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03 2021

Rainer Schäfer:
Die Kategoriendeduktion im klassischen deutschen Idealismus

aus: Heft 3/2021, S. 14-22
 
Die Kategoriendeduktion im klassischen deutschen Idealismus von Kant bis Hegel bildet nicht nur ein weites Feld, sondern stellt auch noch immer ein ungelöstes, aber zentrales Problem der Philosophie dar. Die Initialzündung durch Kants berühmte „transzendentale Deduktion der Kategorien“ in der Kritik der reinen Vernunft wirkte auf seine direkten Nachfolger Reinhold, Maimon, Fichte, Schelling und Hegel einerseits inspirierend, provozierte andererseits aber auch deutliche Kritik und den Wunsch nach einer völlig anders gearteten Deduktion.
 
Kategoriendeduktion
 
Bei Kant bildet in der ersten Kritik die Deduktion das Herzstück seiner theoretischen Philosophie und in deren Zentrum steht wiederum die Frage, wie sich Denken und Sinnlichkeit zueinander verhalten: Wie kann mit einer Zusammenführung von spontanem Denken und rezeptiver Anschauung objektive Erkenntnis von Gegenständen entstehen? Mit der Antwort auf diese Problemstellung gibt die transzendentale Deduktion der Kategorien gleichzeitig die gerechtfertigte Antwort auf Kants Grundfrage der ersten Kritik: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“.
 
Dieses Grundproblem der Deduktion bestimmt natürlich auch – ganz gleich, ob Kant hierbei bewusst oder unbewusst im Hintergrund steht – die gegenwärtigen Debatten der theoretischen Philosophie. Insbesondere in der Analytischen Philosophie ist es nach wie vor ein Problem, wie sich Sinnesdaten in Begriffsschemata einfügen. Dieses zieht sich durch die Theorien der Philosophy of Mind, das Mind-Body-Problem, die Naturalisierung der Erkenntnis, die Transcendental-Arguments-Diskussion, den updated Pyrrhonism, die Debatte um Sinnesqualia, oder das Knowledge by Testimony etc. Ebenso wird z. B. das transzendentale Subjekt kritisch in Luhmanns Systemtheorie behandelt. In der gegenwärtigen Debatte stellt die Deduktion von Grundbegriffen, d. h. Kategorien, jedoch höchstens ein Sonderproblem dar, das als eines der Themen moderner Epistemologie unter anderen gesehen wird. Oder radikaler gefasst, wird eine Deduktion, d. h. ein systematisch geführter Beweis für solche Begriffe von vornherein als unmöglich aufgegeben. – Eine solch leichtfertige Aufgabe ist problematisch, selbst wenn es von einem gewissen epistemischen Liberalismus und verführerischen skeptischen Relativismus zeugt, weil das solange nur eine ungerechtfertigte Behauptung bleibt, wie nicht bewiesen wurde, dass es für solche Grundbestimmungen keine Deduktion geben kann. D. h., eine solche Antideduktion wäre selbst auch schon wieder in gewissem Sinne eine Deduktion. –
 
Kant, Fichte, Schelling und Hegel stellten die Kategoriendeduktion dagegen in das Zentrum ihrer systematischen Ansätze und hatten daher eine umfassendere Perspektive, wodurch sie mannigfaltigere Lösungsmöglichkeiten auch für andere Probleme der theoretischen Philosophie sehen konnten. So folgt aus der Behandlung der Kategoriendeduktion bei Kant und Fichte auch eine spezifische Antwort auf das Skeptizismus- und das Außenweltproblem und die Gegebenheit von Sinnesdaten. Des Weiteren sind bei Kant und Fichte neuartige Einsichten in Struktur und Bedeutung von Selbstbewusstsein impliziert. Bei Schelling und Hegel ergeben sich aus der Problematik einer Kategoriendeduktion wiederum neuartige Konzeptionen der Methode der Philosophie, genetische Modelle von Selbstbewusstsein und Begriffsbildung, realistische Erklärungen der Natur und eine neuartige, metaphysisch-kritische Ontologie. Dies führt bei Hegel sogar durch die Radikalisierung des „Begriffs des Begriffs“ gegenüber der „Apperzeption“ Kants einerseits zu einer konsequenten Weiterführung des kantischen Ansatzes und andererseits zu einer gewissen Überwindung der Kategorie durch die Einheit des Begriffs.
 
Die Umgestaltung der kantischen Deduktion war daher nicht nur in methodischer, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht fruchtbar, denn die nachfolgenden Idealisten führten nicht nur neue Kategorien ein, sondern modifizierten auch jene, die sie von Kant übernahmen. Des Weiteren etablierte Kant mit der Deduktion – als apriorischer Rechtfertigung von begrifflichen Grundbestimmungen wie Substanz, Kausalität, Realität, Negation oder Wechselbestimmung – eine neuartige Methodik, die bei seinen Nachfolgern eine Methodenreflexion freisetzte, wie sie die Philosophie zuvor und danach nicht mehr erlebt hat. Im Ausgang von Kants Kategoriendeduktion muss man daher zwei Problemfelder unterscheiden:
 
 
● Einerseits haben seine Nachfolger in formaler Hinsicht methodische Modifikationen an der Deduktion vollzogen, neue Methoden der Philosophie entwickelt, und
 
● andererseits haben sie in inhaltlicher Hinsicht neuartige Kategorienbestimmungen eingeführt; so z. B. wenn Schelling im System des transzendentalen Idealismus alle Kategorien aus der Fundamentalkategorie der „Wechselwirkung“ ableiten will.
 
Jedenfalls führte Kants Version einer Kategoriendeduktion die Philosophie auf ein völlig neues und höheres Niveau, das von Nachfolgern bis heute nicht mehr ohne gute Argumente unterboten werden kann.
 
Was ist eine Kategorie?
 
Kant begreift Kategorien als „Stammbegriffe“, d. h. fundamentale, unhintergehbare Grundbestimmungen unseres Denkens, ohne sie wäre für uns nichts bestimmt. Begriffliche Grundbestimmung oder mit Kants Wort „Stammbegriff des Verstandes“ bedeutet: Konkretes, intentional auf Erkenntnis gerichtetes Denken kann von diesen Bestimmungen nicht abstrahieren, ohne Sinn und Bedeutung zu verlieren, sich selbst zu widersprechen sowie den Kontakt zur Wirklichkeit zu verlieren, d. h., sie sind dem erkennenden Denken notwendig.
 
Fichte bestimmt sie als verstandesmäßige, begriffliche Fixierungen, mittels derer jedes Ding, jeder Gegenstand für uns konstituiert wird. Mittels der Einbildungskraft – nach Fichte, das Grundvermögen unseres theoretischen Wissens – werden begriffliche Bestimmungen fixierend in das wandelbare Mannigfaltige der Anschauung ein- und hineingebildet. Schelling sagt im System des transzendentalen Idealismus: „Alle Kategorien sind Handlungsweisen, durch welche uns erst die Objekte selbst entstehen.“ (1) Er integriert die Kategorien sowie deren Deduktion in seine als „Epochen“ bezeichneten drei Entwicklungsstufen der theoretischen Intelligenz.
 
In Hegels Phänomenologie des Geistes taucht der Begriff der Kategorie an zentralen Stellen auf, denn in der Kategorie erkennt das Selbstbewusstsein seinen Zusammenschluss mit dem gegenständlichen Sein, das es sich gegenüberstellt. In der Kategorie kommen nach Hegel (gegenständliche) Wahrheit und (subjektive) Gewissheit zusammen:
 
„Die Kategorie, welche sonst die Bedeutung hatte, Wesenheit des Seienden zu sein, unbestimmt des Seienden überhaupt oder des Seienden gegen das Bewusstsein [wohl eine Anspielung auf die Kategorientafel der Pythagoreer sowie auf Aristoteles’ Kategorienkonzeption; Einf. R.S.], ist jetzt [d.h. auf der Stufe der Vernunft im Verlauf der Phänomenologie; Einf. R.S.] Wesenheit oder einfache Einheit des Seienden nur als denkende Wirklichkeit; oder sie ist dies, dass Selbstbewusstsein und Sein dasselbe Wesen ist; dasselbe nicht in der Vergleichung, sondern an und für sich. Nur der einseitige schlechte Idealismus lässt diese Einheit wieder als Bewusstsein auf die eine Seite und ihr gegenüber ein Ansich treten.“ (2)
 
Letzteres ist sicherlich auch ein Seitenhieb gegen Kant und Fichte, vielleicht sogar gegen Schelling, der aus Hegels Sicht die kategoriale Bestimmtheit in die Natur selbst verlegt und nicht in jener oszillierenden Dialektik der begrifflichen Einheit von Subjekt und Objekt verortet. Die Kategorie ist Subjekt-Objekt-Einheit, und diese darf weder auf die Subjekt- noch auf die Objektseite kippen. Hegel führt im Geistkapitel der Phänomenologie ebenfalls aus:
 
„Der absolute Begriff ist die Kategorie; er ist dies, dass das Wissen und der Gegenstand des Wissens dasselbe ist.“ (3)
 
Mit der Kategorie ist also eine gewisse Wahrheit erreicht.
 
Zu dunkel und zu komplex
 
Die unmittelbare Kritik der Zeitgenossen an Kants Deduktion in der ersten Auflage der Kritik von 1781 lautete meist dahingehend, sie sei vor Dunkelheit und Komplexität nicht nachzuvollziehen. Man war sich also zunächst gar nicht sicher, ob die Deduktion korrekt oder inkorrekt sei, man verstand sie schlicht nicht. Ähnliches Unverständnis diagnostiziert Dieter Henrich auch noch für uns Heutige.
 
Kant reagiert auf diese Rezeption mit einer Neubearbeitung des gesamten Kapitels; bekanntlich ist die Deduktion eine der wenigen Passagen der ersten Kritik, die Kant für die zweite Auflage von 1787 komplett neu geschrieben hat. Zwar gibt Kant an, (4) er habe inhaltlich nichts geändert und nur für eine klarere Fasslichkeit methodische Vereinfachungen vorgenommen, doch tobt der Streit in der Kantforschung auch heute noch darüber, ob das tatsächlich stimmt. Denn einerseits ist es sicherlich korrekt, dass Kant vieles einfach nur umstellt, Hauptgedanken vereinfacht oder mit Syllogismen in klarerer Form strukturiert, doch es stimmt eben andererseits auch, dass es nach der A-Auflage von 1781 drei Stämme der Erkenntnis gibt – Anschauung, Einbildungskraft und Verstand – und nach der B-Auflage von 1787 nur zwei – Anschauung und Verstand, die Einbildungskraft ist nun zu einem unselbständigen Moment des Verstandes herabgesetzt. Das ist offensichtlich eine inhaltliche Änderung.
 
Diese Änderung müsste auch Auswirkungen auf die der transzendentalen Deduktion folgenden Kapitel haben. Denn wenn die Einbildungskraft nun kein selbständiges Vermögen zur Generierung von Erkenntnis mehr bildet, hätte Kant auch das Schematismuskapitel (5) ändern müssen, weil der Status der Schemata der Einbildungskraft nun ein anderer ist. Er hat es jedoch unverändert gelassen. Ob es Kant tatsächlich gelungen ist, mit der B-Version der Deduktion für größere Deutlichkeit zu sorgen, kann auch bestritten werden; die inhaltliche Komplexität bleibt. Schopenhauer und Heidegger bevorzugten gar die A-Version.
 
Der Aufbau der Deduktion
 
Die A-Version beginnt mit einer kurzen Einleitung, die die Deduktion motiviert und erklärt, dass es ohne apriorische Begriffe keine Erkenntnis gebe, weil diese für objektive Realität konstitutiv sind und auf sinnliche Anschauungen bezogen werden müssen (= 1. Abschnitt der Deduktion, A 95-98). Danach stellt Kant die Elemente dar, die in einer Erkenntnis vorhanden sind. Dies bildet die Lehre von den drei Arten der Synthesis: a) Synthesis der Apprehension in der Anschauung, b) Synthesis der Reproduktion in der Einbildungskraft und c) Synthesis der Rekognition im Begriff (= 2. Anschnitt der Deduktion, A 98-110).
 
Hierbei geht Kant so vor, dass er zunächst in unseren tatsächlichen empirischen Vollzügen jeweils eine empirische Synthesis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition feststellt, um dann darauf zurückzuschließen, dass es jeweils auch eine transzendentale Synthesis von Apprehension, Reproduktion und Rekognition geben muss, wenn einheitliche Erfahrung möglich sein soll. Nachdem diese Elemente der Erkenntnis aufgezählt wurden, folgt eine diesen zweiten Abschnitt zusammenfassende und vorläufige Andeutung, worin das Ziel der Deduktion besteht (A 110-114). Die eigentliche systematische Argumentation erfolgt dann allererst im dritten Abschnitt (A 115-130). Hier wird gezeigt, dass Anschauungen, sofern sie zu Erkenntniselementen werden, auf die Einheit der Apperzeption, d. i. das transzendentale theoretische Selbstbewusstsein, bezogen werden müssen und daher einer begrifflichen synthetischen Einheit bedürfen.
 
In der Vorrede zur ersten Auflage unterscheidet Kant zwei Seiten der Deduktion, (6) eine objektive, die die Gegenständlichkeit und die objektive Gültigkeit apriorischer Begriffe betrifft, und eine subjektive Seite, die „nur“ die innere Struktur und subjektive Möglichkeit der Erkenntnisvermögen betrifft. Man sieht, dass sich das tatsächlich gut auf die Deduktion applizieren lässt. Die Lehre von den drei Arten der Synthesis und ihrem Zusammenwirken in Anschauung, Einbildungskraft und Apperzeption, also der zweite Abschnitt (A 98-110), bildet die subjektive Seite der Deduktion. Die Argumentation, dass Anschauungen unter Begriffen, die durch die synthetische Einheit der Apperzeption vollzogen werden, stehen müssen, bildet dagegen die objektive Seite der Deduktion, den eigentlichen Ausweis, dass wir rechtmäßigerweise Begriffe auf Anschauungen anwenden, das findet sich also im dritten Abschnitt der A-Deduktion (A 115-130).
 
Formal ist die B-Version einfacher aufgebaut. Kant behält hier im Unterschied zur A-Version die Strukturierung durch Paragraphen bei, mit der er die „Transzendentale Elementarlehre“, also insbesondere die „Transzendentale Ästhetik“ mit der Lehre von Raum und Zeit, generell einteilte. Die B-Version erstreckt sich über die §§ 15-27 der zweiten Auflage der Kritik (B 129-169). – Es war in der A-Version etwas verwirrend, dass dort die Paragrapheneinteilung plötzlich wegfiel. – Die B-Version besteht eigentlich nur aus zwei Beweisschritten. Der erste findet sich als Zusammenfassung der §§ 15-19 in § 20 (vgl.: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung […] in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien.“ (B 143), und der zweite Beweisschritt wird als Zusammenfassung der §§ 24-25 in § 26 vollzogen (vgl. „Wir haben Formen […] auch von allen Gegenständen der Erfahrung.“ (B 160 f.)). Die Struktur beider Beweisschritte besteht jeweils aus einer Reihung von Syllogismen. Die §§ 21-23 bieten Erläuterungen, Präzisierungen und Konsequenzen aus dem ersten Beweisschritt.
 
Man kann in gewissem Sinne die für die A-Deduktion geltend gemachte Unterteilung in eine objektive und eine subjektive Seite der Deduktion auch auf die beiden Schritte der B-Deduktion applizieren. Der erste Beweisschritt der B-Deduktion zeigt die Objektivität der Kategorien, also dass das Mannigfaltige der Anschauungen unter Kategorien stehen muss, und entspricht damit der objektiven Seite der Deduktion. Der zweite Beweisschritt zeigt, wie bei unserer konkreten, menschlichen Anschauungsweise (räumlich, zeitlich, schematisch, wahrnehmend, empfindend) Anschauungen unter Begriffe geordnet werden – daher auch die Überschrift des § 24 „Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt“ [Hervorhebung R.S.], es geht also um ein Anwendungsproblem), dies betrifft somit eher die subjektive Seite der Deduktion. In der A- und in der B-Version der transzendentalen Deduktion Kants spielt also die Einheit der reinen Apperzeption, des Selbstbewusstseins eine zentrale Rolle dafür, dass Anschauungen einheitlich, d. h. durch Kategorien, zu Elementen von Erkenntnis werden können und damit Gegenstände konstituieren. Was Kant jedoch nicht leistet, ist eine eigene Argumentation dafür, wie genau sich die Einheit der Apperzeption zu den einzelnen Kategorien verhält.
 
Fichte
 
Fichte hat Kants Methode der Deduktion in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre universalisiert. War die Deduktion bei Kant noch mit dem speziellen Problem einer Rechtfertigung der Anwendung von reinen Begriffen auf Anschauungen befasst, weil diese beiden Quellen der Erkenntnis heterogen sind, so hat Fichte seine gesamte Philosophie, als Wissenschaftslehre, in ein deduktives System ausgebaut. Ist bei Kant Deduktion – entlehnt aus dem juristischen Bereich als einem Rechtsanspruch (7) argumentative Beweiskette für einen – zunächst in die erkenntnistheoretische Elementarlehre eingebettet und steht neben einem analytischen und einem deskriptiven Theorieabschnitt, der zunächst erklärt, was Anschauungen und Begriffe jeweils für sich sind, so entwickelt sich bei Fichte jeder einzelne Schritt seines philosophischen Systems zu einer Deduktion. Doch Fichte transformiert auch Kants Deduktionsgedanken inhaltlich. Hat bei Kant die Deduktion schon für sich selbst bestehende Elemente der Erkenntnis – Anschauungen und Begriffe – zusammenzuführen, um deren konstitutiven Bezug für Objektivität zu beweisen, so ist in Fichtes Wissenschaftslehre ein Begriff oder genereller eine Bestimmung genau nur dann deduziert, wenn gezeigt werden kann, dass sich Selbstbewusstsein nicht ohne diese Bestimmung selbst setzen kann. Bei Kant ist die Deduktion zunächst auf Objekte und Objektivität ausgerichtet, bei Fichte dagegen vorrangig auf die Subjektivität selbst und dann erst in zweiter Linie auf die aus dem Setzen von Selbstbewusstsein folgende Objektivität.
 
Bei Fichte ist diese Deduktion in der Grundlage bereits eine genetische Ableitung, d. h., aus einfacheren Bestimmungen werden höherstufige, vermitteltere und komplexere Bestimmungen hergeleitet: z.B. aus Realität Negation und aus dieser Limitation, aus dieser wiederum Kausalität und Substantialität und sodann die Wechselwirkung. Diese genetische Deduktion lobt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie überschwänglich: „Das ist der erste vernünftige Versuch in der Welt, die Kategorien abzuleiten; dieser Fortgang von einer Bestimmtheit zu einer anderen ist Analyse vom Standpunkte des Bewusstseins aus, nicht an und für sich.“ Letzteres (10) ist allerdings auch schon wieder der Keim einer Kritik, denn Fichte bleibt damit aus der Sicht Hegels der Endlichkeit Kants verhaftet und rechnet die Kategorien dem Bewusstsein zu, hat sie also nicht als reine Denkbestimmungen des Absoluten begriffen.
 
Schelling
 
 Schelling integriert die Kategorien sowie deren Deduktion in seine als „Epochen“ bezeichneten drei Entwicklungsstufen der theoretischen Intelligenz. Die erste Epoche geht von der Empfindung zur produktiven Anschauung, die zweite von der produktiven Anschauung zur Reflexion und die dritte von der Reflexion zum absoluten Willensakt – woran sich dann die praktische Philosophie anschließt. Das ist ein genetischer bottom-up-Aufstieg von niedrigeren zu höheren Handlungsformen der Intelligenz. Die Kategorien in der zweiten Epoche des theoretischen Selbstbewusstseins sind in Schellings Systematisierung anschauliche Zusammenfassungen ursprünglich subjektiven Handelns, das einem Mannigfaltigen eingebildet wird. – Hier gibt es Überschneidungen mit dem Verständnis Fichtes. – Daher geht Schelling von einer produktiven Anschauung aus, wir schauen nicht passiv an, sondern bilden aktiv Strukturen ein, während wir anschauen.
 
Dies ist jedoch beim theoretischen Ich kein göttliches oder willkürliches Produzieren, sondern ein begrenztes, durch notwendige Strukturen bedingtes Produzieren. Das anschauliche Produzieren von Objektivität durch die Kategorien ist durch eine „ursprüngliche Duplizität“ (9) der Intelligenz bedingt, die für ihr Hineinbilden eines ihr gegebenen anschaulichen Äußeren bedarf. Im Unterschied zu Kant und Fichte, gibt es nach Schelling eigentlich nur Kategorien der Relation – d.i.: 1. Substanz – Akzidenz, 2. Ursache – Wirkung und 3. Wechselwirkung. Aus diesen Kategorien werden die anderen Kategorien der Qualität, Quantität und Modalität abgeleitet. Innerhalb der Relationskategorien ist wiederum die Kategorie der Wechselwirkung grundlegend, aus ihr sind die beiden anderen Relationskategorien abgeleitet, weil es weder das Substanz-Akzidenz- noch das Ursache-Wirkungs-Verhältnis ohne Wechselwirkung geben könnte. (10) Daher bildet die Wechselwirkung für den Schelling des Systems des transzendentalen Idealismus die Zentralkategorie, aus der sich alle anderen ableiten lassen. Es ist naheliegend, dass Schelling zu diesem Gedanken durch Fichtes Bestimmung der Limitation bzw. Wechselwirkung in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre inspiriert wurde. Ebenso kann eine Inspirationsquelle aber auch die Diskussion mit dem Homburger und Frankfurter Freundeskreis um Hegel, Hölderlin, Zwilling und Sinclair zwischen 1796-1800 gewesen sein, denn für diese vier Freunde bildet die Wechselwirkung ebenfalls die zentrale Bestimmung und Schelling hat den Freundeskreis zweimal besucht. – Nach Schelling erklärt also die Wechselwirkung, wie etwas überhaupt ein Objekt für uns sein kann, und aus ihr sind alle anderen Kategorien systematisch und vollständig herzuleiten.
 
Hegel
 
In sein überschwängliches und anerkennendes Lob der Kategoriendeduktion Kants mischt Hegel von Anbeginn zugleich eine weiterführende Kritik. Gerade weil Kant eine solch tiefe und richtige Einsicht in das Verhältnis von Sinnlichkeit, Begriff, Urteil und Apperzeption hatte, ist es aus Hegels Sicht besonders fahrlässig, dass er vor den letzten spekulativ-dialektischen Einsichten dann doch wieder zurückschreckte und in einer bloß reflexiv-verständigen Interpretation verharrte. Mit Kant geht Hegel über Kant hinaus.
Hegels aufnehmend-weiterführende (d. h. „aufhebende“) Haltung zu Kants Kategoriendeduktion beginnt schon in Glauben und Wissen von 1802, (11) setzt sich in der Phänomenologie des Geistes fort und findet ihren krönenden Abschluss in der Wissenschaft der Logik, auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie hält sich dies noch durch. (12) In der Logik identifiziert Hegel einerseits die höchste logische Bestimmung, den Begriff, mit Kants Apperzeption und hält ebenso daran fest, dass begriffliche Bestimmungen und Selbstbewusstsein dasselbe sind:
„Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, dass die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des »Ich denke« oder des Selbstbewusstseins erkannt wird. – Dieser Satz macht die sogenannte transzendentale Deduktion der Kategorie[n] aus“. (13)
 
Andererseits macht Hegel Kant hauptsächlich die folgenden Vorwürfe:
 
● Kant bleibe im Psychologismus der Vermögensphilosophie stecken, er subjektiviere die Objektivität des Begriffs einerseits und andererseits beziehe und restringiere er die Bedeutung der Begriffsapperzeption dann auf sinnliche Anschauungen. Das sei deswegen verfehlt, weil die Grundbegriffe/Kategorien bei Kant in der metaphysischen Deduktion bereits aus den logischen Urteilsfunktionen hergeleitet werden und diese in sich selbst bereits jeweils Sinn und Bedeutung haben. Sie erhalten Sinn und Bedeutung also nicht allererst aus der Sinnlichkeit oder der Anschauung, sie haben bereits als reine Begriffe je spezifische Bedeutungen.
 
Damit trifft Hegel einen Punkt, denn auch für Kant ist z. B. die hypothetische Urteilsfunktion nicht dasselbe wie die kategorische Urteilsfunktion. Wenn sie nicht dasselbe sind, müssen sie schon als logische Urteilsfunktionen spezifische Bedeutung haben und bedürfen dazu nicht des Bezugs auf die sinnliche Anschauung. Man kann sagen, dass Hegels gesamte Logik diesem Ziel einer rein begrifflichen Untersuchung von reinen Denkbestimmungen dient und damit die Genese des logischen Raums darlegt.
 
● Die Dialektik, die Kant anhand der Antinomien nur für einige wenige endliche Kategorien vorgeführt hat, hätte er an allen Kategorien durchführen müssen, so bleibe seine Deduktion unvollständig und sei nicht besser als ein bloß empirisches Aufraffen und willkürliches Aufzählen einiger Grundbestimmungen, was Kant selbst ja bereits Aristoteles vorwarf. Dahinter steht, dass den Thesen und Antithesen der vier Antinomien jeweils eine Kategorie zugrunde liegt. Dass den Antinomien Kategorien zugrunde liegen, hätte auch Kant selbst so gesehen, nur dass diese von der Vernunft in dialektischer Weise („Dialektik“ hier in Kants Sinne) auf das Unbedingte angewandt werden und ihnen so ihr rechtmäßiger Boden, die sinnliche Anschauungsmannigfaltigkeit, entzogen wird.
 
● Kant hätte die Genese der Kategorien aus dem Begriff/Apperzeption im Einzelnen beweisen müssen. Gerade weil Kant solch grundlegende Einsichten hatte, ist es aus Hegels Perspektive umso schlimmer, dass er nicht die letzten Konsequenzen daraus zog.
 
Bis zu einem gewissen Grade kann man in einer freien Rekonstruktion versuchen, Kant vor diesem berechtigten Vorwurf in Schutz zu nehmen – freilich sollte eine solche Rekonstruktion enger an Kant orientiert sein als Hegel es war, weil man sonst, wie Hegel, schlicht eine andere Philosophie aufstellt, bei der sich fragt, wieviel von Kant darin noch übrig bleibt.
 
Die Kategoriendeduktion ist in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht der Motor des klassischen deutschen Idealismus, überdies handelt es sich um ein tatsächliches sachliches Problem der Erkenntnistheorie, das neue Maßstäbe gesetzt hat, die zu erreichen jeder Gegenwart eine unverlierbare Aufgabe bleibt.
 
Weiterführende Literatur:
 
Zu Kants Kategoriendeduktion:
• wegweisend: Dieter Henrich Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: G. Prauss (Hg.) Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erken-
nen und Handeln, Köln 1973, S. 90-104, bes. S. 90.
• Dieter Henrich/Hans Wagner Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Diskussion mit Dieter Henrich, in: B. Tuschling (Hrsg.) Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin/New York 1984, S. 34-96.
• Dieter Henrich Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion, in: H. Oberer/G. Seel (Hgg.) Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Würzburg 1988, S. 39-70.
• Generell zum Thema auch: Manfred Baum Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königstein 1996
• Henry E. Allison Kant’s Transcendental Deduction: An Analytical-Historical Commentary, New York 2015.
Kategoriendeduktion in der klassischen deutschen Philosophie, Nicolas Bickmann, Lars Heckenroth, Rainer Schäfer (Hgg.), Berlin 2020.
 
Zur A-Deduktion:
• Wolfgang Carl Die transzendentale Deduktion
der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt a.M. 1992.
 
Zitatnachweise:
 
 (1) Schelling System des transzendentalen Idealismus, in: ders. Sämtliche Werke, Stuttgart / Augsburg 1858, Abt. I/Bd. 3, S. 471.
 (2) Hegel Phänomenologie des Geistes; in: ders. Theorie Werkausgabe, E. Moldenhauer u. K. M. Michel (Hgg.), Frankfurt a.M. 1971, Bd. 3, S. 181; im Folgenden zitiert als TW.
 (3) Hegel Phänomenologie; in: TW 3, S. 404.
 (4) Kant KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXXVII f.
 (5) Kant KrV, A 137-147, B 176-187.
 (6) Kant KrV, A XVI f.
 (7) Kant KrV, B 116 f.
 (8) Hegel Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: TW 20, S. 401.
 (9) Schelling System des transzendentalen Idealismus, in: ders. Sämtliche Werke, Stuttgart / Augsburg 1858, Abt. I/Bd. 3, S. 479.
(10) Schelling, a.a.O., S. 477 ff.
(11) Hegel Glauben und Wissen, in: TW 2, S. 307 ff.
(12) Hegel Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: TW 20, S. 343-351
(13) Hegel Wissenschaft der Logik, in: TW 6, S. 254.
 
UNSER AUTOR:
 
Rainer Schäfer ist Professor für klassische deutsche Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Bonn.