über die Eigenschaften der produzierten Phänomene bekannt ist, desto mehr hängt die Verwendungsweise von der theoretischen Interpretation ab. Es ist aber nicht einzusehen, daß auch neue Verwendungsweisen schon von der Theorie vorausgesetzt werden müssen, um sinnvoll experimentieren zu können. Für alle drei Experimentierweisen gibt es also eine gewisse Autonomie gegenüber Theorien. Das Experiment dient neben der Prüfung von Theorien auch der Schaffung von Wirklichkeit. Um das angeführte Zitat von Popper wieder aufzugreifen und vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht allein aus Ideen und Theorien fließen neue Erkenntnisse und Erklärungen, sondern auch aus der experimentellen Gestaltung und dem instrumentellen Eingriff. UNSER AUTOR: Michael Heidelberger ist Professor für Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften und Naturphilosophie an der Humboldt-Universität. Von der Redaktion leicht gekürzte Fassung eines Vortrages am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Die ungekürzte Fassung mit den Quellenangaben erscheint diesen Frühling im Buch "Heidelberger/Steinle, Experimental Essays - Versuche zum Experiment" (Nomos-Verlag, Baden-Baden). |