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03 2021

Christine Bratu, Susanne Lettow, Martin Saar und Barbara Zehnpfennig:
Identitätspolitik und Philosophie

aus: Heft 3/2021, S. 24-33
 
 
Was beinhaltet der Begriff „Identitätspolitik“?
 
Christine Bratu: Ursprünglich wurde mit diesem Begriff ein Politikverständnis bezeichnet, demzufolge Personen aufgrund (inhärenter oder bloß zugeschriebener) Merkmale zu partikularen Gruppen gehören und politische Akteur:innen (wie etwa Verbände oder Parteien) die Interessen dieser partikularen Gruppen artikulieren und durchsetzen. Als Beispiele dienten oft die Frauenbewegung, das Civil Rights Movement in den USA oder der Kampf um Gleichberechtigung von LGBTQIA+ Personen; als Gegenpol galt eine (vermeintlich) universalistische Politik, d.h. eine Politik, die sich nicht die Anliegen einer bestimmten Gruppe, sondern das (wie auch immer verstandene) bonum commune auf die Fahne schreibt. Identitätspolitik in diesem (engen) Sinne wurde sowohl von rechts als auch von links kritisiert, wobei die Stoßrichtung aus beiden Richtungen letztlich dieselbe war, nämlich dass Identitätspolitik Sonderinteressen mehr Platz einräumt als diesen legitimerweise zusteht.
 
Neuerdings scheint der Begriff eine Bedeutungserweiterung zu erfahren, da er zunehmend auch bezogen auf die Wissenschaft oder den Kulturbetrieb gebraucht wird. Hier wird Personen unterstellt (oder eher: vorgeworfen) Identitätspolitik zu betreiben, wenn sie behaupten, a) dass mit dem Innehaben einer bestimmten sozialen Position oft epistemische Privilegien in Bezug auf diese Position einhergehen (dass also bspw. Frauen die Situation von Frauen oft besser beurteilen können) und b) dass es deswegen epistemisch besser wäre, wenn wir zu Fragen diese soziale Position betreffend primär Personen hören, die diese auch tatsächlich innehaben. Nach diesem weiteren Verständnis könnte man es als Fälle von Identitätspolitik verstehen, dass die Zeitschrift Hypatia 2017 nach der Veröffentlichung eines Artikels über transracialism in die Kritik geraten ist, in dem nicht ausreichend auf die relevanten Beiträge von people of color verwiesen wurde, oder dass sich ein deutscher Verlag dagegen entschieden hat, Amanda Gormans „The Hill We Climb“ unkommentiert von einer weißen Person übersetzen zu lassen.
 
Susanne Lettow: Im Gebrauch eines Begriffs verändert sich seine Bedeutung – das gilt auch für den Begriff der Identitätspolitik. Entstanden ist der Begriff im Kontext der Auseinandersetzung Schwarzer Feministinnen in den USA mit dem falschen Universalismus, also dem Anspruch auf Allgemeinheit, der durch implizite Ausschlüsse geprägt ist. Den Bezugspunkt stellte hier das von der US-amerikanischen Frauenbewegung der 1970er Jahre postulierte feministische „Wir“ dar. Das Combahee River Collective betonte dagegen in seinem berühmt gewordenen Statement, dass Macht und Herrschaft intersektional sind, so dass Sexismus, Rassismus und Klassenverhältnisse als eng miteinander verzahnte Unterdrückungsformen verstanden werden müssen. Radikale, auf Befreiung zielende Politik, so argumentierten die Autorinnen, könne in einem derart komplexen und Gefüge von Unterdrückungsverhältnissen grundsätzlich nicht stellvertretend für Andere, sondern nur ausgehend von der eigenen Erfahrung bzw. Identität gemacht werden.
 
Im Gegensatz zu der gegenwärtigen Debatte um „Identitätspolitik“ ging es hier weder um eine Abkehr von der Analyse und Kritik sozioökonomischer Ungleichheit (im Gegenteil!), noch ging es darum, eine vermeintlich homogene, widerspruchsfreie Identität zu fixieren und gegen andere zu behaupten. Fluchtpunkt der Analyse, mit dem sich in der Folge weite Teile der Gender Studies, kritischen Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie bis heute auseinandersetzen war vielmehr die Perspektive einer Allianzbildung und demokratischen Bündnispolitik, die Differenzen ernst nimmt, ohne sie zu reifizieren. Wenn nun gegenwärtig „Identitätspolitik“ – in einer paradoxen Wendung – mit einer Abkehr von der „sozialen Frage“ und neoliberalen Selbstverwirklichungs- und Diversityphantasmen gleichgesetzt wird, dann muss festgehalten werden, dass die ursprüngliche Bedeutung in dieser Verwendung des Begriffs geradezu ad absurdum geführt wird. Zudem gilt es wiederum, dass das hier implizierte Verständnis von Ungleichheit und Benachteiligung erneut kritisch danach befragt wird, wessen und welche Bedürfnisinterpretationen als „ökonomisch“ und sozialpolitisch relevant gelten, welche aber als „bloß kulturell“ abgetan werden. In der Debatte um die Ursachen der Konjunktur des Rechtspopulismus hat sich diese Unterscheidung zwischen „kulturellen“ und „ökonomischen“ Anliegen als fatal erwiesen. Nur eine explizit machtkritische Auseinandersetzung mit Differenzen und Hierarchien, die die konstitutiven Zusammenhänge von kulturellen und ökonomischen Aspekten sozialer Ungerechtigkeit in verändernder Absicht hervorhebt, kann schließlich verhindern, dass diese – aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit formulierte – Kritik der Identitätspolitik mit jener rechtspopulistischen Ablehnung von Identitätspolitik konvergiert, die auf identitäre Schließungen, Nationalismus und Autoritarismus setzt.
 
 
Im Rahmen welches philosophischen Ansatzes wird über Identitätspolitik nachgedacht bzw. welche AutorInnen sind dabei von Bedeutung?
 
Susanne Lettow: Der Begriff der Identität verweist auf den der Differenz. Die zentralen philosophischen Beiträge zum Verständnis von Macht, Subjektivität und Politik im Sinne intersektionaler Allianzbildungen sind seit den 1980er Jahren in Anschluss an differenzphilosophische Ansätze formuliert worden. Insbesondere diejenigen, die Jacques Derridas Verständnis von Differenz als unabschließbarem Prozess der Bedeutungsverschiebung und der Resignifikation oder Luce Irigarays Konzeption der sexuellen Differenz, die die Unmöglichkeit „das Weibliche“ im Kontext patriarchaler Ordnung zu artikulieren hervorheben, haben dabei eine große Rolle gespielt. Queer-feministische und postkoloniale Theorie haben durch die kritische Auseinandersetzung und Erweiterung dieser Ansätze immer wieder die Widersprüchlichkeit, strukturelle Heterogenität und Unabgeschlossenheit von Prozessen der Identitätsbildung aufgezeigt. Weder individuelle noch kollektive „Identitäten“ können demzufolge ohne die multiplen Differenzen, die sie konstituieren, verstanden werden. „Identitätspolitik“ in diesem Sinne ist als zu allererst Kritik der „Identität“, sofern diese als homogen und statisch aufgefasst wird. Ausgehend von der Einsicht, dass Identitäten und Differenzen durch dynamische Macht- und Herrschaftsverhältnisse bestimmt sind, und daher Gegenstand und Anlass von Konflikten haben Autorinnen wie Judith Butler, Donna Haraway und Gayatri Spivak über die Möglichkeiten und Bedingungen solidarischer Politik im Sinne einer Allianzbildung diskutiert, die das Verschieden-Sein bzw. die Möglichkeit, „ohne Angst verschieden (zu) sein“ (Adorno), zum Ausgangs- und Fluchtpunkt macht.
 
Christine Bratu: Ein gutes Beispiel für Identitätspolitik im engen Sinne ist John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit. Wahrscheinlich hat Rawls selbst zumindest gehofft, mit diesem immerhin über 600 Seiten starken Werk das Wichtigste zur Frage, wann ein Staat gerecht ist, gesagt zu haben. Umso auffälliger ist es, dass sich darin nichts Aussagekräftiges zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit oder Rassismus finden lässt, und das obwohl das Werk zeitgleich zur zweiten Welle des Feminismus und zum Civil Rights Movement verfasst wurde. Kritiker:innen wie Susan Moller Okin und Charles Mills zufolge zeigt dieses Versäumnis, dass Rawls letztlich nur diejenigen Gerechtigkeitsfragen interessierten, die ihn auch selbst praktisch betreffen konnten. Nimmt man diese Kritik ernst, sind also nicht nur Moller Okins explizit feministische und Mills explizit antirassistische Erwiderungen Beispiele für Identitätspolitik, die aus einer partikularen Position heraus ebenderen Belange thematisieren, sondern uneingestandenerweise auch Rawls‘ eigene Theorie.
 
Eine hervorragende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen von Identitätspolitik im weiteren Sinne ist dagegen Linda Martín Alcoffs Aufsatz von 1991 zum Problem of Speaking for Others. In diesem Text stellt Alcoff dar, dass wir den Inhaber:innen partikularer sozialer Positionen zu Themen, die mit diesen Positionen zusammenhängen, besonderes Gehör schenken sollten, einfach weil es wahrscheinlich ist, dass sie Expert:innen zu diesen Themen (geworden) sind. Gleichzeitig betont Alcoff, dass hieraus nicht folgt, dass wir uns vor der Auseinandersetzung mit Themen, die uns nicht direkt angehen, drücken dürfen. Gerade Personen mit einem großen Sprachrohr – also beispielsweise Personen, die exponierte Posten in Akademia oder der Medienlandschaft innehaben – sind moralisch dazu verpflichtet, auf bestehende Ungerechtigkeiten hinzuweisen, anderenfalls droht ihr Schweigen diese Ungerechtigkeiten unwichtig oder sogar normal erscheinen zu lassen. Im Falle von Themen, zu denen die Meinungsmacher:innen keine Erfahrungen aus erster Hand haben, sollte die Auseinandersetzung aber eben entweder unter enger Einbeziehung derjenigen Betroffenen erfolgen, die volens nolens Expertise zu den fraglichen Themen haben, oder direkt darin bestehen, den Stimmen dieser Expert:innen Gehör zu verschaffen. Anders als insbesondere von rechten Kritiker:innen oft plakativ behauptet, folgt nach Alcoff aus Identitätspolitik im weiteren Sinne also nicht, dass wir zu Themen, die uns nicht selbst betreffen, nie wieder etwas sagen dürfen, sondern erst einmal nur, dass wir denjenigen zuhören sollten, die es besser wissen als wir, um so zu einer informierten Meinung zu kommen.
 
Was bedeutet für Sie Identitätspolitik?
 
Christine Bratu: Ich selbst würde den Begriff „Identitätspolitik“ eher nicht verwenden, weil mir scheint, dass dieser von rechter Seite zu einem Kampfbegriff aufgebauscht wird. Dabei sollte man rechter Kritik an Identitätspolitik im engen Sinne skeptisch gegenüberstehen. Zwar behauptet das rechte Lager gerne von sich, das Allgemeinwohl gegen unzulässige Partikularinteressen zu verteidigen, aber bei näherer Betrachtung stellt sich oft heraus, dass hier einfach andere (etwa nationalistische oder maskulinistische) Partikularinteressen als der Willen der so genannten schweigenden Mehrheit verkauft werden. Die Frage, ob das politische Durchsetzen von Interessen legitim ist oder nicht, hängt letztlich ohnehin nicht davon ab, ob diese die Interessen aller oder einer bloßen Minderheit sind – sondern (je nachdem, welcher Moraltheorie man anhängt) ob ihre Durchsetzung die allgemeine Wohlfahrt steigert oder ob sie vernünftigerweise gewollt werden kann, ob diese Interessen von bestimmten Rechten geschützt werden o. ä.
 
Die oben aufgeführten Thesen a) und b) von Identitätspolitik im weiteren Sinne scheinen mir dagegen sinnvoll, auch wenn ich sie, aus den eben dargestellten Gründen, nicht unter diesen Begriff fassen würde. Ich wäre zudem bereit zuzugestehen, dass es in manchen Fällen nicht nur epistemisch besser (weil durch mehr Expertise gestützt), sondern zudem moralisch geboten ist, primär die Stimmen von Betroffenen zu hören. Denn wenn man als Expert:in im Fernsehen oder Radio befragt, als Hauptvortragende:r auf eine Konferenz eingeladen wird o. ä., erhält man hierdurch Güter wie Aufmerksamkeit und Anerkennung – und deren Verteilung unterliegt (wie die Verteilung aller Güter) u. a. moralischen Gesichtspunkten. Wenn etwa die Unterdrückung einer bestimmten sozialen Gruppe über Jahrhunderte hinweg u. a. darin bestand, dass ihren Mitgliedern nicht zugehört wurde, ist es eine Maßnahme ausgleichender Gerechtigkeit, endlich die öffentliche Bühne für diese frei zu machen. Wann solche moralischen Erwägungen wie schwer wiegen, lässt sich meiner Ansicht nach nicht ex ante sagen, sondern muss von Fall zu Fall abgewogen werden. Aber grundsätzlich sollten wir uns darauf einstellen, dass es Fälle geben kann, in denen sie überwiegen, so dass wir dann nicht einfach „die üblichen Verdächtigen“ konsultieren dürfen, sondern aktiv auf die Suche nach neuen Stimmen mit Erfahrungen aus erster Hand gehen müssen.
 
Susanne Lettow: Aus meiner Sicht verweist das Konzept der Identitätspolitik auf ein Spannungsverhältnis, das für das moderne, politische Verständnis von Emanzipation konstitutiv ist. Emanzipation ist demnach nur im Modus des Sich-Emanzipierens möglich, nicht im Modus des – von jemandem – Emanzipiert-Werdens. Emanzipatorische Prozesse schließen immer auch eine Politik der Subjektivität, d.h. eine Arbeit an der Ent-Unterwerfung (Foucault) ein. Damit kommt hier eine Dialektik von Partikularismus und Universalismus ins Spiel. Denn das „Sich“ oder die eigene „Identität“ sind zwar Ausgangs- und Bezugspunkt von Emanzipation, müssen aber zugleich überschritten und transformiert werden. Im Gegensatz zu Strategien des sozialen Aufstiegs oder, mit Bourdieu gesprochen, der Vermehrung des ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals bedeutet Emanzipation im emphatischen Sinne nicht nur Empowerment, sondern eine Herrschaftskritik, die auf die Überwindung aller Formen von Herrschaft zielt. Damit wird ein universalistischer Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erneut aufgerufen. Er scheint allerdings nur als mögliches Resultat konvergierender Emanzipationsprozesse auf und setzt eine Kritik falscher Universalismen voraus.
 
Identitätspolitik steht im Verdacht, die „Offenheit von Forschung, Lehre und Diskussion unter Druck zu setzen“ (Frankfurter Allgemeine). Ist dieser Ideologieverdacht gerechtfertigt?
 
Christine Bratu: Dieser Verdacht richtet sich meiner Ansicht nach gegen Identitätspolitik im weiteren Sinne. Stichhaltig wäre er nur, wenn eine oder beide der oben aufgeführten Thesen a) und b) falsch wären. Diese erscheinen mir aber, wie bereits erwähnt, sehr plausibel: Warum sollten wir leugnen, dass Erfahrungen aus erster Hand Expertise konstituieren können und dass wir primär Personen mit Expertise Gehör schenken sollten? Ich sehe also keinen Grund, mich dem Verdacht der FAZ anzuschließen. Vielmehr wittere ich dahinter das beleidigte Ego von Personen, die es gewohnt sind, als Expert:innen für alles behandelt zu werden und die nicht damit klarkommen, dass ihnen dieser Status nun streitig gemacht wird. Unter Druck geraten hier also nicht die Forschung etc., sondern höchstens fragile Selbstbilder.
 
Susanne Lettow: Was ist hier mit „Identitätspolitik“ gemeint? Für rechtspopulistische und rechtsexextreme „identitäre“ Politiken, die geschlossene Vorstellungen Nation und Familie durchsetzen wollen, gilt das sicher. Die Kampagne des „Anti-Genderismus“– die leider bis weit ins liberale Lager Resonanz erfährt – gehört für mich in diesen Kontext. Die paradoxe Neubesetzung des Begriffs der Identitätspolitik, die ich eingangs skizziert habe, hat allerdings dazu geführt, dass der Vorwurf der intellektuellen und politisch Schließung und Abschottung nun gerade gegen jene gerichtet wird, die in Wissenschaft und Gesellschaft aufzeigen, wie wenig „offen“ die offene Gesellschaft in vielerlei Hinsichten war und ist: Allgemeinen Gleichheitsversprechen, Inklusionsdiskursen und einem oft ostentativ herausgestellten Selbstverständnisses von Modernität und Liberalität zum Trotz ist die Gesellschaft, in der wir leben, von Ausgrenzungs- und Schließungsmechanismen unterschiedlicher Art geprägt: Rassismus, Sexismus und Klassenverhältnisse, oder um es anders zu sagen: strukturelle Ungleichheiten (die in der Corona-Krise, wie wir wissen, exemplarisch und in verdichteter Form zu Tage getreten sind) prägen die Gesellschaftsstruktur sowie die individuellen und kollektiven Formen des Denkens, Fühlens und Handelns. Darauf öffentlich immer wieder hinzuweisen ist Aufgabe und Verdienst emanzipatorischer sozialer Bewegungen. Aufgabe einer kritischen Wissenschaft, die von der Absicht geleitet ist, Demokratie und Mündigkeit befördern, ist es, strukturelle Schließungsprozesse zu analysieren, zu kritisieren und Möglichkeiten der Veränderung zu reflektieren.
 
Wo liegen die philosophischen Grundlagen der Identitätspolitik?
 
Martin Saar: Liest man die deutschen Tageszeitungen, könnte man meinen, das Problem der Identitätspolitik sei die Wahl oder Alternative zwischen der Ausrichtung an gesamtgesellschaftlichen Belangen oder an den Partikularinteressen gesellschaftlicher Minderheiten. Es scheint, als könnten sich politische Akteure, etwa Parteien, hier entscheiden und auch strategisch auf die eine oder andere Weise positionieren. Philosophisch oder auch ideengeschichtlich gesehen ist dies eine recht verkürzte Auffassung. Denn schon auf der begrifflichen Ebene benennt der Begriff zunächst nur das offensichtliche Problem, dass politische Maßnahmen und Regelungen auf Subjekte mit ganz konkreten Erfahrungen und Eigenschaften treffen und damit höchst unterschiedliche Wirkungsweisen haben können in Abhängigkeit von den konkreten Identitäten der Betroffenen. Den neutralen, eigenschaftslosen Staatsbürger gibt es nicht (und oft genug wird er auch nicht als Staatsbürgerin gedacht).
 
Der Begriff „identity politics“ stammt zunächst aus praktisch-aktivistischen Kontexten, in denen diese Situierung, Kontext- und Erfahrungsspezifik hervorgehoben und auch als Ressource zur politischen Mobilisierung empfohlen wird (so etwa wahrscheinlich hi-storisch erstmals in einem Manifesttext des schwarzen lesbisch-feministischen Combahee River Collective 1977). In vielen soziologischen und politiktheoretischen Analysen, etwa bei Stuart Hall, Amy Gutman oder Zygmunt Bauman, lassen sich ernsthafte Reflexionen über die Bedeutung und die Ambivalenz des Faktors Identität für die Binnenlogik spätmoderner Gesellschaften finden, die weitgehende liberale Anerkennung von Diversität mit immer noch tiefgreifender Ungleichhandlung auf eine unheimliche Weise kombiniert. Hilfreiche philosophische Perspektiven auf diese Phänomene hat die feministische Theorie geliefert. Weitere wichtige Impulse entstammen der poststrukturalistischen Debatte von Michel Foucault bis Ernesto Laclau, die den Zusammenhang von Subjektivität(en) und Politik immer wieder thematisiert hat, andere der immer noch wichtigen kommunitaristischen Kritik am abstrakten Bild von Politik im klassischen Politischen Liberalismus. All dies sind gewichtige und unpolemische philosophische Beiträge zum mehrdeutigen Phänomen Identitätspolitik, das nur eine etwas naive konservative Publizistik glaubt einfach wegwünschen zu können.
 
Barbara Zehnpfennig: In der Identitätspolitik scheint sich philosophisch das Unvereinbare zu vereinigen, nämlich Metaphysik und Konstruktivismus. Wenn Identitätspolitik darin besteht, Opferkollektive zu definieren, deren Angehörige aufgrund ihres So-Seins Unrecht durch Dritte erleiden, wird ihnen ein Wesenskern unterstellt, der sie als Opfer festlegt. Das kann man mit gutem Grund als Essentialismus bezeichnen, und dieser zählte immer schon zum Kernbestand der Metaphysik. Zugleich aber ist die aktuelle Diskussion von einem radikalen Konstruktivismus à la Foucault und Butler gekennzeichnet, der selbst vor dem Geschlecht nicht haltmacht: Geschlechtlichkeit ist Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungen, sie besteht nicht von Natur aus und ist beliebig neu zu definieren.
 
Leider passt beides nicht zusammen. Entweder etwas ist, was es ist, oder alles ist Definitionssache und damit verhandelbar. Im ersten Fall ist man unentrinnbar an sein Schicksal als Opfer gekettet, im zweiten Fall kann man sich beliebig irgendeinem Kollektiv zuschlagen und sich auf diese Weise den mit dem Opferstatus verbundenen Bonus sichern. Das nimmt den Vorwürfen, die man gegen die vermeintlichen Täter erhebt, allerdings etwas an Wucht. Im Grunde müsste ein radikaler Konstruktivismus es auch zulassen, dass sich der Täter zum Opfer erklärt, was identitätspolitisch ganz offensichtlich zu unerwünschten Folgen führte. Beharrt man andererseits auf dem essentialistischen Opferverständnis, wird der Mangel zum eigenen Wesen – wahrscheinlich auch keine sinnvolle Perspektive für die Betreffenden.
 
Wenn man nach noch älteren philosophischen Wurzeln der Identitätspolitik sucht als die von Poststrukturalismus und Metaphysik, könnte man sie in einem Denken finden, für das Widersprüche wie die genannten kein Problem darstellen: die Sophistik. Diese hat vorgeführt, dass man argumentationstechnisch von einer Voraussetzung zur gegenteiligen umschwenken kann, sofern man das letzte Wort behalten will. Man muss dann aber einen ideologischen Gegner mit ausgeprägtem Kurzzeitgedächtnis haben. Darauf sollte man sich bei derartigen Debatten besser nicht verlassen.
 
Um wessen Identität geht es dabei?
 
Martin Saar: Identitätspolitische Fragen stellen sich in Bezug auf alle politischen Subjekte, das sind in unseren Institutionengefügen diejenigen, denen politische Rechte zukommen und die politisch handeln können, das sind in erster Linie (aber nicht ausschließlich) StaatsbürgerInnen. Die liberale Verfassungsordnung spricht sie als Freie und Gleiche an. Identitätspolitik beginnt dort, wo in Zweifel steht, dass dies auch wirklich gilt, wo Benachteiligungen und Diskriminierungen aufgrund von Gruppeneigenschaften oder Zuschreibungen geltend gemacht werden, wo bestimmte Lebenssituationen, Erfahrungen oder Lebensbedingungen eine Rolle spielen für die Art und Weise, wie ein politisches Subjekt auftreten und handeln kann, wie viel und als was es zählt. Dies kann sich auf Differenzen oder auch Differenzimaginationen auf der Ebene der Körper, der Sexualität, auf der Ebene der Zugehörigkeit zu größeren oder kleineren Kulturen oder ethnischen Gruppen beziehen, auf Religion oder Lebensstil, natürlich auf Klassenunterschiede und ihre vielfältigen Gestalten. Strukturelle oder staatliche Identitätspolitik, wie man sie vielleicht nennen könnte, wird überall dort gemacht, wo Unterschiede gemacht werden, die politisch relevant sind und wo entlang dieser Unterschiede Rechte und Lebenschancen ungleich verteilt werden. Die Identitätspolitik der Betroffenen ist eine aktive Gegenwehr dagegen, das Einfordern von Gleichbehandlung, Respekt, manchmal auch einfach nur von Zuhören und Ernstnehmen, manchmal auch das Einfordern des Aushaltens von nicht nur bequemer Diversität und Differenz, die sich nicht immer gleich assimilieren müssen will.
 
Barbara Zehnpfennig: Bei der Identitätspolitik ist es ähnlich wie mit der Zivilgesellschaft: Zu beidem wird nur eine politisch genehme Klientel zugelassen. So wie die Anhänger von Pegida natürlich nicht zur Zivilgesellschaft zählen, dürfen sich identitätspolitisch nur Kollektive formieren, die unter bestimmter politischer Perspektive als Opfer von Unterdrückung und Benachteiligung gelten. Dazu zählen Frauen, Schwarze, Schwule, Muslime etc., aber nicht beispielsweise Mütter von vielen Kindern, Angehörige der Bundeswehr oder Christen in muslimischen Ländern, obwohl auch sie oft unter Diskriminierung zu leiden haben. Dass Angehörige der von der Identitätspolitik akzeptierten Kollektive ebenso gut Täter wie Opfer sein können und ihre Identität vielleicht lieber vom anderen Kollektiv beziehen, wird in der Regel ausgeblendet, bzw. diesbezügliche Konflikte werden gerne dezisionistisch gelöst. Da spielt z. B. der Feminismus keine Rolle mehr, wenn man die Unterdrückung von Frauen in islamischen Ländern großzügig übersieht, um nicht als islamophob oder rassistisch zu gelten, wobei in diesem Fall Religion und Rasse offenbar gleichgesetzt werden. Bei solchen Zielkonflikten geht es darum, welches Opferkollektiv das andere übertrumpft oder wer am meisten diskriminiert wird.
 
Worin sehen Sie den Anlass für die gegenwärtige Debatte um die Identitätspolitik?
 
Barbara Zehnpfennig: Ein wesentlicher Grund für die Debatte um die Identitätspolitik ist deren hegemonialer Anspruch. Sie versteht sich nicht als ein Deutungsangebot unter vielen im pluralistischen Meinungsspektrum, sondern als die einzig richtige Sicht. Deshalb operiert sie oft mit der moralischen Ächtung des politischen Gegners, statt diesen als gleichberechtigten Teilnehmer am gesellschaftlichen Meinungsstreit zu akzeptieren. Ist das schon problematisch genug, bekommt es destruktives Potential, wenn sich identitätspolitische Positionen der Wissenschaft bemächtigen. Politik ist per definitionem keine Wissenschaft; sie ist ein Aktionsprogramm mit festgelegtem Ziel. Wissenschaft muss hingegen weltanschaulich neutral, ergebnisoffen und stets revisionsbereit sein. Wer mit der Wissenschaft Politik machen will, zerstört also ihre Grundlagen. Dazu passt die sich im akademischen Raum verbreitende „cancel culture“: Mit Kritikern der Gendertheorie, des Postkolonialismus, der Theorie des Eurozentrismus etc. setzt man sich nicht argumentativ auseinander, sondern man versucht, ihnen den Zugang zur Öffentlichkeit zu versperren. Das ist in der Tat eine Form von Politik, aber keine Form wissenschaftlicher Wahrheitssuche.
 
Martin Saar: Unsere politische Gegenwart ist wohl von zwei gegenläufigen Tendenzen geprägt. Zum einen ist das gesellschaftliche Bewusstsein für tiefgreifende Spaltungen und Selbstbeschreibung eklatant widersprechen. Die Persistenz von Rassismus und Sexismus,
hartnäckige Klassenspaltungen, aber auch eine verantwortungslose Externalisierung der Kosten des Wohlstands im Innern nach Draußen, die Verleugnung des institutionellen Nachlebens des Kolonialismus, die Inkaufnahme ökologischer Bürden für die nachfolgenden Generationen und vieles mehr sind für viele zum Anlass geworden, Formen eines aktivistischen, auch mit dem Einsatz der eigenen Person verbundenen politischen Engagements zu wählen, in denen solche Missstände skandalisiert werden. Diese Sensibilisierung lässt sich in den meisten Fällen als gesellschaftlicher Lernfortschritt bewerten. Zum anderen, und auch dies gehört zum Thema, kennt unsere Zeit auch ein unheimliches Wiedererstarken aggressiver identitärer Projekte, manche mit populistischem Einschlag, etliche in der europäischen Nachbarschaft sogar von staatlicher Seite orchestriert. Hier tritt die Behauptung von kollektiver Identität unverhohlen als direkte Machtgeste mit Ausschlusscharakter auf, und hier steht die eine nationale homogene normale Identität dem angeblich Abweichenden, Anormalen, Dekadenten oder Schwachen direkt gegenüber. Politisch geworden oder politisiert worden ist also Identität gleich zweifach, aber auf ganz unterschiedliche Weise und mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen.
 
Es wird vorgeworfen, Identitätspolitik sei partikularistisch und unterminiere damit den Universalismus der Kämpfe um soziale Gerechtigkeit.
 
Barbara Zehnpfennig: Identitätspolitik ist partikularistisch, denn sie teilt die Welt in Kollektive auf, die nur ihre eigenen Rechte verfechten und gegenüber dem Rest der Gesellschaft einklagen. Das schafft ein gesellschaftliches Gegeneinander, das sich zu zementieren droht. Wenn man nämlich seine Identität aus dem jeweiligen Kollektiv bezieht, würde man sie verlieren, sobald die entsprechenden Forderungen erfüllt werden. Deshalb steht auch anders als bei früheren Emanzipationsbewegungen nicht die Integration in die Gemeinschaft im Zentrum, sondern die Segregation von den anderen durch Betonung des je Eigenen. Das führt zu einem Festschreiben des Opferstatus anstelle seiner Überwindung, zu einer Fixierung auf das Freund-Feind-Denken anstelle der Hervorbringung eines neuen Gemeinsamen. Interessanterweise konvergieren hier linke und rechte Identitätspolitik. Mit dem Ethnopluralismus propagiert die Neue Rechte eine – gleichberechtigte – Vielfalt homogener Gruppen, die sich durch interne Gemeinsamkeiten und externe Verschiedenheit auszeichnen und auf dieser Basis miteinander kämpfen. Da sich auch die linke Identitätspolitik mit ihrem Ressentiment gegen „Weiße“ rassistischer Denkmuster bedient, ähnelt sie in dieser Hinsicht ebenfalls ihrem direkten Antipoden.
 
Die Alternative zum Partikularismus muss nun aber nicht im „Universalismus der Kämpfe um soziale Gerechtigkeit“ liegen. Worin soziale Gerechtigkeit besteht, ist seinerseits umstritten, zudem würde hier nur eine Kampffront durch die andere ersetzt. Zunächst einmal geht es um die Rehabilitierung des Universalismus schlechthin: der großartigen (europäischen) Errungenschaft, jedem Menschen als Individuum einen unendlichen Wert zuzuerkennen, der in seiner Vernunftanlage gründet und mit Freiheit und Eigenverantwortung verbunden ist. Schon die Reduktion der Menschenwürde auf wechselseitige Anerkennung, also die Verlagerung der Würde vom einzelnen Menschen auf den Sozialbezug, mindert die Bedeutung des Individuums, die im Kollektivismus der Identitätspolitik gänzlich zweitrangig geworden ist. Insofern muss man sich fragen, ob nicht das eine dem anderen den Weg bereitet hat, ein Weg, auf dem Entscheidendes zurückgelassen wird: die Einsicht, dass wir im Mensch-Sein eine Gemeinsamkeit haben, die es uns möglich machen sollte, über alles Trennende hinweg zu etwas Verbindendem zu finden.
 
Martin Saar: Identitätspolitik als solche gibt es nicht, manche ihrer Ausprägungen, z. B. die Identitäts- und Hegemonieprojekte der Neuen Rechten, sind sicherlich in ihrem Kern aggressiv partikularistisch und anti-pluralistisch und sicherlich auch gegen sozialen Ausgleich gerichtet. Die derzeitige Polemik gegen den angeblichen Partikularismus oder „Tribalismus“ der Identitäten ist aber ja eine andere. Hier wird behauptet, allein schon der Hinweis auf die faktische Diversität „spalte“ die Gesellschaft erst und verhindere allgemeine, gemeinwohlförderliche Orientierungen. Für mich stellen sich die Fragen auch aus theoretischen Gründen genau andersherum. Die Vorstellung, man wisse immer schon, was Gerechtigkeit, Universalität und Integration sei und wie sie umzusetzen seien, und dies könne man ohne die vielstimmigen und widerstreitenden Stimmen der Betroffenen und der von bisherigen Regelungen eher Vernachlässigten feststellen, erscheint mir fragwürdig. Denn an diesen Gesprächen um Achtung und Missachtung, Teilhabe und Ausschluss nehmen keine körper- und geschichtslosen Subjekte teil, sondern solche mit konkreten Erfahrungen, Geschichten und Forderungen, und niemand (außer den Rechten) hat je gedacht, dass Identität etwas Einfaches und Einheitliches sei. Der demokratische Streit um die richtige und faire Ordnung ist einer, der mit konkreten Identitäten, politisch interpretiert, beginnt, d. h. eben auch mit Identitätspolitik, ihrer Einforderung und Bestreitung; sein Ausgangspunkt ist immer (auch) partikular, sein Horizont immer (auch) uni-versell. Das Ziel dieses Streits ist eine Lebensform und ein politischer Raum, in dem viele Verschiedene angstfrei zusammenleben können, wofür „radikale Demokratie“ vielleicht nicht die schönste, aber eine treffende Bezeichnung ist.
 
UNSERE AUTOR(INN)EN:
 
Christine Bratu istProfessorin für Philosophie mit einem Schwerpunkt in der Genderforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, Susanne Lettow ist Privatdozentin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Margherita-von-Brentano-Zentrum für Geschlechterforschung, Martin Saar ist Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Barbara Zehnpfennig ist Professorin für Politische Theorie an der Universität Passau.
Die Stellungnahmen wurden per e-mail erhoben. Die AutorInnen schrieben ihre Beiträge unabhängig voneinander und hatten keine Möglichkeit, auf diejenigen ihrer MitteilnehmerInnen einzugehen.