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01 2022

Dieter Birnbacher, Weyma Lübbe, Arnd Pollmann und Héctor Wittwer:
Freiheit versus Impfpflicht

Freiheit versus Impfpflicht
Stellungnahmen von Dieter Birnbacher, Weyma Lübbe,
Arnd Pollmann und Héctor Wittwer
 
 
Aus: Heft 1/2022, S. 26-33
 
Was braucht es, um eine Beschränkung von Freiheit ethisch zu rechtfertigen?
 
Héctor Wittwer: Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche normative Ethik man zugrunde legt. Ich gehe von einer nicht-utilitaristischen Form des Konsequentialismus aus, die ich Konsequentialismus der Rechte nenne. Gemäß dieser Auffassung sind Freiheitsbeschränkungen nur dann gerechtfertigt, wenn sie nötig sind, um vorrangige moralische Rechte anderer Menschen zu schützen. Dabei werden Rechte durch legitime Interessen konstituiert. Außerdem müssen moralische Rechte gemäß der Bedeutung der Güter, die sie schützen sollen, in eine Rangfolge gebracht werden. Beispielsweise herrscht Einigkeit darüber, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit Vorrang hat vor dem Recht auf Handlungsfreiheit. Es müssen also zwei Bedingungen erfüllt sein, damit die Beschränkung der Freiheit moralisch begründet ist: Die Handlung oder Unterlassung muss erforderlich sein, um ein moralisches Recht eines anderen nicht zu verletzen oder seine Erfüllung zu sichern, und dieses moralische Recht muss dem Schutz eines Gutes dienen, das wichtiger ist als die Freiheit, die beschränkt wird.
 
Dieter Birnbacher: Freiheit ist ein hohes Gut. Es darf nur soweit beschränkt werden, als notwendig ist, um andere, mindestens gleichwertige Güter zu erhalten, wiederherzustellen oder zu ermöglichen. Die Entwicklung des Freiheitsprinzips in den letzten 50 Jahren ist allerdings nicht ohne Ambivalenzen. Einerseits sind die Freiheitsrechte in vielen Bereichen gestärkt worden, etwa im Familienrecht und in der Medizin. Darüber hinaus werden viele seit längerem anerkannte Freiheitsrechte heute deutlich stärker wahrgenommen, etwa bei der Berufswahl, der Partnerwahl und der Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften. Auf der anderen Seite haben Gesichtspunkte der Sicherheit gegenüber dem der Freiheit an Bedeutung zugenommen. Der Wunsch nach Freiheit scheint u. a. abhängig von dem Ausmaß, in dem die Bedürfnisse nach Sicherheit befriedigt sind. Allerdings kann ein Paternalismus, der dem Einzelnen eine Sicherheit aufnötigt, die er nicht will, nur in ganz engen Grenzen legitim sein.
 
Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen sind im Wesentlichen nur dann zulässig, wenn sie der Sicherheit oder anderen essenziellen Interessen anderer dienen. So haben ja auch die Gesetze, die den Einzelnen zwingen, bestimmte Maßnahmen zur eigenen Sicherheit zu treffen, andere betreffende Aspekte, im Fall des Gurtzwangs beim Autofahren etwa die Entlastung der Kliniken von unfallbedingten Behandlungen, im Fall der gesetzlichen Krankenversicherung die Entlastung der Steuerzahler von den Behandlungskosten Unversicherter. Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen sind allerdings immer dann zulässig, wenn sie der Sicherheit anderer dienen. Insofern ist der Satz, dass die Freiheit des Einzelnen da endet, wo die Freiheit des anderen anfängt, in zweifacher Weise verkürzt. Nicht jede Beeinträchtigung der Freiheit anderer kann Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen. Nahezu alle Lebensaktivitäten beeinträchtigen in einem gewissen Maße die Freiheit anderer; die Freiheitsräume der Individuen lassen sich nicht konsequent voneinander separieren. Auf der anderen Seite lassen sich Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen auch durch andere Güter als Freiheit rechtfertigen, vor allem durch Leben, Gesundheit, Eigentum und Sicherheit.
 
Weyma Lübbe: Im traditionellen, „liberalen“ Verständnis bedarf es dazu mindestens einer mit dem Freiheitsgebrauch (etwa: im Seminarraum zu rauchen) verbundenen Beeinträchtigung der Freiheit anderer (im Beispiel: der Freiheit, nicht mitzuinhalieren). „Mindestens“, weil natürlich nicht jede Beeinträchtigung der Freiheit anderer eine Freiheitsbeschränkung rechtfertigt (vgl. die Freiheit, abends im Laden das letzte vorhandene Brot zu kaufen). Sinnvolles dazu, welche Freiheit jeweils vorgeht, lässt sich nicht generell sagen. Insbesondere ist das nicht einfach eine Frage der Abwägung nach Maßgabe der Erheblichkeit der involvierten Interessen (der Kunde im Laden darf auch die zwei letzten Brote kaufen; einen Leberlappen muss man sich auch dann nicht explantieren lassen, wenn das einem anderen das Leben rettet; usw.).
 
Tatsächlich sind komplexe, in Rechtssystemen institutionalisierte und auch in Alltagsurteilen wirksame Zurechnungsprozesse involviert, die nicht als Resultate bloßer Güterabwägungen rekonstruierbar sind. Sie regulieren den Gebrauch von Konzepten wie „Schädigung“ oder „Eingriff“, die wir im Alltag relativ zu institutionalisierten Rechten verwenden. Der Brotkauf gilt rechtlich und im Alltag nicht als Schädigung des nachfolgenden Kunden und auch nicht als Eingriff in seine Freiheit. Zwar beschränkt der erste Kunde wohl die Freiheit des zweiten, d. h. die Menge seiner Handlungsoptionen, aber nicht seine Freiheitsrechte.
 
 
Unsere Gesellschaft hat allerdings über Freiheitsrechts hinaus längst auch soziale Rechte institutionalisiert. Ohne korrespondierende Pflichten sind sie nicht zu haben. Das erzeugt Konstellationen, zu denen das traditionelle Mindestkriterium für legitime Freiheitseinschränkungen nicht passt. Die Pflicht zur Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung zum Beispiel ist eine Freiheitsbeschränkung, für deren Rechtfertigung man nicht auf eine mit der Verweigerung der Mitgliedschaft verbundene Beeinträchtigung der Freiheit anderer verweisen kann. Um Paternalismus – also um den politischen Willen, Versicherungsverweigerer vor Folgen ihrer Entscheidung zu schützen, die aus externer Sicht als nachteilig gelten – handelt es sich aber auch nicht. Das erkennt man daran, dass nur die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung, nicht die medizinische Behandlung im Erkrankungsfall Pflicht ist. Durch eine solche Mitgliedschaftspflicht schützt die Gemeinschaft sich davor, die Verweigerer trotzdem versorgen zu müssen – nämlich aus karitativen Gründen. Sie schützt sich, mit anderen Worten, vor der Überlastung ihrer karitativen Möglichkeiten.
 
Arnd Pollmann: Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass Freiheiten beizeiten eingeschränkt werden müssen. Nicht einmal aus libertärer oder auch aus menschenrechtlicher Perspektive ergeben sich „absolute“ Freiheitsrechte, in die niemals eingegriffen werden darf. Diese Eingriffe lassen sich geradezu mit jeder x-beliebigen Ethik rechtfertigen; utilitaristisch, kantianisch, mitleidsethisch, kontraktualistisch oder auch tugendethisch. Stets geht es darum, dass auch der freie Mensch nicht allein auf dieser Welt ist. Fraglich ist jeweils nur, wie weit diese Eingriffe gehen dürfen.
 
Allerdings argumentiert auch die Gegenseite meist utilitaristisch, kantianisch, kontraktualistisch usw. Das liegt zum einen daran, dass diese ethischen Theorien – gelinde gesagt – flexibel sind. Vor allem aber hängen viele strittige Fragen von empirischen Unwägbarkeiten ab. Nehmen Sie den Ruf nach immer neuen Lockdowns: Längst mehren sich die Erkenntnisse, dass diese Politik mehr Schaden angerichtet als Leben gerettet hat. Hätte man das vorher gewusst, hätte es keine Lockdowns geben dürfen, und zwar aus Sicht schlicht jeder ethischen Theorie, die mir bekannt ist.
 
Die entscheidende Frage ist aber eine andere: Sind die geforderten Grenzen der Freiheit ihrerseits als ein vernünftiger Ausdruck jener Freiheit zu verstehen, oder bleiben sie dieser Freiheit äußerlich? Derzeit tendieren auffallend viele Philosoph:innen dazu, sich die Freiheit wie ein Grundstück vorzustellen: Man darf sich dort ungezwungen bewegen, solange man nicht über den Zaun klettert. Dort fängt ja das Grundstück der Nachbar:innen an. Der Zaun selbst aber gehört zum eigenen Grundstück; nach Art einer freiwilligen Selbstbegrenzung signalisiert er uns, wie weit wir gehen dürfen. Dieses vermeintlich von Hegel über Engels zu Lauterbach führende Freiheitsverständnis scheint mir ein wenig „zu“ vernünftig. Man muss sich nur einmal selbst fragen, in welchen Momenten man sich als Mensch besonders frei fühlt. Im Lockdown? Beim Anstehen in der Booster-Schlange? Oder eher auf Reisen, beim Tanzen oder im Rausch? In Analogie zum Glück: Wer glücklich sein will, weiß sehr wohl, dass auch andere Menschen glücklich sein wollen und dass unser Glücksstreben deshalb begrenzt werden muss. Aber diese Grenzen selbst machen uns weder glücklich noch frei. Echte Freiheit ist manchmal unvernünftig, sie tendiert zur Grenzüberschreitung – und eher nicht zur rationalen Selbstkasteiung. Und man sollte das nicht einfach staatstreu wegdefinieren.
 
Wie sollte eine Abwägung von individuellen Rechten gegen solidarischePflichten erfolgen?
 
Weyma Lübbe: „Rechte“ und „Pflichten“ sind korrelierende Begriffe: Wozu genau ein Recht (etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) eigentlich berechtigt, weiß man erst, wenn man weiß, wen es zu welchen Handlungen oder Unterlassungen verpflichtet. Deshalb sind Rechte nichts, das mit Pflichten abzuwägen wäre. Vielmehr müssen Rechte und Pflichten so konkretisiert werden, dass sie einander entsprechen – also nicht miteinander konfligieren.
 
Im Beispiel: Jedermann hat das „Recht auf Leben“ (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Damit korreliert nach herrschender Deutung unter anderem die staatliche Pflicht, das Vergiften eines Bürgers unter Strafe zu stellen, nicht aber die staatliche Pflicht, einen Bürger zu zwingen, einem anderen einen Leberlappen zu spenden, wenn der sich (wie schuldlos auch immer) durch ein Pilzgericht vergiftet hat. In diesem wie in anderen Fällen sind Solidaritätspflichten nicht parallel zu Nichtschädigungspflichten ausgestaltet. Das ändert sich auch im Sozialstaat nur punktuell, nicht grundsätzlich – auch wenn es hier mehr Kontexte gibt, in denen die Erbringung einer Hilfeleistung für eine bestimmte Person jemandes Rechtspflicht ist.
 
Dieter Birnbacher: Nicht nur Freiheitsinter-essen begrenzen die Freiheitsrechte anderer, sondern auch die Interessen an elementaren Gütern wie Subsistenz, Gesundheit. Eigentumserhalt und Sicherheit. Deshalb stehen basale Solidaritätspflichten, die Leistungen zur Sicherung dieser Güter verlangen, den Freiheitsrechten des Einzelnen gleichberechtigt gegenüber oder sind ihnen sogar vorgeordnet. In der sozialen Realität entscheidet sich die Abwägung zwischen den individuellen Abwehrrechten von A und den sozialen Anspruchsrechten von B allerdings primär danach, ob A und B derselben Gruppe angehören. Rechte auf Solidarleistungen werden zumeist nur im Rahmen einer etablierten Gemeinschaft anerkannt. Eben die Anerkennung von solchen Rechten macht eine Gruppe zu einer Gemeinschaft. Ein universalisiertes Verständnis von Solidarpflichten in der Tradition der Aufklärung, das die Gesamtheit der gegenwärtig und zukünftig Lebenden einbezieht, wie es gegenwärtig vom Effektiven Altruismus vertreten wird, bleibt vorerst eine „ideale Theorie“. Sie legitimiert sehr viel weitergehende Einschränkungen individueller Rechte, allerdings nur in den Grenzen, in denen ein Zwang zur Solidarität nicht soweit als Überforderung empfunden wird, dass der Widerstand dagegen ein schlechteres Ergebnis erwarten lässt als ein Appell an freiwillige Hilfeleistungen.
 
Arnd Pollmann: Kaum ein Begriff ist während der Corona-Krise so sehr missbraucht worden wie jener der Solidarität. Früher ging es dabei um ein gemeinsames, aber freiwilliges Bündnis zugunsten der Benachteiligten und Vulnerablen: „Die Reihen fest geschlossen!“. Heute dient der Solidaritätsbegriff vor allem dazu, sich der eigenen politisch folgsamen Bubble zu versichern, indem man trotzige Querdenkerinnen und impfunwillige Schwurbler als „asozial“ markiert. Abgesehen davon, dass sich hinter dieser Lockdown- und Impfsolidarität oft selbst nur ein phobisches Rückzugsverhalten und die Angst vor der eigenen Infektiosität verbergen: Wird aus einer vormals freiwilligen Solidarität ein unfreiwilliges oder gar erzwungenes Geben und Nehmen auf Geheiß des Kollektivs, verliert die Solidarität ihren Sinn. Dass inzwischen gar wieder der unheilvolle Begriff solidarischer „Volksgesundheit“ durch die Debatte geistert, macht mich geradezu beklommen.
 
Héctor Wittwer: Wie bereits gesagt wurde, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit ein individuelles moralisches Recht beschränkt werden darf. Erstens muss das Gut, das durch das entsprechende moralische Verbot geschützt werden soll, z. B. die Gesundheit, eindeutig wichtiger sein als das Recht, welches beschränkt wird, z. B. das Recht auf Handlungsfreiheit. Es wird Fälle geben, in denen kein Konsens darüber besteht, ob diese Bedingung erfüllt ist. Zweitens muss der Kausalzusammenhang zwischen der Handlungsweise, die verboten werden soll, und der Verletzung vorrangiger Rechte anderer hinreichend belegt sein.
 
Wie sieht dies in dem Fall einer moralischen Impfpflicht bzw. eines staatlichen angeordneten Impfzwanges angesichts der Corona-Epidemie aus?
 
Arnd Pollmann: Es gibt sehr, sehr gute Gründe, sich impfen zu lassen, weil die Impfung mich und andere weitgehend vor schweren Verläufen und der Intensivstation schützt. Aber nur, weil es vernünftig ist, sich impfen zu lassen, muss es nicht schon vernünftig sein, eine staatliche Impfpflicht einzuführen. Hier nämlich verlassen wir die Sphäre von Ethik und Moral und schränken Grund- und Menschenrechte ein. Und was vielen offenbar nicht gefällt: Aus Sicht der Grund- und Menschenrechte gibt es keine Pflichten, die man im Gegenzug zu erfüllen hätte, um in den Genuss dieser Rechte zu kommen. Es gibt auch kein entsprechendes „Recht“ des Kollektivs auf individuelle Gefolgschaft. Vielmehr darf es bei Grundrechtseingriffen immer nur um einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen jeweils individuellen Rechten gehen.
 
Genau an diesem Punkt werden wir erneut von empirischen Unwägbarkeiten eingeholt: Angesichts der aktuellen Informationslage – die Impfwirkung verblasst unerwartet rasch, selbst nach dem Boostern verbleibt ein Infektionsrisiko in beide Richtungen, es tauchen Mutationen auf – wäre eine Impflicht unverhältnismäßig und ohnehin kaum durchsetzbar. Trotzdem lässt sich rechtfertigen, dass Ungeimpfte im Alltag gewisse Nachteile haben. Denn die Gefahr, die von ihnen ausgeht, ist einfach größer.
 
Dieter Birnbacher: Dass unter den gegenwärtigen Bedingungen eine moralische Impfpflicht besteht, lässt sich schwerlich bestreiten. Begründet ist diese Pflicht primär durch die Fremdgefährdung durch Ansteckung nichtgeimpfter und (in geringerem Ausmaß) geimpfter Anderer im täglichen Kontakt und sekundär durch die stark erhöhten Ansprüche an die medizinischen Behandlungskapazitäten. Diese bringen eine moralisch erhebliche Benachteiligung von behandlungsbedürftigen Patienten mit schicksalhaft bedingten Erkrankungen mit sich und eine gravierende zusätzliche Belastung der Pflegenden und der Solidargemeinschaft. Demjenigen, der sich bewusst nicht impfen lässt, ohne sich auf medizinische Kontraindikationen, Impfmittelmangel oder unüberwindliche Zugangshemmnisse verweisen zu können, ist seine Corona-Erkrankung zumindest partiell zurechenbar. Das Bestehen einer moralischen Impflicht besagt allerdings nicht, dass es gerechtfertigt ist, Ungeimpfte bei dem Zugang zu knappen Behandlungskapazitäten zu benachteiligen. Es ist ein wichtiger und für das Vertrauen in die Medizinsysteme unentbehrlicher Grundsatz des ärztlichen Ethos, bei einer Priorisierung von Patienten ausschließlich auf die Behandlungsbedürftigkeit zu sehen und nicht auf das Vorverhalten. Ein staatlicher Impfzwang ist schwerer zu rechtfertigen. Zwar ist die Moral nicht ohne ein Element des Drucks vorzustellen: Zum Sprachspiel der Moral gehören neben Freiheiten immer auch Forderungen, und zwischen Druck und Zwang gibt es fließende Übergänge. Das ändert nichts daran, dass etwa ein regelmäßiges Bußgeld von 100 Euro für jede Woche ohne Impfung klarerweise eine Form von Zwang wäre, ebenso wie die in Singapur geltende Regelung, nach der Ungeimpfte ihre Behandlung aus eigener Tasche bezahlen müssen. Verfassungsethisch ist ein staatlicher Zwang nur als ultima ratio rechtfertigbar, d. h. wenn mildere, in diesem Fall weniger freiheitsbeschränkende Mittel ungeeignet oder deutlich weniger erfolgversprechend sind. Dieser Spielraum ist in Deutschland bisher noch nicht ausgeschöpft, etwa durch einen begrenzten Impfzwang bei Personen mit unvermeidbarer berufsbedingter Kontaktdichte.
 
Héctor Wittwer: Die Fragen nach einer moralischen und nach einer rechtlichen Impfpflicht müssen separat behandelt werden. In beiden Fällen besteht das Problem darin, dass ein Recht beschränkt werden soll, welches einen besonders hohen Stellenwert hat: das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Was zunächst die moralische Frage betrifft, so sind m. E. beide oben genannten Bedingungen erfüllt. Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, obwohl sie es könnten, erhöhen durch ihre Entscheidung signifikant das Risiko, dass unser Gesundheitssystem, die Infrastruktur, das Schulwesen oder andere Lebensbereiche zumindest teilweise überlastet werden und zusammenbrechen. Der partielle Zusammenbruch der intensivmedizinischen Versorgung würde mit großer Sicherheit dazu führen, dass nicht nur die Ungeimpften selber, sondern auch Geimpfte körperliche Schäden erleiden oder sogar sterben würden. Zweifellos haben die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und Leben Vorrang vor dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Somit ist die erste Bedingung erfüllt. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Statistiken sprechen dafür, dass auch die zweite Bedingung erfüllt ist. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass bei Ungeimpften das Risiko, sich selbst anzustecken und andere zu infizieren sowie einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden oder zu sterben, signifikant höher ist als bei Geimpften. Somit ist die Annahme, dass die freiwillig Ungeimpften den partiellen Zusammenbruch der intensivmedizinischen Versorgung und anderer Lebensbereiche zumindest billigend in Kauf nehmen, hinreichend gesichert. Deshalb können wir von allen, deren Gesundheitszustand dies zulässt, moralisch verlangen, dass sie sich impfen lassen.
 
Anders verhält es sich mit der Frage nach einer rechtlichen Impfpflicht. Nicht jede Handlungsweise, die moralisch verboten ist, sollte auch rechtlich verboten sein. Für rechtliche Verbote gelten strengere Begründungsmaßstäbe als für moralische. Dafür gibt es mehrere Gründe. (i) Rechtliche Sanktionen sind in der Regel gravierender als moralische. (ii) Wenn die Autorität des Rechts nicht untergraben werden soll, dann muss vor dem Erlass eines rechtlichen Verbots sichergestellt sein, dass seine Einhaltung kontrolliert werden kann und Verstöße sanktioniert werden können. (iii) Es muss gewährleistet sein, dass das rechtliche Verbot zweckmäßig in Bezug auf den Schutz des vorrangigen Rechtsguts ist. − Soweit ich sehe, ist derzeit weder (ii) noch (iii) erfüllt. Es gibt kein nationales Impfregister. Es ist nicht klar, wer für die Kontrolle der Einhaltung der Impfpflicht zuständig sein sollte, und schließlich kann man im Voraus auch nicht wissen, ob eine allgemeine Impfpflicht ohne Impfzwang dazu führen würde, dass sich die Impfquote signifikant erhöhte. Schließlich ist zu bedenken, dass sich die epidemische Lage beständig ändert. Z. B. kann das Auftauchen neuer Virusvarianten nicht ausgeschlossen werden. Unter diesen Bedingungen dürfte es kaum möglich sein, eine allgemeine Impfpflicht einerseits präzise genug zu formulieren und andererseits flexibel genug zu sein, um diese Pflicht an veränderte epidemische Bedingungen anzupassen. Alles in allem kann man somit sagen, dass, obwohl eine rechtliche Impfpflicht moralisch gerechtfertigt wäre, derzeit starke pragmatische Gründe gegen diese Impfpflicht sprechen. Wenn es gelänge, diese pragmatischen Bedenken auszuräumen, dann sollte man diese Rechtspflicht jedoch einführen.
 
Weyma Lübbe: Die gestellte Frage legt nahe, dass das Impfen eine Solidaritätspflicht sei. Tatsächlich scheint mir die Einordnung komplizierter. Wer das Impfen verweigert, steht in mindestens einem Punkt dem, der Hilfe in der Not verweigert, nicht gleich: Ein hilfsunwilliger Passant ist nicht gefährlicher als gar kein Passant; beim impfunwilligen Bürger kann sich das anders verhalten. Von impfunwilligen Personen geht (wie übrigens auch von nicht impfbaren Personen) ein erhöhtes Ansteckungsrisiko aus, sofern sie nicht konsequent Kontakte vermeiden oder vermeiden können.
 
Wer mit seinem Körper oder seinem Verhalten (freiwillig oder nicht, darauf kommt es hier nicht an) eine über das allgemeine Lebensrisiko hinausgehend Gefahr für andere darstellt, kann aus den traditionellen liberalen Gründen in seiner Freiheit beschränkt werden. Solidarpflichtig muss er dazu nicht sein. Mary Mallon zum Beispiel, „Typhoid Mary“ genannt, eine New Yorker Köchin zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, war dauerhaft mit dem Typhuserreger infiziert, ohne je selbst zu erkranken. Nach mehreren von ihr ausgelösten, mit Todesfällen verbundenen Krankheitsausbrüchen wurde sie in Gewahrsam genommen und schließlich in lebenslange Quarantäne verbracht.
 
Im Blick auf unsere eigene, pandemische Lage ist argumentiert worden, dass die Pflicht des liberalen Staates zum Schutz der Bürger vor Ansteckung durch infizierte Mitbürger ende, sobald es jedermann möglich sei, sich auf zumutbare Weise (nämlich durch eigene Impfung) selbst zu schützen. Mit Kontaktbeschränkungen schütze der Staat dann im Wesentlichen nur noch die Impfunwilligen voreinander. Ein sozialer Staat, der auch das Recht auf medizinische Versorgung institutionalisiert hat, kann es aber bei dem Motto „Nun schützt euch selbst, wenn ihr wollt!“ nicht belassen. Er muss notfalls auch die Freiheit zum eigenen Risiko einschränken – und das, wenn eine Impfpflicht käme, sogar mittels eines Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit.
 
Die Gründe sind im Wesentlichen dieselben, aus denen der Sozialstaat es nicht bei dem Motto „Versichert euch, wenn ihr wollt!“ belassen hat. Das hat er (siehe oben) nicht aus paternalistischen Gründen getan. Auch die Einführung einer Impfpflicht hätte nicht den Zweck, die Impfverweigerer vor sich selbst zu schützen. Vielmehr schützt sich auch hier die Gemeinschaft davor, die Verweigerer trotzdem versorgen zu müssen. Sie schützt sich vor der Überlastung der Institutionen, mit deren Hilfe sie die Caritas verrechtlicht hat.
 
Und wie sieht dies bei einer Beschränkung von Freiheitsrechten angesichts des Klimawandels aus?
 
Weyma Lübbe: Analog, soweit auch die Zusammenhänge analog sind. Mit der traditionellen Rechtfertigungsfigur der Freiheitsbeschränkung wegen drohender Beeinträchtigung der Freiheiten anderer lässt sich beim Klimawandel gut, mit dem Erfordernis des Schutzes sozialstaatlicher Institutionen zunächst weniger gut arbeiten. Das liegt auch daran, dass Nichtschädigungspflichten anerkanntermaßen über politische Grenzen hinweg reichen, während die Institutionalisierung der Caritas nach wie vor weit überwiegend als nationale Angelegenheit gilt. Aber wer weiß, wie sich das in Zukunft entwickelt. Der Klimawandel wird unsere normativen Verständigungsbemühungen vermutlich noch in ganz anderem Maße herausfordern als (aus der Zukunft zurückblickend gesprochen) das bisschen Pandemie.
 
Dieter Birnbacher: Das Bundesverfassungsgericht hat die bis dato betriebene deutsche Klimapolitik mit Berufung auf die Freiheitsrechte der heutigen Kinder und Jugendlichen als unzulänglich gerügt. Man kann allerdings bezweifeln, ob die Einhaltung der auf der Pariser Klimakonferenz eingegangenen Selbst­verpflichtungen Einschränkungen von Freiheitsrechten erfordern. Erforderlich wäre angesichts der vom Klimawandel massiv gefährdeten Menschenrechte auf der Südhalbkugel eine Neuorientierung unseres Konsumverhaltens. Während die Folgen unserer gegenwärtigen Lebensgewohnheiten in ihrer kumulativen Wirkung moralische Rechte verletzten, darunter das elementare Recht auf Subsistenz, gibt es kein auch nur gleichgewichtiges moralisches Recht auf Flugreisen, SUVs und Billigfleisch. Zwar wird die Umstellung des gegenwärtigen Lebensstils auf klimafreundlichere Alternativen hochgeschätzte Freiheiten kosten, aber keine, die moralisch in derselben Weise schützenswert sind wie die der gegenwärtigen und zukünftigen Opfer des Klimawandels. Insofern ergeben sich aus meiner Sicht beim Klimawandel keine mit den pandemiebedingten vergleichbaren Normkonflikte.
 
Héctor Wittwer: Grundsätzlich gilt hier das Gleiche wie bei der Bekämpfung der Pandemie. Allerdings sind hier die Kausalzusammenhänge noch komplexer und unüberschaubarer. Auf der anderen Seite dürften viele rechtliche Verbote, die dem Klimaschutz dienen würden, so beschaffen sein, dass sie weder das Recht auf körperliche Selbstbestimmung noch das Recht auf Gesundheit und Leben oder andere zentrale Rechte berührten. Deshalb lassen sich etwa das Verbot von Produkten, die Palmöl enthalten, wie es heute in Norwegen teilweise schon gilt, oder ein generelles Verbot von Plastiktüten moralisch ohne Weiteres begründen. Das Beispiel der Langstreckenflüge für Urlaubsfernreisen zeigt aber, dass in diesem Bereich schwierige Konflikte auftreten können. Ein Verbot solcher Flüge wäre ein so weitgehender Eingriff in die Selbstbestimmung der Einzelnen, dass er sich wohl kaum moralisch begründen ließe. Ein entsprechendes rechtliches Verbot ist in Deutschland aufgrund der festgeschriebenen Grundrechte ohnehin undenkbar. Alles in allem kann man sagen, dass Freiheitsbeschränkungen zum Zweck der Eindämmung des Klimawandels grundsätzlich moralisch gerechtfertigt sein können. Ob sie es im Einzelfall sind, lässt sich nicht generell sagen. Dies hängt von den besonderen Umständen ab, insbesondere davon, welches Recht beschränkt werden soll und wie weit diese Beschränkung reichen soll.
 
Arnd Pollmann: Aus Sicht der Grund- und Menschenrechte ist das von Beginn der Co­rona-Krise an meine größte Sorge gewesen: Was, wenn sich Menschen erst einmal an die Einschränkung ihrer Grundfreiheiten gewöhnen? Schon nach wenigen Wochen wurden Begehrlichkeiten autoritärer Klimaschützer:innen nach dem Motto laut: „Seht mal, es geht doch!“. Natürlich, es besteht auch hier enormer Handlungsbedarf. Doch auch der Klimaschutz hat grund- und menschenrechtliche Grenzen. Und was noch wichtiger ist: Ist erst einmal ein Gewöhnungseffekt eingetreten, wer sagt uns dann, dass dieser nicht auch von politisch unliebsamer Seite ausgenutzt werden kann? Nehmen wir an, eine rechtspopulistische Regierung übernimmt. Sie malt das Schreckensbild einer islamistischen Weltverschwörung, einer zerstörerischen Weltwirtschaftskrise oder einer nie dagewesenen Flüchtlingskrise an die Wand. Glaubt ernsthaft irgendwer, dass sich dann doch rasch wieder jene verschütteten Widerstandskräfte der Demokratie zeigen werden, die auf dem Bewusstsein fußen, dass die Grundrechte historische Errungenschaften sind, die dem zur Gewalt tendierenden Willkürstaat erst mühsam abgerungen werden mussten?
 
Eine der persönlich größten Enttäuschungen in dieser Krise war die politische Linientreue vieler Fachkolleg:innen. Sie lieferten lieber Rechtfertigungen für politische Willkürakte und echauffierten sich über populär agierende Mahner wie Agamben, Precht oder die von mir sehr geschätzte Kollegin Flasspöhler, als selbst einmal eingehender über eben diese Gefahr nachzudenken: Vielleich steht der Feind nicht einfach nur „rechts“, sondern überall dort, wo derzeit das Interesse des Kollektivs allzu rasch über das des Individuums gestellt und dabei übersehen wird, dass die politischen Inhalte am Ende austauschbar sind.
 
UNSERE AUTOR(INN)EN:
 
Dieter Birnbacher ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf, Weyma Lübbe ist Professorin für Philosophie an der Universität Regensburg, Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie in der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Fachhochschule Berlin, und Héctor Wittwer ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Magdeburg.
 
Die Stellungnahmen sind unabhängig voneinander per e-mail von der Redaktion erhoben worden. Die AutorInnen hatten keine Kenntnis von den Texten der anderen.