PhilosophiePhilosophie

03 2021

Michael Drieschner:
Quantenmechanik verstehen

aus: Heft 3/2021, S. 78-92

 
Wie ist die Quantenmechanik zu verstehen?
 
1926 veröffentlichte Erwin Schrödinger (1) seine Quantentheorie, wenige Monate nachdem Werner Heisenberg (2) die Seine veröffentlicht hatte. Sehr bald bewies Schrödinger, dass die beiden anscheinend so verschiedenen Formalismen physikalisch äquivalent sind. Seit fast 100 Jahren scheint also der Formalismus der Quantentheorie klar zu sein. Seitdem gibt es aber auch einen Disput über die Interpretation dieses Formalismus, der auch nach 100 Jahren noch nicht beigelegt ist. Wie ist das möglich, nach 100 Jahren extrem erfolgreicher Anwendung der Quantentheorie in der Physik ebenso wie in der Technik?
 
Warum braucht ein physikalischer Formalismus überhaupt eine Interpretation? In der klassischen Mechanik scheint es völlig klar zu sein, wie die Ergebnisse des Formalismus mit empirischen Feststellungen verbunden werden müssen. Niemand fragte nach einer besonderen „Interpretation“ der klassischen Mechanik. Bei der Quantentheorie (oder ‚Quantenmechanik‘) ist das anders: Das Ergebnis einer quantenmechanischen Berechnung ist gewöhnlich nicht der Wert einer Observablen, sondern im Allgemeinen eine Wahrscheinlichkeit bzw. eine Wahrscheinlichkeitsdichte. Es erhebt sich daher die Frage, was das physikalisch bedeutet – es braucht eine Interpretation. Wie also ist die Quantentheorie zu verstehen?
 
Quantentheorie und „klassische“ Ontologie
 
Die klassische Ontologie setzt voraus, dass es eine Natur „da draußen“ gibt, die wir beobachten und beschreiben können wie z. B. ein Uhrwerk. Diese Sicht beschreibt klassisch P.S. (de) Laplace (3):
 
„Eine Intelligenz, die für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, von denen die Natur beseelt ist, und die gegenseitige Lage der Wesen, die sie ausmachen, wenn sie überdies genügend weit reichte, um diese Gegebenheiten der Analyse zu unterziehen, umfasste sie in derselben Formel die Bewegungen der größten Körper des Universums und die des leichtesten Atoms: nichts wäre für sie unsicher, und die Zukunft wie die Vergangenheit wäre vor ihren Augen gegenwärtig.“
(Übersetzung Michael Drieschner)
 
Die Quantentheorie passt nicht in dieses Bild. Was man von der Quantentheorie bekommt, ist nicht eine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern ein System von Voraussagen für mögliche Messungen. Diese Voraussagen geben keine Gewissheit für ein bestimmtes Ergebnis, sondern sie lassen verschiedene Ergebnisse zu mit den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten. Wahrscheinlichkeiten kommen zwar auch in der klassischen Physik vor, aber dort kann man sich immer mit dem Gedanken trösten, dass „in Wirklichkeit“ ein Ergebnis sicher war, dass nur die Information des Beobachters nicht ausreichte, um das „wirkliche“ Ergebnis festzustellen. In der Quantentheorie ist dieser Ausweg versperrt. Kein Quantenzustand, der ein System beschreibt, gibt allen Observablen feste Werte. Vielmehr sagt er für die meisten Observablen verschiedene Messergebnisse als möglich voraus und – im besten Fall – für jedes mögliche Resultat eine Wahrscheinlichkeit für sein Eintreten. Darin ist die Quantentheorie eine fundamental indeterministische Theorie. Diese Einsicht zwingt uns, das „klassische“ Bild einer Welt „da draußen“, die wie ein Uhrwerk funktioniert, aufzugeben.
 
Ist das ein Nachteil gegenüber der „klassischen“ Ontologie? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erwägen, was wir wirklich von der Naturwissenschaft erwarten: Die Naturwissenschaft soll uns Voraussagen ermöglichen mithilfe empirischer Daten über den augenblicklichen Zustand und theoretische Berechnungen aufgrund einer richtigen Theorie. In der klassischen Physik hatten wir die besondere Situation, dass wir z. B. den Ort eines Planeten – jedenfalls prinzipiell – mit Sicherheit voraussagen konnten. Das war allerdings sehr prinzipiell; es bezog sich vor allem auf den Standardfall der Planetenbewegung. Aber auch da ist es im allgemeinen unmöglich, den gegenwärtigen Zustand und alle Einflüsse darauf genügend genau zu kennen, um genaue Voraussagen mit Sicherheit zu treffen. So kommen im „klassischen“ Fall ebenso Wahrscheinlichkeiten vor, nicht anders als in der Quantentheorie. Allerdings bleibt in den Grundlagen der entscheidende Unterschied zwischen einer deterministischen und einer indeterministischen Theorie: In einer deterministischen, „klassischen“ Theorie können wir immer unterstellen, dass an sich jede Observable einen genauen Wert hat.
 
 
Als die Quantentheorie entdeckt wurde, war es nicht von Anfang an klar, dass der Indeterminismus ihr entscheidender Zug ist. Erst nach vielen vergeblichen Anläufen hat Max Born 1926 einen wegweisenden Aufsatz „Zur Quantenmechanik der Stoßvorgänge“ (4)veröffentlicht. Dort sagt er: „…ist nur eine Interpretation möglich: Φ…[der Koeffizient der Darstellung der ψ-Funktion] bestimmt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das …Elektron in die … bestimmte Richtung geworfen wird.“ – und gibt als Fußnote: „Anmerkung bei der Korrektur: Genauere Überlegung zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit dem Quadrat der Größe Φ… proportional ist.“ Born fährt fort mit der Vermutung, dass die Quantentheorie fundamental indeterministisch ist.
 
Unter den „Kopenhagener“ Fachleuten hatte es schon einige Zeit Spekulationen über Indeterminismus gegeben, aber die meisten zögerten, ihre Meinung darüber zu veröffentlichen, wegen der Schwere des Schlages, den ein solcher Wechsel unserem Weltbild versetzen musste. Dadurch wurde Born der erste, der es wagte, diese Konsequenz ihrer Diskussionen zu veröffentlichen.
 
Indeterminismus
 
Tatsächlich ist der Indeterminismus die revolutionär neue Eigenschaft der Quantentheorie, verglichen mit allen älteren physikalischen Theorien. Indeterminismus ist die eine Eigenschaft der Quantentheorie, die meines Erachtens der wirkliche Grund für die Schwierigkeiten ist, die sich dem Verständnis der Theorie entgegenstellen.
 
Nun bedeutet Indeterminismus nicht, dass man überhaupt nichts über die Ergebnisse künftiger Messungen voraussagen könnte. Statt Voraussagen mit Sicherheit gestattet die Quantenmechanik Voraussagen mit Wahrscheinlichkeit. Viele Schwierigkeiten, die mit der Quantentheorie verbunden werden, können auf Probleme mit der Wahrscheinlichkeit zurückgeführt werden. Unsere erste Frage ist daher: Was ist Wahrscheinlichkeit?
 
Wahrscheinlichkeit
 
Die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses, wie sie in der Naturwissenschaft gebraucht wird, hat mit der relativen Häufigkeit dieses Ergebnisses in einer Reihe von Messungen zu tun. Viele Physiker identifizieren Wahrscheinlichkeit einfach mit relativer Häufigkeit. Aber das funktioniert nicht. Nehmen Sie das Werfen einer Münze, wo die Wahrscheinlichkeit von Kopf und Zahl jeweils ½ ist. Nun werfen Sie 13mal. Die relative Häufigkeit ½ für Kopf würde bedeuten, 6,5 mal Kopf. Das geht nicht.
 
Es gibt noch einen anderen Einwand, der tiefer geht: Mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung können wir Wahrscheinlichkeiten auf einer höheren Ebene ausrechnen. Denken Sie sich eine Reihe von z. B. zwölf Würfen. Die Wahrscheinlichkeit, mit einem „guten“ Würfel z.B. eine ‚vier‘ zu würfeln, ist 1/6. Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung können wir die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, dass genau 1/6 der 12, also 2 Würfe, eine ‚vier‘ ergeben werden.
Es ergibt sich: 29.6%; aber die Wahrscheinlichkeit, nur eine ‚vier‘ zu würfeln, ist nicht viel geringer, nämlich 26.9%, und, um ein paar weitere Beispiele zu nennen, genau 3 Würfe „vier“ von 12 Würfen: 19.7%, gar keine „vier“: 11.2%, und alle 12 Würfe mit dem Ergebnis „vier“: 5∙10-10. Das heißt: Alle relativen Häufigkeiten, nicht nur 1/6, haben eine positive Wahrscheinlichkeit, d.h. sie sind möglich – wenn auch zum Teil extrem unwahrscheinlich; relative Häufigkeiten ungleich der Wahrscheinlichkeit, aber nahe dran, sind beinah so wahrscheinlich wie diejenigen exakt gleich der Wahrscheinlichkeit. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung schließt also selber die Identifizierung der Wahrscheinlichkeit mit der relativen Häufigkeit aus.
 
Man kann zeigen, dass „Voraussage relativer Häufigkeit“ eine gute Definition der Wahrscheinlichkeit ist. Mit dieser Definition können sogar die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung abgeleitet werden. Denn die Grundregeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung formulieren nichts anderes als Grundrelationen zwischen relativen Häufigkeiten – welche ebenso für deren Voraussage gelten (5).
 
Die Notwendigkeit klassischer Begriffe
 
Eine indeterministische Theorie stellt uns vor ein großes Problem: Wie können wir eine solche Theorie zur Beschreibung von Wirklichkeit nutzen? Die Quantentheorie ergibt Voraussagen der Form: „Wenn die Größe Q gemessen wird, dann wird man den Wert qimit der Wahrscheinlichkeit p(qi) finden.“ Das ist (wie oben gezeigt) eine Voraussage der relativen Häufigkeit von Messergebnissen, es ermöglicht aber nicht, Wirklichkeit zu beschreiben. Die Quantentheorie gibt nicht ein Bild der Wirklichkeit „da draußen“! Dieser Unterschied zwischen Quantentheorie und klassischer Physik war wohl der Grund dafür, dass viele Leute sich gleich nach der Entdeckung der Quantentheorie unbehaglich fühlten, und manche sich noch heute unbehaglich fühlen.
 
Bei der Beschreibung von Messungen ist dieser Unterschied besonders fühlbar. Niels Bohr bemerkt dazu, dass wir in der Lage sein müssen, zu sagen, „was wir getan und was wir gelernt haben“. Er folgert daraus für die Quantentheorie, weil sie sich dafür nicht eignet, dass klassische Begriffe zur Beschreibung von Messungen notwendig sind. In der klassischen Physik sind Beschreibungen wie „Dieses Messgerät misst die Größe Q“ oder „Das Messergebnis ist qi” sinnvoll. Da im Rahmen der Quantentheorie solche Wirklichkeitsbeschreibungen nicht vorkommen, müssen wir die klassischen Begriffe zu Hilfe nehmen, damit wir solche Beschreibungen geben können.
 
Aber dann haben wir ein Problem: Gemäß der Quantentheorie ist die klassische Physik überholt. Wenn Quantentheorie und klassische Physik verschiedene Resultate ergeben, dann ist die Quantentheorie richtig, die klassische Physik ist falsch. Das löst sich allerdings sehr schnell, denn in den üblichen Fällen ergibt die Quantentheorie beinah dieselben Ergebnisse wie die klassische Physik. Ein Physiker würde das jedenfalls nicht als Katastrophe ansehen, denn in der Physik haben wir kaum je exakte Ergebnisse, man ist ohnehin auf Näherungen angewiesen. Allerdings bestehen viele Wissenschaftsphilosophen, die oft aus der Logik und Mathematik kommen, darauf, dass „beinah richtig“ eben falsch ist. In der Physik gilt dieses Argument jedoch nicht: Näherung gehört zu den Grundlagen der Physik.
 
Das vielleicht wichtigste Argument dafür ist: Die Physik behandelt Systeme, welche durch die Größen definiert sind, die an diesen Systemen gemessen werden können („Observable“). Der klassische Massenpunkt etwa ist definiert als ein System, dessen Zustand zu einer Zeit vollständig beschrieben ist durch Ort und Impuls. Kein Ding auf der Welt ist ein Massenpunkt. Wenn wir etwas als Massenpunkt beschreiben wollen, müssen wir Näherungen verwenden: Wir lassen alle Informationen weg außer denen über Ort und Impuls; wir behandeln die Masse des betreffenden Körpers als konzentriert in einem Punkt; wir geben den Ergebnissen unserer Messungen Werte in reellen Zahlen. All das gibt nicht die Wirklichkeit wieder, wie sie ist, sondern in einer gewissen Näherung. Ohne Näherung könnten wir nicht Physik treiben.
 
Es ist deshalb in der Physik ganz normal, eine Aussage, die „genähert“ richtig ist, als eine wahre Aussage zu akzeptieren. Daher akzeptieren wir auch „klassische“ Aussagen im Rahmen der Quantentheorie. Sogar mehr als das: Die Quantentheorie wäre unvollständig ohne Teile aus der klassischen Physik; ohne sie könnte die Quantentheorie nicht mit Messungen, also mit der Wirklichkeit verknüpft werden.
 
Minimalinterpretation
 
Was muss man voraussetzen, um formale Ergebnisse der Quantentheorie mit Ergebnissen von wirklichen Messungen zu verknüpfen? Ich will dazu eine „Minimal-Interpretation“ (6) geben, die dem nahekommt, was üblicherweise die „Kopenhagener Interpretation“ genannt wird. Es gibt allerdings auch Interpretationen, welche über den Standard dieser Minimal-Interpretation hinausgehen:
 
„Ein gemeinsamer Zug aller vom Standard abweichenden ‚Interpretationen‘ ist der Wunsch, eine neue Theorie hervorzubringen, die eine Wirklichkeit beschreibt, welche von unseren möglichen Experimenten unabhängigen ist. Aber der Versuch, ein klassisches Weltbild herbeizuführen, indem man die Quantentheorie mit verborgenen Parametern, vielen Welten, Konsistenzregeln oder spontanem Kollaps belastet ohne irgendeine Verbesserung ihrer Vorhersagefähigkeit, erzeugt nur die Illusion eines besseren Verständnisses. Im Gegensatz zu diesem Wunsch beschreibt die Quantentheorie nicht die physische Wirklichkeit. Sie liefert vielmehr einen Algorithmus für die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten makroskopischer Ereignisse („Detektor-Klicks“), welche die Folge unseres experimentellen Handelns sind. Diese präzise Definition des Anwendungsbereichs der Quantentheorie ist die einzige Interpretation, die je notwendig ist, ob für Experimentatoren oder Theoretiker.“ (7)
 
Diese von Christoph A. Fuchs und Asher Peres verfasste Sicht auf eine solche Minimal-Theorie erschien im März 2000 in der Zeitschrift Physics Today (S. 70/71). Eine ihr entgegengesetzte Position (8) vertritt Cord Friebe in dem Band Philosophie der Quantenphysik. Zentrale Begriffe, Probleme, Positionen (2018):
 
„Dass sich die Minimalinterpretation ausschließlich über makroskopische, der Erfahrung direkt zugängliche Entitäten wie Meßvorrichtungen, sogenannte Teilchenspuren in Nebelkammern, geschwärzte Photoplatten etc. äußert, mag völlig genügen, wenn man als Aufgabe einer empirischen Theorie wie der Physik lediglich verlangt, dass sie zu empirisch überprüfbaren Vorhersagen in der Lage ist. Der Naturphilosophie reicht dies alleine nicht, und auch die meisten Physikerinnen und Physiker möchten sich darüber hinaus eine Vorstellung davon machen, was hinter diesen Meßausgängen steckt, wie also die Mi-krowelt beschaffen ist, die solche Wirkungen erzeugt. Im Gegensatz zur instrumentalistischen Minimalinterpretation ist jede zusätzliche Annahme, die zu einer weitergehenden Interpretation führt, jedoch umstritten.“
 
Die entscheidenden Stichworte sind hier: „was hinter diesen Meßausgängen steckt“ und „wie die Mikrowelt beschaffen ist“. Wer solche Fragen stellt, setzt offenbar voraus, dass es etwas dahinter gibt, dass es eine Mikrowelt gibt, die irgendwie beschaffen ist. Woher weiß man denn das? Gibt es eine Notwendigkeit, solch eine Hinterwelt vorauszusetzen? Meines Erachtens liegt es nur an der Gewöhnung an die klassische Ontologie, dass man so etwas glaubt. Die Quantentheorie scheint vielmehr zu zeigen, dass solche Fragen nirgendwohin führen. Die angeblichen Antworten auf solche Fragen können nichts weiter anbieten als ein Anfügen von Worten an die bekannte Theorie; man kommt besser ohne das aus!
 
Gelegentlich kann es aber einen guten Sinn haben, auch Objekten der Quantentheorie Eigenschaften zuzuschreiben: Wenn es möglich ist, mit Sicherheit vorauszusagen, dass eine Messung der Größe X am Objekt O das Ergebnis xo haben wird, dann können wir sagen (als eine Art Abkürzung) „Das Objekt O hat die Eigenschaft xo“.
 
Die Quantenmechanik ist auch deswegen schwer genauer zu verstehen, weil die verwendete Mathematik für jemanden, der die normale Schul-Mathematik gelernt hat, sehr ungewohnt ist. Diese Mathematik – wie Studenten sie üblicherweise lernen – macht aber auch für den, der sie mathematisch nachvollziehen kann, Schwierigkeiten, weil es schwer ist, damit die Welt der Physik zu verbinden. Da ist eine neuere Darstellung hilfreicher, welche nicht so fernliegende Strukturen wie den „Hilbert-Raum“ verwendet, sondern relativ schlichte Strukturen der formalen Logik: Darstellungen der Verknüpfungen „und“, „oder“, „nicht“ oder „folgt aus“. Wegen der Ähnlichkeit mit der normalen Aussagenlogik nennt man solche Strukturen auch „Quantenlogik“. Mathematisch abstrakt ist eine solche Struktur ein „Verband“. Aus dieser Sicht ist die Quantenmechanik eine Wahrscheinlichkeitstheorie, die sich von der „gewöhnlichen“ Wahrscheinlichkeitstheorie nur dadurch unterscheidet, dass sie auf einem anderen Verband aufbaut, nämlich auf der Quantenlogik statt auf der klassischen Aussagenlogik.
 
Die Theorie der Verbände gibt ein so übersichtliches Bild dessen, was für die Quantenmechanik entscheidend ist, dass man heute versucht zu zeigen, dass eine allgemeine Theorie beliebiger Veränderungen von physikalischen Objekten – die die Quantenmechanik ja ist – gar nicht anders sein kann, als sie tatsächlich ist, also quasi eine Begründung a priori der Quantenmechanik. Das bedingt sehr komplexe mathematische und philosophische Erwägungen, die ich hier nur andeuten kann. Wir müssen dazu einige Grundlagen dessen festhalten, was wir als den Sinn der Physik verstehen.
 
Physikalische Objekte („Systeme“)
 
Die erste Frage ist: Wovon handelt Physik? Eine mögliche Antwort ist die oben schon erwähnte: „Physik ermöglicht Voraussagen aufgrund des gegenwärtigen Zustands mit Hilfe bewährter Theorien.“ Diese Antwort finden manche Gelehrte zu „operational“ (siehe das Zitat von Friebe). Sie suchen stattdessen eine objektive Beschreibung von Wirklichkeit. Aber diese beiden unterschiedlichen Endzwecke der Physik sind nicht so weit auseinander, wie es zunächst scheint. Denn, was ist eine objektive Beschreibung von Wirklichkeit? Es ist eine, die gültig ist unabhängig von der Person, der Zeit und dem Ort; sie kann – im Prinzip – von jedermann zu jeder Zeit an jedem Ort nachgeprüft werfen. ‚Nachprüfen‘ bedeutet dabei, nachzusehen, ob die betreffende Behauptung wahr ist. Dieses Nachprüfen ist nur möglich, wenn die Behauptung eine Voraussage ist, die eintreffen kann oder nicht. Daher muss jede objektive Beschreibung Voraussagen enthalten:
 
Physik handelt von objektiven Voraussagen. Die Frage ist nun: Wie hängen solche Voraussagen untereinander zusammen? Sie betreffen nicht die wirkliche Welt, sondern ein genähertes, idealisiertes „Modell“, das „physikalische System“, das durch seine Observablen definiert ist. So etwa bei dem klassischen Objekt ‚Massenpunkt‘. Seine definierenden Observablen sind Ort und Impuls. Der Impuls bestimmt die Änderung des Ortes, und wie der Impuls sich verändert (also welche Kräfte auf den Massenpunkt wirken) hängt in vielen Fällen nur vom Ort ab, evtl. zusätzlich vom Impuls selber, etwas bei der Reibung. Daher sind in vielen Fällen Ort und Impuls eine gute Wahl für ein System, um Voraussagen für ebendiese Observablen zu ermöglichen. Das heißt, der Massenpunkt ist in solchen Fällen ein geeignetes System.
 
Ein komplexeres Beispiel ist das elektromagnetische Feld; es ist durch die Werte für die magnetische und elektrische Feldstärke an jedem Punkt im Raum definiert. Die Maxwellschen Gleichungen zeigen, dass die Veränderung des Magnetfeldes von räumlichen Variationen des elektrischen Feldes abhängt und die Veränderung des elektrischen Feldes von räumlichen Variationen des Magnetfeldes. Hier ermöglichen also wiederum alle Obser-
vablen gemeinsam Voraussagen über dieselben Observablen.
 
Wie steht es damit in der Quantentheorie? Quantentheoretische Voraussagen sind zunächst nicht anders als klassische: Sie sagen Ergebnisse von Messungen voraus. Alle möglichen Ergebnisse einer bestimmten Messung bilden einen Booleschen Verband (also eine Struktur wie die klassische Aussagenlogik), ebenso wie in der klassischen Physik. Anders als in der klassischen Physik gibt es jedoch in der Quantentheorie inkompatible Observable. Das bedeutet: Wenn der Zustand eines Systems als Notwendigkeit eines bestimmten Messergebnisses beschrieben werden kann (also durch die Zuschreibung der entsprechenden Eigenschaft, z. B. eines bestimmten Ortes), dann gibt es andere mögliche Messungen (z. B. des Impulses), deren Ergebnis auch bei bestmöglicher Kenntnis nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, sondern nur mit Wahrscheinlichkeit. Solche Observablenpaare (im Beispiel Ort und Impuls) heißen inkompatibel. „Fast alle“ Paare von Observablen eines quantentheoretischen Systems sind inkompatibel.
 
Da sind wir also bei dem notorischen Indeterminismus der Quantentheorie. Während wir in der klassischen Physik immer unterstellen konnten, dass alle möglichen Voraussagen über ein Objekt („System“) einen Booleschen Verband bilden, gibt es in der Quantentheorie mehrere Boolesche Verbände für verschiedene inkompatible Observable. Die Frage ist daher, wie diese verschiedenen Booleschen Verbände gemeinsam das entsprechende System beschreiben können. In der fertigen Quantentheorie wird die Kombination durch den orthokomplementären Verband der abgeschlossenen Unterräume des Hilbertraums beschrieben. Das wissen wir im Prinzip empirisch. Aber können wir zu einem Verständnis dieser Struktur gelangen, ohne sogleich zu dem Schluss „Hilbertraum“ zu springen?
 
Gibt es Alternativen zur Quantenmechanik?
 
Was können wir über diesen Kombinationsverband aus allgemeinen Überlegungen erschließen? – In etwas technischer Formulierung können wir festhalten:
 
● Der Verband ist orthokomplementär.
● Er hat Boolesche Unterverbände, einen für jeden Satz kompatibler Observablen.
● Es gibt für jeden Booleschen Unterverband eine Wahrscheinlichkeitsfunktion.
● Wenn es eine notwendige Voraussage gibt, die den gegenwärtigen Zustand des Systems definiert, dann impliziert das Wahrscheinlichkeiten für alle Voraussagen.
● Wir können zwei unabhängige Systeme abstrakt als ein einziges System auffassen. Die Wahrscheinlichkeit, ein gemeinsames Ergebnis zu finden, ist das Produkt der beiden einzelnen Wahrscheinlichkeiten.
 
Können wir aus solchen allgemeinen Überlegungen spezifischer schließen, wie der Quantentheoretische Verband aussehen muss? Die fertige Quantentheorie benutzt, abstrakt gesprochen, den Verband komplexe Projektive Geometrie. Das ist in abstrakteren Begriffen das, was durch den Verband der abgeschlos-senen Unterräume des Hilbertraums dargestellt wird.
 
Diese Verbandsstruktur aus plausiblen Annahmen abzuleiten wäre der entscheidende Schritt in den Grundlagen der Quantentheorie. Das Internetlexikon ‚Plato‘ der Universität Stanford (9) sagt:
„Man muss den Punkt beachten, dass, wenn das quantenlogische Skelett steht, der übrige statistische und dynamische Apparat der Quantentheorie im Wesentlichen feststeht. In diesem Sinn ist die Quantentheorie – oder zumindest ihr mathematischer Rahmen – zurückführbar auf die Quantenlogik und die zugehörige Wahrscheinlichkeitstheorie.“ (meine Übersetzung, siehe 10).
 
V. S. Varadarajan führt in seinem grundlegenden Buch Geometry of Quantum Theory(11) aus:
 
„Seit langer Zeit besteht der Wunsch in der Forschergemeinschaft, einigermaßen verständliche Postulate zu finden, welche die Struktur der Quantentheorie implizieren.“ (12)
 
Er gehörte zu den Gelehrten, die sehr viel zum Erreichen dieses Ziels beigetragen hatten. Aber bisher gibt es keinen mathematischen Beweis, dass der Hilbertraum die einzige Möglichkeit für die Struktur einer Quantentheorie ist. Andererseits ist bisher auch kein anderer Verband gefunden worden, der den genannten Regeln gehorcht.
 
Eine Besonderheit dieses Verbandes ist das Verhalten, wenn zwei Systeme abstrakt zusammengesetzt werden. Nimmt man je eine Observable von beiden Systemen, dann ist die kombinierte Observable das direkte Produkt der beiden einzelnen Observablen. Man denke etwa an zwei Würfel: die Observable des einzelnen Würfels ist jeweils die Augenzahl, 1…6; für beide Würfel zusammen bilden die Paare der Augenzahlen die Observable, also (1,1), (1,2) … (6,6), das direkte Produkt der beiden einzelnen Observablen mit 6x6=36 Möglichkeiten. Die direkten Produkte aller Kombinationen von Observablen bilden wiederum einen Verband derselben Art wie die Komponenten-Verbände, jetzt zur Beschreibung des kombinierten Systems.
 
In der fertigen Quantentheorie wird der Zustandsraum des kombinierten Systems als das Tensorprodukt der beiden Zustandsräume beschrieben. Das ist eine sehr spezielle Kombination, denn sie umfasst die direkten Produkte von beliebigen zwei Observablen aus je einem der beiden Zustandsräume. Diese direkten Produkte bilden wieder einen orthokomplementären Verband desselben Typs wie die Komponenten, dessen Dimension dann das Produkt der Einzeldimensionen ist. Nach meinem Eindruck kann dieser spezielle Zusammenhang eine Handhabe liefern für die Ableitung der Struktur der Quantentheorie (der „Quantenlogik“) aus „einigermaßen verständlichen Postulaten“, wie Varadarajan es fordert.
 
Wenn wir von dieser Struktur ausgehen (der orthokomplementären komplexen Projektiven Geometrie), dann können wir die übliche Quantentheorie mit der ψ-Funktion (d.h. im Hilbertraum) als eine spezielle Darstellung dieser Struktur einführen, die sich zur Berechnung messbarer Voraussagen besser eignet.
 
Die Quantentheorie als einen Verband möglicher Voraussagen zu betrachten erleichtert also ihr Verständnis. Ich will dies zur Diskussion einiger viel diskutierter Stolpersteine in der Quantentheorie verwenden.
 
Stolpersteine in der Quantentheorie
 
a. Zweifache Dynamik
 
In der klassischen Mechanik folgt die Zeitentwicklung einem einzigen Gesetz, das alle Änderungen des entsprechenden Systems beherrscht. Nicht so in der Quantentheorie: Hier gibt es zwei ganz verschiedene Arten, wie der Zustand sich ändern kann. Im Rahmen der Darstellung der Quantentheorie mit Wellenfunktionen kann man das so formulieren:
 
● Die eine Art ist die Zustandsänderung gemäß der Schrödingergleichung; sie ist ganz ähnlich der Zeitentwicklung eines Feldes in der klassischen Physik, welche durch eine Feldgleichheit bestimmt ist.
 
● Die andere Art ist der „Kollaps der Wellenfunktion“ (oder „Reduktion des Wellenpakets“) durch eine Messung.
 
Diese andere Art, der „Kollaps“, ist spezifisch quantenmechanisch. (13) Dass diese Änderung vorkommt, ist eine Folge des quantentheoretischen Indeterminismus: Wegen des Indeterminismus ist i.a. die exakte Voraussage eines Messergebnisses unmöglich; es kann kein dynamisches Gesetz geben, das das Ergebnis bestimmt. Jedes Messergebnis bedeutet daher eine Überraschung für den Beobachter. Der Zustand nach der Messung ist dagegen durch das Messergebnis bestimmt; daher die plötzliche Zustandsänderung, der „Kollaps“. Es scheint also in einer indeterministischen Theorie unvermeidlich, dass man zwei ganz unabhängige Arten der Zustandsänderung hat.
 
Es gab und gibt bis heute Versuche, die Dynamik der Quantentheorie zu vereinheitlichen. Aber solche Versuche können nur unternommen werden aufgrund einer Fehlinterpretation des Indeterminismus. Eine wirklich indeterministische Theorie muss notwendigerweise die oben beschriebenen beiden Arten der Zustandsänderung enthalten.
 
b. Fernwirkung (EPR)
 
Der “Kollaps der Wellenfunktion” durch eine Messung ändert die Wellenfunktion augenblicklich im ganzen Raum. Diese Zustandsänderung sieht wie eine Fernwirkung aus – aber die ist physikalisch unmöglich. In einer indeterministischen Theorie wird allerdings die Änderung von Wahrscheinlichkeiten beschrieben, also eine Änderung der Erwartungen, die wir haben, nicht eine Änderung des Objekts, das wir beschreiben; und Erwartungen sind anwendbar auf beliebig entfernte Ereignisse; sie ändern die Wirklichkeit nirgendwo!
 
Ein besonderer, komplexerer Fall ist die Erhaltung bestimmter Größen in zwei getrennten Objekten, wie er gewöhnlich unter dem Stichwort „EPR“ behandelt wird. Dieses Akronym bezieht sich auf den von Albert Einstein mit den zwei Mitarbeitern Boris Podolsky und Nathan Rosen verfassten Aufsatz über die „Vollständigkeit“ der Quantentheorie: „Can Quantum Mechanical Description of Physical Reality Be Considered Complete?“. (14) Er beginnt mit einer Definition:
 
 „Wenn wir, ohne in irgendeiner Weise ein System zu stören, den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (d.h. mit Wahrscheinlichkeit 1) voraussagen können, dann gibt es ein Element der Wirklichkeit, das dieser physikalischen Größe entspricht.“ (15)
 
Der Aufsatz EPR veranschaulicht den Hauptpunkt mit dem Beispiel einer Messung von Ort und Impuls. Wir ziehen das (von David Bohm eingeführte (16), heute meist benutzte) Beispiel mit Messungen der Spinkomponenten von Spin-½-Teilchen vor: Denken Sie sich ein Teilchen mit Spin=0 (also Drehimpuls=0), das in zwei Teilchen mit jeweils Spin ½ zerfällt. Die Drehimpulserhaltung verlangt, dass die Spins der beiden Zerfallsteilchen entgegengesetzt orientiert sind. Daher kann ich aus der Spinkomponente eines der beiden Teilchen auf die entsprechende Spinkomponente des anderen Teilchens schließen, das evtl. sehr weit entfernt ist. Aus ihrem oben zitierten Grundsatz schließt EPR, dass die Spinkomponente des entfernten Teilchens dann ein Element der Wirklichkeit ist.
 
Der Punkt, der diesen Schluss im Fall der Quantentheorie ganz erstaunlich macht, ist die Tatsache, dass der Experimentator willkürlich die Richtung des Apparats festlegen kann, mit dem er den Spin des nahen Teilchens misst. Auf diese Weise legt er auch die Spinrichtung des entfernten Teilchens in der entgegengesetzten Richtung fest, so dass es scheint, als ob er ein Element der Wirklichkeit festlegen könnte, das evtl. Lichtjahre von ihm entfernt ist. Ist das ein Fall der “spukhaften Fernwirkung”, die Einstein 1947 in einem Brief an seinen Freund Max Born kritisiert? (17) Meines Erachtens ist EPR ein weiterer Fall mit ähnlicher Struktur wie der oben beim Kollaps erwähnten. Um zu einer Erklärung zu kommen, beginnen wir mit einem Blick auf das, was wirklich passiert in solchen Korrelations-Experimenten: Wir nennen die beiden Beobachter, die die Spinkomponente auf beiden Seiten messen, Alice und Bob, wie üblich. Nehmen wir an, Alice hat die Spinkomponente ihres Teilchens gemessen mit vertikaler Ausrichtung ihres Apparats, und gefunden „Spin up“ (also in der „oben“-Richtung des Messapparats). Was bewirkt ihr Ergebnis auf Bobs Seite? Bob wird eine zufällige Reihe von „up“ und „down“ Ergebnissen sehen (wie auch immer sein Apparat orientiert ist) mit je ca. 50% Anteil. Und das ist wichtig zu bemerken: Er sieht nicht den geringsten Effekt von irgend etwas, das Alice auf ihrer Seite tut oder beobachtet. Es gibt also in Wirklichkeit keine „spukhafte Fernwirkung“, überhaupt keine Wirkung, gleich welcher Art!
 
Wir müssen also noch einmal fragen, was es bedeutet, dass der Zustand des fernen Teilchens sich augenblicklich ändert: Es bedeutet, dass Bob aus seinen Ereignissen ein statistisches Ensemble konstruieren kann, das einen bestimmten Zustand repräsentiert, wenn er die Informationen über Alices Ergebnisse benutzt. Wenn Bob die Spin-Ergebnisse jeder einzelnen Messung Alices bekommt, dann wird er sehen, wenn er z. B. seinen Apparat wie Alices vertikal orientiert hat, dass alle seine Ergebnisse denen von Alice jeweils genau entgegengesetzt sind. Bob kann die Reihe seiner Ereignisse auch nach Alices Ergebnissen filtern; er könnte z. B. alle seine Ereignisse nehmen mit „Spin up“ auf Alices Seite. Auf diese Weise könnte er auf seiner eigenen Seite ein neues Ensemble präparieren, das dem Spin-Zustand „spin-down“ entspricht.
 
Das kann er tun, indem er die Information über die exakte Folge der Ergebnisse auf Alices Seite verwendet. Diese Auswahl definiert tatsächlich einen quantentheoretischen Zustand: Falls nämlich Bob seinen Apparat für seine eigenen Messungen anders orientiert hat als senkrecht, dann entspricht die relative Häufigkeit seiner Ergebnisse für diese Auswahl der Wahrscheinlichkeit, die er für einen Spin-Zustand „down“ auf seiner Seite berechnen könnte.
 
Der Zustand des Systems auf Bobs Seite hängt also von den Ergebnissen auf Alices Seite ab. Aber Bob kann darüber nur etwas herausfinden, wenn er die Folge von Alices Ergebnissen benutzt. Die muss er woanders herbekommen haben – z. B. durch eine E-Mail von Alice. Die Zustandsänderung durch die behauptete „spukhafte Fernwirkung“ ist also in Wirklichkeit gar kein physischer Vorgang, sondern vielmehr ein Buchhaltungsprozess, der erst einige Zeit nach der Messung stattfinden kann.
 
Auf diese Weise können wir die rätselhafte Beschreibung verstehen, die sagt, dass Bobs Zustand sich augenblicklich ändert, dass aber diese Änderung nicht zur Informationsübermittlung benutzt werden kann. In Wirklichkeit ändert sich auf Bobs Seite gar nichts. Erst die spätere „Buchhaltung“ ergibt die Möglichkeit, die statistischen Voraussagen, die aus der Zustandsänderung folgen, zu überprüfen.
 
Gelegentlich wird behauptet, aus den Bellschen (17) Ungleichungen folgten Fernwirkungen in der Quantenmechanik. Das stimmt aber nicht. Gemäß den Bellschen Ungleichungen können in einer lokalen Theorie mit verborgenen Parametern bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Quantentheorie nicht reproduziert werden. Wenn jemand an Theorien mit verborgenen Parametern glaubt, ist er gezwungen, Fernwirkungen einzuführen. Das betrifft aber nur Gläubige an Theorien mit verborgenen Parametern. Aus den Ergebnissen von J. S. Bell ist für alle anderen eher zu folgern, dass eine Quantentheorie mit verborgenen Parametern nicht möglich ist, denn die Lokalität hat fundamentale Bedeutung in der Physik.
 
c. Messprozess
 
Es gibt noch ein anderes Problem, das viel diskutiert worden ist in der hundertjährigen Geschichte der Quantentheorie: die Theorie des Messprozesses. Dass sie auf lebhaftes Interesse gestoßen ist, liegt vor allem daran, dass die üblichen Gegenstände der Quantentheorie nur indirekt wahrnehmbar sind; man braucht Messgeräte, um etwas über diese Gegenstände herauszufinden. Ein weiterer, tieferer Grund ist die genannte Tatsache, dass die Quantentheorie keinen direkten Schluss auf die Eigenschaften der untersuchten Gegenstände erlaubt, sondern nur auf die Wahrscheinlichkeit, gewisse Eigenschaften zu finden. Daher erhebt sich die Frage, wie die theoretischen Ergebnisse mit den „wirklichen“ Messresultaten verknüpft sind. Die Quantentheorie des Messprozesses soll die Brücke liefern zwischen der Theorie und den Messresultaten.
 
In der intensiven Diskussion wurde oft das „Verschwinden der Interferenzterme“ als das eigentliche Messproblem angesehen: Wie sieht die einfachste Form einer Messung aus? Beginnen wir mit einer Observablen X, die an einem System S gemessen werden soll. Die möglichen Messergebnisse seien x1, …, xn. Für die Messung benutzen wir einen Apparat A mit n Ablesemöglichkeiten (etwa auf einer Skala) a1, …, an, für die n möglichen Messergebnisse. Vor der Messung sind S und A getrennt. Dann findet die Mess-Wechselwirkung statt. Nach dieser Wechselwirkung zeigt A ein Ergebnis an, etwa ak, was bedeutet, dass S im Zustand xk ist.
 
Beschreiben wir nun die Wechselwirkung im quantentheoretischen Detail: Die ursprünglich getrennten Objekte S und A wechselwirken, d.h. sie müssen als ein Gesamtobjekt behandelt werden. Dieses Gesamtobjekt entwickelt sich gemäß der Quantenmechanik (der Schrödingergleichung). Im Ergebniszustand gibt es dann nicht mehr getrennte Objekte, sondern nur das Gesamtobjekt in einem neuen Zustand. Das ist nun leider nicht das Ergebnis, dass wir nach der obigen Beschreibung erwarten. Wir hatten ja den Messprozess nur begonnen in der Erwartung, ein klares Messergebnis ai zu bekommen.
 
Betrachten wir einmal den Messprozess von seinem erwarteten Ende her: Wir erwarten, als Messergebnis eines der ai auf dem Apparat A abzulesen. Da wir vorher nicht wissen, welches der ai herauskommen wird, beschreiben wir den erwarteten Zustand x des Systems als ein Gemisch aus allen überhaupt möglichen Zuständen xi, gewichtet mit ihrer Wahrscheinlichkeit:
, wobei pi die Wahrscheinlichkeit des Ergebnisses xi ist.
Diese zweite Beschreibung enthält nur noch den Zustand des Systems, der Apparat kommt nicht mehr vor.
 
Wie kann das oben angeführte Ergebnis der Schrödingergleichung mit diesem letzten Gemisch-Zustand identisch sein? – Das ist der Kern des meistdiskutierten Problems der Quantentheorie des Messprozesses!
 
Schon Johann von Neumann springt in seinem Buch ‚Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik‘ von 1932 (18) sehr schnell von der einzelnen Messung zum statistischen „Gemisch“. Nachdem er die „kausale“ Veränderung gemäß der Schrödingergleichung beschrieben hat, fährt er fort:
 
„Andererseits erleidet der Zustand φ bei einer Messung […] eine akausale Veränderung, indem jeder der Zustände φ1, φ2 … entstehen kann […] D.h. es entsteht das Gemisch […]
Da hier Zustände in Gemische übergehen, ist dieser Prozeß nicht kausal.“
 
Neumann geht ohne weiteren Kommentar, nur mit “D. h.”, vom einzelnen Messergebnis über zum gewichteten Gemisch aller möglichen Ergebnisse. Für ihn ist diese Veränderung also der Übergang vom Zustand vor der Messung zm Gemisch nach der Messung. Soweit ich sehen kann, sind ihm alle späteren Autoren darin gefolgt.
 
Das Problem ist, dass der Messprozess von zwei verschiedenen Standpunkten aus beschrieben wird:
 
1. Die Dynamik der Mess-Wechselwirkung führt zu einem reinen Zustand des Gesamtsystems.
2. Das erwartete Ergebnis wird als eine statistische Mischung der möglichen Ergebnisse beschrieben, gewichtet mit ihren Wahrscheinlichkeiten.
 
Der Übergang vom reinen Fall (1) zur Mischung (2) wird traditionell als „Verschwinden der Interferenzterme“ des Zustands beschrieben. Es gab viele Versuche, einen quantentheoretischen Prozess zu finden, der diesen Übergang beschreiben würde. Peter Mittelstaedt z. B. widmete einen großen Teil seines akademischen Lebens solchen Versuchen. Gegen das Ende seines Lebens hatte er offenbar die Hoffnung aufgegeben, eine Lösung zu finden.
 
Die Lösung besteht darin, dass ein solcher Prozess gar nicht notwendig ist für die Beschreibung des Messvorgangs. (19) Es geht eher darum, dass man sich entschließen muss, worüber man reden will:
 
  • Man kann einerseits über einen Teilchenstrahl reden, der durch einen Apparat geht, der die fraglich Observable misst. Da kommt man zu einer Mischung. [Wir können uns die Mischung entweder als eine Menge von empirischen Ergebnissen mit ihren Häufigkeiten vorstellen oder, innerhalb der Theorie, als eine Sammlung aller möglichen Ergebnisse mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten: Beides ist eine formale Sammlung aller (wirklichen oder möglichen) Ergebnisse mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten in ein statistisches Ensemble.] Dieses Ensemble besteht aus makroskopisch getrennten Teilchen. Es ist ein Ensemble von „klassischen“ Ergebnissen, wieder Buchhaltung und nicht reale Physik. Die Quantentheorie ist darauf gar nicht anwendbar, so dass von Anfang an keine Interferenzterme auftreten können.
  • Andererseits kann man von einer einzelnen Messung reden. In einem wirklichen Experiment gibt es nur ein Ergebnis (wenn auch unvorhersagbar welches, infolge des Indeterminismus). Da gibt es also wiederum keine Interferenzterme.
  • Das ist die Lösung: Das Problem des Übergangs vom reinen Fall zur Mischung tritt in Wirklichkeit gar nicht auf!
 
  • d. Realismus
Die Frage des Realismus in der Quantentheorie wird noch immer intensiv diskutiert. Verständlich, denn die Quantentheorie gibt nicht ein Bild der Wirklichkeit. Sie gibt stattdessen Regeln für Voraussagen über Messungen. Es gibt Theoretiker, die versuchen, der Quantentheorie eine „realistische“ Interpretation zu geben, also eine, die eine Wirklichkeit „da draußen“ beschreibt, so wie es die klassische Physik tut. Vertreter einer realistischen Sicht betrachten es offenbar als selbstverständlich, dass es eine Wirklichkeit „hinter“ den Phänomenen gibt, welche die Quantentheorie beschreibt, so wie in der klassischen Physik, (siehe oben zu Friebe).
 
Das älteste Beispiel für den Versuch einer realistischen Interpretation (und Abänderung) der Quantenmechanik stammt von David Bohm aus dem Jahr 1952. In den ca. 70 Jahren seitdem ist es niemandem gelungen, die Quantentheorie tatsächlich so zu erweitern, wie sie Bohm vorgeschwebt haben mag. Die „Bohmsche Mechanik“ spricht in einer Art über die Natur, die nicht möglich ist, wenn man nur messbare Größen und durchführbare Experimente betrachtete. So spricht sie über Teilchenbahnen, die in der Quantentheorie nicht existieren – und die nichts als Worte sind, die zur Quantenmechanik hinzugefügt werden. Nach der „Bohmianischen“ Redeweise haben die Teilchen Überlichtgeschwindigkeit – was physikalisch unmöglich ist – , manchmal sogar unendliche Geschwindigkeit; aber für die Bohmianer, da ja ohnehin unbeobachtbar, kein Problem. (21)
 
Ein weiterer Versuch, die Quantentheorie in realistischem Sinn zu „verbessern“, der ebenso bekannt ist wie der Bohmsche, ist die „Viele-Welten-Interpretation“ von Everett, Wheeler und DeWitt (22), die sich bei genauerem Hinschauen weder als eine Alternativtheorie noch eine alternative Interpretation der Quantentheorie, sondern lediglich als ein Wechsel der Sprache erweist: Die übliche Beschreibung der Quantentheorie spricht von einer Menge von Möglichkeiten (für ein Messergebnis), von denen eine wirklich wird, die anderen nicht. Die „Everett-Interpretation“ sagt dagegen, dass alle Möglichkeiten wirklich werden. Dazu spaltet der Everettismus das Universum in so viele Universen („Welten“) auf, wie es mögliche Messergebnisse gibt, und jedes mögliche Messergebnis wird in einem der Universen wirklich. Aber man kann die Everettische Sprache zurückübersetzen in gewöhnliches Deutsch: Anstatt von „anderen Universen“ würde man besser von nicht realisierten Möglichkeiten sprechen – das würde gar nichts ändern. Was bleibt von der „Everett-Interpretation“ ist also nur ein ungewöhnlicher Wortgebrauch, der sich aber leicht in gewöhnliche Sprache zurückübersetzen lässt.
 
Es ist nicht schwierig, die Quantentheorie zu verstehen, wenn man erst einmal den Indeterminismus akzeptiert hat (und die Verbandsdarstellung benutzt). Die zugrundeliegende Begrifflichkeit der Wahrscheinlichkeit wird ebenfalls leichter verständlich, wenn man von der Definition ausgeht: Wahrscheinlichkeit ist vorausgesagte relative Häufigkeit.
 
UNSER AUTOR
 
Michael Drieschner ist emeritierter Professor für Naturphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
 
Die Fußnoten und Literaturangaben zum Text finden sich auf der Hauptseite unserer Website www.information-philosophie.de unter Nachweise.