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04 2021

Bruno Heidlberger:
Zur Aktualität Hannah Arendts

 
aus: Heft 4/2021, S.106-114
 
Revolution und Handeln
 
Hannah Arendt ist von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie avanciert. Das Interesse an ihrem Denken, das aus den Erfahrungen von Flucht und Staatenlosigkeit schöpft und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt, hat weltweit zugenommen. Viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, führen zu dem, was wir heute Zivilgesellschaft nennen.
 
Arendts Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Stalinismus hat sie zu der Überzeugung geführt, dass Freiheit, freies verantwortliches Handeln den Sinn von politischem Handeln ausmacht. Ihre politische Theorie beruht auf einem auf Pluralität aufbauenden Verständnis einer freien politischen Gesellschaft als einem durch öffentliche Debatte und politisches Handeln ständig lebendig zu erhaltenden Ort der Zivilisation. Mit Immanuel Kant und Karl Jaspers stimmt sie überein: dass „alles Handeln die Verantwortung für die Menschheit mit übernehmen müsse“. Ihre Schriften sperren sich gegen die üblichen Einordnungsversuche in links und rechts, liberal und konservativ. Mit Blick auf ihren aristotelischen Begriff des Politischen fragt man, ob damit Politik in der Moderne möglich ist; ein Begriff mit einer elitären Note, der dem modernen Anspruch auf soziale Emanzipation und Demokratisierung aller Lebensbereiche widerspräche. Arendt war sich bewusst, dass politische Freiheit die Befreiung der Individuen von Zwang und Not voraussetzt, wie sie 1967 in einem Vortrag, der erst jetzt aus dem Nachlass unter dem Namen Die Freiheit frei zu sein publiziert worden ist, unterstreicht.
 
Revolution und Handeln sind die beiden Paradigmen ihres Denkens. Arendt sieht den Sinn von Revolutionen in „der Verwirklichung eines der größten und grundlegendsten Potentiale, nämlich die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwachse „die Welt für einen Novus Ordo Saeculorum geöffnet zu haben“. (1) Was im Selbstverständnis der Neuzeit als großer Fortschritt gilt, Emanzipation der Arbeiterschaft und der Frau, wird von Arendt dagegen als sekundäre politische Leistung gesehen. Die Amerikanische Revolution ist hingegen für sie das Paradigma einer wahrhaft geglückten Revolution. Sie war eine politische ohne soziale Revolution, eine Staatsgründung ohne Klassenkampf, Terror und Tote.
 
Gleichwohl begeisterte sie sich für die Geschichte der Arbeiter-, insbesondere der revolutionären Rätebewegungen und sympathisierte mit der radikaldemokratischen Studentenbewegung der späten 60er Jahre.Manche Ziele der Bewegung, wie in Amerika, begrüßte sie, andere hielt sie „für verstiegen und gefährlichen Unsinn“, wie etwa die Politisierung und Umfunktionierung der Universitäten und ähnliche Dinge“ (2). Die „einzige positive Losung der neuen Bewegung, der Ruf nach ‚Mitbestimmungsdemokratie‘, also eine linke Kritik am Parlamentarismus, stamme „aus dem Besten der revolutionären Tradition: dem Rätesystem“. Dazu bedürfe es nicht der Gewalt – allein des passiven Widerstandes. Im Rätestaat sieht Arendt einen Ansatz für einen neuen Staatsbegriff, ein föderales System, „das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und schließlich zu einem Parlament führt“ (3). Räte sollen die Nachteile einer nach Parteien organisierten Volksvertretung, die durch Klasseninteressen bestimmt sei, überwinden. Welchen Zweck Räte verfolgen sollen, wie das Gemeinwohl verstanden und in dieses Konzept integriert werden kann, lässt Arendt offen. Ihr schwebt eine „aristokratische Staatsform“ vor, die „nicht mehr zu dem Mittel der allgemeinen Wahlen“ greift.
„Öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und die Verantwortung für öffentliche Angelegenheiten“ solle nur denen zufallen, „die in allen Gesellschafts- und Berufsschichten daran Geschmack“ fänden und denen es um mehr gehe als um ihr „privates Wohlergehen“. „Nur wer an der Welt wirklich interessiert sei“, so Arendt, solle „eine Stimme haben im Gang der Welt“ (4). Damit reduziert Arendt das moderne Gleichheitspostulat auf das der Chancengleichheit. Die Aussichten für die Realisierung eines Rätestaates hielt sie für sehr gering, „immerhin – vielleicht doch im Zuge der nächsten Revolution“ (5).
 
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