PhilosophiePhilosophie

ESSAY

Volker Gerhardt:
Kant als Theoretiker der Humanität

aus: Heft 1/2022, S. 6-15
 
Die weitweite Empörung über den Mord an einem wehrlosen schwarzen Bürger am 25. Mai 2020 in Minneapolis ist Ausdruck einer Anteilnahme, die Menschen als Menschen nicht nur am Schicksal eines einzelnen Menschen nehmen, sondern auch am Leiden eines großen Teils der Menschheit, dem seit Jahrhunderten schweres Unrecht zugefügt worden ist – ein Unrecht, das bis heute in vielen offenen und versteckten Formen seine Fortsetzung findet.
 
Mit der Empörung ist Kants Ansehen in der öffentlichen Debatte derart in Verruf geraten, dass sich jeder verdächtig macht, der über Kant spricht und dabei die Vorwürfe gegen den angeblichen „Rassisten“ Immanuel Kant nicht wenigstens erwähnt.
 
Doch wenn wir es uns mit dieser Feststellung auf der Bank der Ankläger Kants bequem machen wollen, haben wir nichts verstanden. Denn wir haben uns vor allem anderen einzugestehen, dass uns die Kritik an der Verletzung elementarer Ansprüche von Menschen allemal auch selbst betrifft! Denn keine Gegenwart lebt aus sich selbst. Jede Zeit basiert auf Erträgen und Leistungen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden erbracht worden sind. In sie sind nicht nur unzählige Ahnungslosigkeiten und Irrtümer, sondern auch Bosheiten und Verbrechen eingegangen, deren Schuld durch das Vergessen nicht getilgt und durch Erinnerung und Eingeständnisse nicht ungeschehen gemacht werden kann. Jeder auf ein Vergehen in der Geschichte gerichtete Finger, zeigt mindestens dreifach in die Gegenwart zurück.
 
Das kann und darf nicht bedeuten, dass wir über die entdeckten und erkannten Vergehen unserer Vorfahren schweigen. Aber wir sollten bedenken, dass die Angehörigen früherer Generationen vieles von dem, was wir heute wissen, noch nicht wussten und es in nicht seltenen Fällen noch gar nicht wissen konnten. Wenn unser Urteil über sie nicht nur historisch gehaltvoll und sachlich treffend sein, sondern auch mit den Ansprüchen übereinstimmen soll, die wir an uns und unsere Zeitgenossen stellen, dann ist jeder Vorwurf sowohl mit Blick auf die Geschichte wie auch mit Rücksicht auf unsere eigene Gegenwart zu bedenken.
 
Die Schwierigkeit, die im Urteil über die Geschichte offenkundig ist und hier mit der Bemühung um historische Kenntnisse und mitmenschliche Gerechtigkeit in vielen Fällen durchaus zu bewältigen ist, wird von Kant selbst mit Blick auf die Natur des Menschen ergänzt und damit keineswegs behoben: Im Gegenteil: Für Kant ist der Mensch das einzige Lebewesen, das einen Begriff von Gut und Böse hat und dennoch Böses tut und zugleich in der Lage ist, seine Untaten zu beklagen und zu bedauern.
 
Dieser eklatante Widerspruch in der menschlichen Natur nötigt Kant, nicht nur zu einer moralischen, sondern auch zu einer politischen Justierung der Kriterien für den Umgang mit dem singulären, aus uns selbst entspringenden Zentralproblem der menschlichen Natur zu finden: Es ist das Problem, das aus dem Nebeneinander von empfindender Anteilnahme mit den Opfern einerseits und der eigenen, den Menschen ausschließlich selbst schuldig machenden Täterschaft andererseits folgt. Der Mensch ist fähig, unter dem Bösen, das er selbst in die Welt bringt, zu leiden – und das nicht nur gelegentlich, sondern dauerhaft und in unablässiger Fortsetzung.
 
Wenn Kant 1795 feststellt: „Es ist so weit gekommen, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen anderen gefühlt wird“ (1), dann hat er die verhängnisvolle Paradoxie der neuen globalen Weltlage und zugleich der menschlichen Natur auf den Punkt gebracht. Denn es ist niemand anderes als der Mensch, der das Recht verletzt, wohl gemerkt: das von ihm und für ihn in die Welt gebrachte Recht in eigener Verantwortung verletzt, und der sich zugleich darüber wortreich zu beklagen vermag.
 
Man kann es auch knapper sagen: Der Mensch tut Unrecht, weiß davon und vermag als einziger darunter zu leiden. Und wenn er sich dieses Unrechtsbewusstsein auch oft nicht eingesteht, so hat er doch ein mit vielen anderen geteiltes Gefühl für das Unheil, das er selbst anrichtet. Er ist Täter und Opfer zugleich. Und beides betrifft die Humanität des Menschen.
 
Immanuel Kant macht sich keine Illusionen über die Natur des Menschen! Der Mensch ist „aus krummem Holze“ geschnitzt, aus dem man nun einmal nichts makellos Grades machen kann. (2) Kant spricht von der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen und von dessen eingeborenem „Antagonism“, der bis in seine geistige Verfassung reicht und der sein Verhalten prägt: Er braucht und sucht die Nähe von seinesgleichen und meidet sie gleichwohl. (3)
 
Also ist der Mensch das einzige Lebewesen, dass den Frieden zu schätzen weiß und ist dennoch dasselbe, das Kriege plant, anzettelt und führt. Auch deshalb nennt Kant den Menschen „radikal böse“, also: von Grund auf verderbt. (4)
 
Diese im Menschen angelegte abgründige Bosheit: vom Bösen zu wissen und es trotzdem zu tun, gilt Kant als die konstitutive Selbsterfahrung des Menschen, die ihn zwar im Glauben an Gott dazu bringen kann, unter dem Anspruch des Postulats der „Unsterblichkeit“ inneren Frieden zu erhoffen. (5) Doch das betrifft nur den Glauben; die Humanität aber besteht nicht nur darin, jedem seinen Glauben zu lassen: Sie hat ihre Bedeutung vorrangig im selbstbewussten und weltoffenen Handeln des Menschen zu erweisen, das nach Möglichkeit wissend bewältigt werden muss.
 
Und hier zeigt sich die von Widersprüchen gekennzeichnete existenzielle Lage des Menschen, die ihn zur Liebe und zur tödlichen Feindschaft fähig macht und ihn trotzdem die Verständigung mit seinesgleichen schätzen lässt. Erst dadurch wird der Mensch fähig, über seine eigensinnigen Abneigungen hinweg, den Wert der Einheit in den Leistungen anzuerkennen, die er im eigenen wie auch im gesellschaftlichen Interesse als vorrangig begründen kann. So kann der Königsberger Philosoph, der wie kein anderer vor ihm die „Unvertragsamkeit“ der Menschen (6) zu rühmen versteht, nicht nur zum Theoretiker der Verständigung und des Friedens werden, sondern auch zum scharfsinnigen Analysten der Humanität.
 
 
 
Und dabei bewährt sich Kants Doppelbegabung als Kritiker und Systematiker: Er legt die Schwächen der menschlichen Natur unnachsichtig frei und kann dennoch zum singulären Anwalt der Menschheit werden.
 
Wer Kant lediglich als Kritiker wahrnimmt, übersieht, dass die Kritik bei ihm die Voraussetzung für eine systematisch bereinigte Sicht auf die verbliebenen Bestände ist, um aus den erkannten Defiziten die tragfähigen Prinzipien für humanes Handeln freizulegen. Und die nötigen ihn, die Menschheit nicht erst als Generalbedingung produktiver kultureller und politischen Leistungen, sondern bereits als grundlegende Prämisse des moralischen Selbstbegriffs eines jeden menschlichen Individuums anzusehen. Das erlaubt es Kant in der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft die Humanität einerseits als „das allgemeine Theilnehmungsgefühl“ und andererseits als „das Vermögen sich innigst und allgemein [!] mittheilen zu können“ zu bezeichnen. (7)
 
Vielen Kritikern, insbesondere im 19. Jahrhundert, ist die Pointe dieser Verknüpfung von Moral und Politik entgangen; manche haben sie auch für ein Vorzeichen der Altersschwäche des „Chinesen von Königsberg“ gehalten. (8) Erst die Selbstzerrüttung der Menschheit im Ersten und im Zweiten Weltkrieg und das darauf folgende Wachstumsdelirium einer ihre eigenen moralischen, politischen und natürlichen Ressourcen aufzehrenden Zivilisation hat Kant-Lesern die Augen für den endzeitlichen Ernst in der Vernunftkritik dieses Denkers geöffnet. Seine Warnung vor den „höllischen Waffen“, die bereits in den Kriegen seiner Zeit zum Einsatz kommen, seine Kritik am „Kolonialismus“ und der „allergrausamsten und ausgedachtensten Sklaverei“, in der die europäischen Eroberer von sich aus alles Vertrauen in die Gerechtigkeit zerstörten (9), seine Abrechnung mit der Verlogenheit der Politik und schließlich seine abgeklärte naturgeschichtliche Gewissheit, dass die Epoche des Menschen unter Umständen. schon bald ein Ende finden könnte (10), zeigen einen Realismus, der ausschließt, dass Kant in seiner Betonung der Menschheit und der mit ihr exponierten Verbindlichkeit der humanen Selbstverpflichtung einen leichtfertigen Idealismus vertritt.
 
Beachten wir nur den unscheinbaren Umstand, dass für Kant die Humanität dem Menschen nicht in die Wiege gelegt wird. Sie ist vielmehr eine Idee, die er dem Leiden des Menschen an sich selbst und der darin wachsenden Einsicht in die Notwendigkeit der Verständigung verdankt. Überdies kommen bei Kant die Erkenntnisse hinzu, die er der Wissenschaft seines Jahrhunderts, der Aufklärung und den politischen Ereignissen im letzten Drittel seines Jahrhunderts verdankt.
 
Und sie haben eine lange Vorgeschichte in der Geschichte der Philosophie! Sie beginnt mit der inneren Verbindung von Universalität und Individualität, die das philosophische Denken überhaupt erst auf den Weg gebracht hat. Sie ist verbunden mit der für Kants Denken exemplarischen Gestalt des Sokrates, verdankt sich der Anregung durch Cicero, der erstmals humanitas, persona und dignitas (also Humanität, Personalität und menschliche Würde) verknüpft hat, um deutlich zu machen, wodurch allein die römische res publica gerettet werden kann.
 
Man darf auch den Einfluss der urchristlichen Botschaft mit ihrem primär an den Einzelnen adressierten Heilsversprechen – unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Bildung – nicht vergessen. Man hat überdies an den Verfasser des ersten neuzeitlichen Friedensrufs, Erasmus von Rotterdam, zu erinnern, der auch der erste war, der es für möglich hielt, die Monarchie mit den Prinzipien der Republik zu verbinden. Gegen Luther verteidigte Erasmus eine Freiheit, die unterschiedslos allen Konfessionen und Religionen zusteht.
 
Und wenn man die Vorgeschichte wenigstens in ihren wesentlichen Punkten erfassen möchte, hätte man auch die gegen Kolonialismus und Sklaverei gerichtete Wiederbelebung des Naturrechts im Menschen- und Völkerrecht durch die Dominikaner und Jesuiten des 16. Jahrhunderts zu erwähnen. Zum definitiven Initial des Humanitätsgedankens bei Kant aber gehört die Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonien mit der von Thomas Jefferson entworfenen Bill of Rights im Jahre 1776. In ihr wird das Menschenrecht zum neuen Maßstab politischer Gesetzgebung erhoben.
 
Die Folgen sind bereits in Kants erster Vernunftkritik von 1781 zu erkennen, denn sie atmet in ihrer Zukunftsgewissheit den Geist einer sich in Jahrhunderten entwickelnden Humanität, die im Programm der Aufklärung zur Leitidee des Fortschritts geworden ist. Und mit den danach in dichter Folge publizierten politischen Schriften werden Menschheit und ihr elementarer Rechtsanspruch im Menschenrecht auch für Kant zur conditio sine qua non des politischen Handelns.
 
Von da an häuft sich in Kants Schriften der Gebrauch des Begriffs der „Menschheit“. Dessen politische Bedeutung kommt an Kants Mittagstafel mit den Erfolgen des Befreiungskrieges der Neuenglandstaaten (und der sich anschließenden Französischen Revolution) mit einer solchen Entschiedenheit zur Sprache, dass Kants englische Freunde verärgert und seine preußischen Gäste zunehmend besorgt sind. Mit dem Tod Friedrich II. kommt 1786 die Sorge hinzu, der Philosoph könne sich den Unmut der preußischen Staatsmacht zuziehen. Doch das geschieht erst 1792, als der Berliner Hof Anstoß an Kant liberalen Äußerungen über die Macht der Kirche nimmt.
 
Den wichtigsten philosophischen Schritt vollzieht Kants in seinem Übergang zur Moralphilosophie 1785 mit der Abfasung seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hier zieht Kant die Konsequenz aus der von Anfang an bestehenden Parallele zwischen Individualität und Menschheit. Und es genügt ihm nicht, davon auszugehen, dass beide Begriffe aufeinander verweisen; er verbindet sie zu einer systematischen Einheit, die jedem, der sie begrifflich nachzuvollziehen sucht, den Atem verschlagen kann.
 
In der kühnen Formel, in der Kant seinen „kategorischen Imperativ“ populär gemacht hat („Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“) (11), verschmelzen die größten Gegensätze, die man sich nach unserer Kenntnis des alltäglichen Lebens nur vorstellen kann: In offenkundiger Doppelrolle bezieht sich „Menschheit“ zum einen auf alle Menschen überhaupt und zum andern auf den intelligiblen Selbstbegriff, den jedes Individuum von sich selber hat! Mit einer in ihrer Paradoxie kaum zu überbietenden Denkbewegung gelingt es Kant, den alle Menschen überhaupt umfassenden Begriff der Menschheit zum innersten Selbstverständnis eines jeden einzelnen Menschen zu erklären. Er komprimiert die Totalität aller Menschen zum nur dem Einzelnen zugänglichen intelligiblen Nucleus in der Selbstreflexion des Individuums, von dem mit absoluter Gewissheit behauptet wird, dass sie in allen Menschen gleichartig und gleichrangig ist. So wird der Begriff der Menschheit zur umfänglichsten und zugleich eindringlichsten Selbstbezeichnung des Menschen, der sich den Titel der Person zueignen kann.
 
Zur rationalen Zumutung dieser Konstruktion kommt eine normative Maßlosigkeit – so jedenfalls haben es Zeitgenossen empfunden: In der Entsprechung von personaler Individualität und gattungsspezifischer Universalität liegt nach Kant die singuläre Würde des Menschen! Diese Würde ist jedem Menschen eigen, unabhängig von allen historischen Voraussetzungen, sachlichen Leistungen und gesellschaftlichen Ämtern; sie steht dem Menschen in seinem bloßen Dasein zu! Mit einem Schlag sind es nicht mehr die Staats- und Kirchenfürsten, denen die höchste Auszeichnung zukommt; auch den Weisen, Entdeckern und den Künstlern wird kein humanitärer Vorsprung gewährt.
 
Die Würde bleibt allein dem Menschen in seiner natürlichen Existenz vorbehalten. In seiner menschlichen Geburt und seiner mit allen geteilten Sterblichkeit avanciert er zum einzigen und zugleich höchsten irdischen Würdenträger überhaupt. Was damit der sich selbst aufwertenden politischen Welt an moralischer Hochschätzung genommen wird, das gewinnt der einzelne Mensch mit seiner Würde an unüberbietbarem moralischem Gewicht, das durch die Politik geschützt und gesichert werden muss. Welches schier unglaubliche Paradox in dieser Auszeichnung der Politik liegt, ist offenkundig: Denn die Politik, die, wie wir sie aus dem Alltag kennen, vorrangig der Macht verpflichtet ist, muss, nach Kant, als die Größe angesehen werden, welche die Würde des Menschen am meisten bedroht! Und ausgerechnet sie, soll das Palliativ (oder gar der Schutzpanzer) der Würde sein?
 
Die politische Konsequenz aus dieser alle überlieferten Wertungen umkehrenden These hat Kant schon ein paar Jahre früher mit seiner Übernahme des Begriffs des Menschenrechts und dessen Anwendung auf einen Ausdruck, der schon zu seiner Zeit ganz alltäglich geworden war, gezogen: So wie man sich in der Regel nach der Geburt eines Menschen über den neuen „Erdenbürger“ freut, so nennt Kant nun jeden Menschen einen „Weltbürger“!
 
Dieser Titel gebührt jedem Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Bildungsstand oder Alter. Als „Weltbürger“ sind alle gleich, und machen in ihrer Gesamtheit die politische Menschheit aus. Kant verbindet diesen Rang mit dem jedem Menschen zustehenden Anspruch, Inhaber bürgerlicher Rechte zu sein – einem Rechtstitel, der, nach Kant, in aller Welt anerkannt werden muss.
 
Zwar wissen wir, dass der Königsberger Philosoph, in der Erörterung bestehender Rechtsordnungen noch gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern und eine Zeit lang auch noch zwischen selbständigen und abhängig beschäftigten Personen macht. (12) Aber das liegt daran, dass er hier noch Bezug auf bestehende Verfassungen nimmt.
 
Mit dem Übergang zu Erwägungen, die sich auf die Anlage von prinzipiell zu fordernden Republiken bezieht, ist bei ihm nur noch von Menschen die Rede – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Tätigkeit und ihrer Bildung!
 
Damit ist auch die Frage entschieden, ob die Menschheit nach Kant in verschiedene „Rassen“ zerfällt. Wäre es so, könnte man ihn einen „Rassisten“ zu nennen. Zwar sagt er gelegentlich noch „Neger“ (und hat als guter Lateiner gewiss nichts Böses darin gefunden); in einigen wenigen Fällen spricht er auch abwertend von Unterschieden zwischen Menschen verschiedener Hautfarbe. Dass wir uns heute, nach den Erfahrungen mit Sklaverei und Menschenvernichtung, solche Wertungen verbieten, versteht sich von selbst. Aber ehe wir mit einem historischen Abstand von mehr als 200 Jahren daraus Kant einen vernichtenden Vorwurf machen, müssen wir zur Kenntnis nehmen, wie sie vom Autor gemeint sind und von den Lesern, für die er schreibt, auch verstanden wurden.
 
Damit meine ich natürlich nicht, dass man sich nicht kritisch mit abschätzigen Äußerungen, die sich bei Kant finden, befassen sollte. Die kritische Aufmerksamkeit muss es nicht nur mit Blick auf die Sklaverei und den Kolonialismus geben, sondern auch angesichts der verhängnisvollen Tradition des Rassismus in der deutschen Geschichte – von der Reformation über den Nazismus bis in die jüngste Gegenwart. Im Umfeld von Wolfram Hogrebe sind dazu bereits vor längerer Zeit kritische Studien entstanden. Kurt Röttgers hat 1993 in einer separaten Publikation auf die Vorurteile über die „Zigeuner“ in Kants Umgebung hingewiesen; und Kants Urteil über den jüdischen Glauben war ein Thema, mit dem sich die Interpreten von Anfang an befasst haben. Daran haben sich insbesondere jüdische Philosophen beteiligt, unter denen namhafte Kantianer wie etwa Hermann Cohen zu finden sind. Bei aller Kritik sollte man unterscheiden, ob sich bei einem Autor als antisemitisch oder rassistisch bewertete Urteile finden, oder ob er generalisierend als „Antisemit“ oder gar als „Rassist“ bezeichnet werden kann.
 
Kant kommt in drei Aufsätzen aus den Jahren 1775, 1785 und 1789, in denen er sich primär mit dem Problem der „Rasse“ befasst, zu dem Ergebnis, dass die Menschheit eine Einheit bildet! Sie hat einen „Stamm“ und muss als eine „Familie“ verstanden werden.
In seiner Untersuchung von 1788 spricht er daher die Empfehlung aus, auf den missverständlichen Begriff der „race“ ganz zu verzichten. (13) Er selbst hält sich in allen noch folgende Publikationen, zu denen auch seine grundlegenden politischen Schriften gehören, an diesen seinen Rat. Die erkennbaren Differenzen in Aussehen und Verhalten zwischen den Menschen hält er für Folgen der klimatischen Differenzen zwischen den kontinentalen Herkunftsgebieten; und die Abweichungen in den Verhaltensweisen und Interessen der Menschen erklären sich für ihn aus historisch entstandenen kulturellen Besonderheiten, die sich individuell und gesellschaftlich ändern können. Kant ist, das darf man aus vielen Äußerungen der vorkritischen und der kritischen Zeit schließen, ein Kulturalist avant la lettre.
 
Es könnte verwundern, dass sich der Autor gut hundertfünfzig Jahre vor den genetischen Beweisen für seine These, seiner Auffassung so sicher ist. Doch er hat ein bezwingend einfaches Argument: Die Menschen können über alle vermeintlichen Wesensgrenzen hinweg Kinder zeugen. Für Kant ist die Paarungsfähigkeit der Menschen das untrügliche Zeichen der gattungsspezifischen Einheit des menschlichen Geschlechts. Somit gibt es für ihn keinen Grund, unterschiedliche moralische, rechtliche oder politische Ansprüche an verschiedene Menschengruppen zu stellen.
 
Kants Insistenz auf der Gleichheit der Menschen ist so nachdrücklich und derart unbedingt, dass man ihn zu den Wegbereitern der Menschenrechte zu rechnen hat. Ohne Kant könnte die Kritik an der Rassendiskriminierung wohl kaum mit der kategorischen Unbedingtheit geäußert werden, in der es heute mit Recht geschieht. Wäre Kant tatsächlich ein „Rassist“ gewesen, hätte er als entschieden-ster Kritiker seiner selbst auftreten müssen. Bei dem profiliertesten Kritiker der Philosophie, zu dem Kant ohne Selbstkritik niemals hätte werden können, ist das alles andere als eine rhetorische Pointe. Sie trifft ins Zentrum des Selbstbegriffs der kritischen Philosophie.
 
In den letzten zehn Jahren seiner publizistischen Präsenz hat Kant dem für ihn erledigten Thema der „race“ keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Nach der 1790 vorgelegten dritten Kritik mit ihrer Grundlegung der Ästhetik und seiner ingeniösen und völlig neuartigen Theorie des Lebens schreibt er seine Religionsphilosophie und präzisiert dabei seine kritische Bestandsaufnahme der Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen.
 
Nachdem die Vereinigten Staaten und die Französische Republik zu ihrem verfassungstheoretischen Abschluss gefunden haben und in dem von Kant begrüßten Frieden von Basel 1795 der Koalitionskrieg der alten Monarchien gegen die junge Republik beendet werden konnte, widmet sich Kant dem Projekt des Friedens zwischen der Staaten, entwickelt die Idee einer Föderation, die auch Staaten mit unterschiedlichen Verfassungen umfassen kann, und zeigt in einer bis heute viel zu wenig beachteten Überlegung, wie politische Öffentlichkeit und eine existenziell ernstgenommene Moralität der Individuen zu einem möglichst gewaltlosen Übergang in eine den Frieden sichernde republikanisch-demokratische Wert- und Weltordnung führen können.
 
Mit diesem innovativen Abschluss seiner Kritik an einer seit Jahrhunderten vorherrschenden staatspolitischen Praxis sucht Kant nach einem Weg, der die von ihm methodologisch getrennten Begründungsmodelle von Moral und Recht zusammenführt: Die bereits moralisch geforderte Vereinigung zwischen moralischer Person und Menschheit erhält nunmehr ihre politische Entsprechung, indem die Politik über eine moralisch ernstgenommene Öffentlichkeit Recht und Moral so verbindet, dass Kant durch sie auch das Glück der Menschen befördert sieht. (14)
 
Dieses sein politisches Denken abschließende Programm ist für Kants Konzeption der Humanität von eminenter Bedeutung. Denn hier wird deutlich: so, wie im kategorischen Imperativ die Gesamtheit der Menschheit mit dem Selbstverständnis der Person innerlich verknüpft wird, fordert er hier, dass Recht und Moral im Medium der Öffentlichkeit zur Deckung gebracht werden müssen. Seine ätzende Kritik an den „politischen Moralisten“, die nur von Moral reden, sich in ihren Handlungen aber gar nicht um sie kümmern, ist literarisch eine Glanzleitung der politischen Sa-tire, und philosophisch leitet sie über zur systematischen Verbindung zwischen Moral und Politik.
 
Es ist der „moralische Politiker“, von dem Kant erwartet, dass er – nach Möglichkeit ohne Gewalt – den Übergang von der Monarchie zur Republik ermöglicht. Und mit diesem Schritt muss auch der „Zweizüngigkeit der Politik“ ein Ende gemacht werden, um die „Achtung fürs Recht“ zur „unbedingten Pflicht“ für jeden politischen Menschen erhoben werden. (15) Und damit vollzieht Kant – genau genommen schon in der Friedensschrift – den Übergang zur Demokratie! Denn die Demokratie verlangt nicht nur von den Politikern, sondern auch von den Bürgern die aus eigenem Antrieb kommende Einhaltung des Rechts. Während der kategorische Imperativ die Humanität moralisch verbindlich macht, ist eine das Recht achtende Demokratie die beste Gewähr für die politische Sicherung der Humanität.
 
Diese Konsequenz mit ausdrücklicher Nennung der Demokratie zieht Kant freilich erst zwei Jahre später im § 52 der Metaphysik der Sitten. (16) Hier ist der staatstheoretische Abschluss seiner politischen Lehre gefunden. Der Staat lässt sich als „repräsentatives Sy-stem“ im Geist des Menschen- und des Weltbürgerrechts begreifen, das größere oder kleinere Einheiten umfasst und es nicht ausschließt, dass sich Teile der Staatenwelt zu einem Staat zusammenschließen. (17) Auch eine einheitliche „Weltrepublik“ hält Kant für denkbar; sie ist aber nicht seine vorrangige Option. Im Mittelpunkt seines Interesses steht die zur rechtsförmigen Kooperation genötigte Föderation.
 
Kant pflegte in seinen Logik-Vorlesungen die zentralen Aufgaben der Philosophie durch drei Fragen zu charakterisieren: „Was kann ich wissen?“ „Was soll ich tun?“ und: „Was darf ich hoffen?“ In allen drei Fragen, in denen wir unschwer die Leitfragen seiner drei Kritiken, erkennen, spielt das „Ich“ eine zentrale Rolle. In der Tat hat die Philosophie vom nicht nur fragenden, sondern auch zum Handeln genötigten und unter dem Erwartungs-druck seiner persönlichen Wünsche stehenden, „ich“ sagenden Subjekt auszugehen. Dieses von sich selbst wissende Individuum ist konstitutiv für alles, was für einen Menschen Bedeutung hat – und dies so, dass die Bedeutung auch von seinesgleichen eben genau so begriffen werden kann.
 
Schließlich wird noch eine weitere Frage hinzugefügt, in der die drei vorangehenden Fragen kulminieren: „Was ist der Mensch?“
 
Das ist in der Tat die humanistische Zentralfrage, die in allem nach der Beschaffenheit, Aufgabe und Zukunft jedes Ich fragt, das als bewegende und bewegte Instanz in allem Wissen, in allem Handeln und allem Hoffen wirksam und betroffen ist. Aber da es allein im Gebrauch dieses singulären Ich zu Einsichten kommen kann, über die es nur in der Verständigung mit anderen „ich“-sagenden Wesen zur Erkenntnis der Welt und ihrer Beschaffenheit gelangt, hängt am Ich – und an dessen Fähigkeit zur „communicatio“ (18) – der ganze vom Menschen erkennbare Zusammenhang der Welt.
 
So erklärt sich auch der Zusammenhang von Individualität und Universalität: Er ist die umfassende Klammer, in der es dem Menschen möglich ist, sich selbst in kontinuierlicher Verbindung mit der Welt, die den ganzen menschlichen Horizont umschließt, zu denken.
 
Das kann man mit Kant als „transzendentalen Idealismus“ bezeichnen. Da dieser Idealismus aber an eine reale Funktion in der Welt, nämlich an die Verständigung, die „communicatio“ lebendiger Wesen gebunden ist, bietet dieser „transzendentale Idealismus“ alles andere als einen „metaphysichen Idealismus“, der grundsätzlich alles umschließt. Über seine Bindung an leibhaftige, ich-sagende Naturwesen, die sich „Menschen“ nennen, bleibt der „transzendentale Idealismus“ an ein Fundament in Natur und Gesellschaft gebunden, mit dem sich Kant Zeit seines Lebens beschäftig hat.
 
Als junger Gelehrter hat Kant im Anschluss an Newtons Kosmologie, eine „Allgemeine Naturgeschichte“ des Kosmos entwickelt, in dem es erst nach Jahrmillionen zur Entstehung der Sonnensysteme mit ihren Planeten gekommen ist. Das Leben, wie es auf der Erde vorkommt, ist erst viel später auf dem sich langsam abkühlenden Sonnentrabanten entstanden. Nach einem weiteren sehr langen Zeitraum hat sich hier auch der Mensch entwickelt, der es selbst vermutlich nicht mehr erleben wird, dass die an Energie verlierende Erde sich der Sonne immer weiter nähert und am Ende in sie stürzt und in ihr verglüht – ein Vorgang, den Kant gleichwohl mit ausufernder Phantasie und ohne Anzeichen einer inneren Anteilnahme beschreibt.(19) Spätestens mit dem „Feuerwerk“ des Verschwindens der Erde in der Sonnenglut ist die Natur- und Lebensgeschichte des Menschen auf seinem Heimatplaneten beendet.
 
Wir wissen, dass Kant auch noch im Alter an diesem naturgeschichtlichen Modell festgehalten hat. Und unmittelbar nach Abschluss seiner Friedensschrift wurde er durch zwei von ihm geschätzte Naturforscher Petrus Camper und Friedrich Blumenbach auf ganz andere Weise an das Ende der Menschheit erinnert: Die beiden glaubten aus ihren Studien schließen zu können, dass die Menschen Vorläufer gehabt haben, die von ihnen erst verdrängt werden mussten, ehe sie selbst als Menschen zum dominierenden Lebewesen auf der Erde werden konnten.
 
Aber diese Dominanz des Menschen, da ist auch Kant sich sicher, wird nicht von Dauer sein! Denn eines Tages werden andere Geschöpfe herangewachsen sein, die sich als überlegen erweisen und die Menschen verdrängen. Unter den Bedingungen einer Pandemie und einer drohenden Klimakatastrophe brauchen die Menschen heute keine science fiction-Autoren, um sich ein solches Ende auf ihrem Planeten vorstellen zu können.
 
Kant zeigt sich deshalb über die Mutmaßung von Camper und Blumenbach nicht überrascht. Er hält es offenbar für natürlich, dass die nach ihm von der Evolution stärker be-günstigten Geschöpfe mit dem Menschen ebenso verfahren werden, wie der einst mit seinen Konkurrenten umgegangen ist. (20) Kant denkt also das historische Ende der menschlichen Geschichte mit.
 
Aber das hindert ihn nicht, an seinem kommunikativ fundierten sowie moralisch und politisch verbindlich gemachten Humanismus festzuhalten! Kant hat mit Blick auf die dem Menschen zur Pflicht gemachte Zukunft durchaus gute Gründe, weiterhin von „Fortschritt“ zu sprechen. Aber er macht die Auszeichnung der Humanität nicht abhängig von einem gelingenden Ende der Geschichte oder von der Erfüllung einer geglaubten Verheißung eines Gottes, sondern allein vom Verhalten des Menschen, in dem Leben, das er hat. Der Mensch hat sich in seinem Wissen und Können sowie in seiner moralischen und politischen Verantwortung der Menschheit in seiner Person – wie auch in seiner politischen Organisation – als würdig zu erweisen. Hier kommt es, definitiv, nicht mehr darauf an, ob einer Europäer, Afrikaner oder Amerikaner, Mann oder Frau, wohlhabend oder gebildet genannt werden kann. Hoffentlich aber dar-auf, ob einer aufrichtig und menschlich ist.
 
Gesetzt, der Mensch kann sich durch den Einsatz von Politik, Wissenschaft und Technik nicht von der Gefahr eines von der Natur aufgezwungenen Endes befreien, hängt für den Menschen alles daran, wie er sich als einzelner Mensch in seiner menschlichen Nähe zu seinesgleichen versteht und ob es ihm in einer solchen Lage gelingt, seine Würde zu wahren und die Menschheit in seiner eigenen Person im Verhältnis zu sich selbst und zu seinesgleichen als höchsten Ausweis seiner Menschlichkeit zu sichern. Und eine Politik, die das begünstigt, ist im Interesse der Menschheit.
 
Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Kant-Museums im Rathaus Lüneburg am 1. Oktober 2020.
 
Zitat- und Belegnachweise
 
(1) Ewiger Friede AA 8, 360.
(2) Über den Gemeinspruch (1783), AA 8, 23.
(3) Ebd., 8, 24.
(4) Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft (1793), Werke Bd. 6, 37.
(5) Kritik der praktischen Vernunft, Werke 5, 122 ff.
(6) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), AA 8, 21.
(7) Kritik der Urteilskraft § 60; AA 5, 355).
(8) „Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker.“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 210); KSA 6, 144
(9) Ewiger Friede AA 8, 358 f.
(10) Streit der Fakultäten; AA 7, 89
(11) Grundlegung AA 4,429.
(12) So etwa in der epochalen kleinen Schrift Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783), AA 8, 35 ff.
(13) Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien; AA 8, 157 ff.
(14) Ewiger Friede, AA 8, 836
(15) Ebd., 385
(16) MS, Rechtslehre, § 52; AA 6, 339 f.
(17) Ebd., § 61; AA 6, 350.
(18) Wie Kant in einer Erläuterung der „transzendentalen“ Leistungen sagt. Siehe den Brief an J. S. Beck v. 1. Juli 1794; AA 11, 514 ff.
(19) Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755); AA 1, 318: „Der Mensch, der das Meisterstück der Schöpfung zu sein scheint“, ist vom „Untergang des Weltgebäudes“ nicht ausgenommen: Der „Untergang “ ist noch nicht einmal als ein „wahrer Verlust der Natur zu bedauern“. Schon in der Ankündigung des Untergangs betont Kant die „Wohlanständigkeit des Begriffs“ vom Ende des Menschen und seiner Welt (ebd. 1, 239).
(20) Streit der Fakultäten, 2, 7; AA 7, 89.