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UNTERRICHT

Angelika Krebs:
Warum wir schöne Natur brauchen

 aus: Heft 1/2022, S. 94-106
 
Im Grunde wissen wir alle, dass wir schöne Natur brauchen. Warum zieht es uns denn, zumindest bei gutem Wetter und gerade jetzt im Frühling, immer wieder nach draußen, unter den freien Himmel? Und warum im Urlaub in die Berge oder ans Meer? Und wo sollten wir hin, wenn wir schwer erkranken oder sonst einen Kummer haben?
 
Trotzdem hat Landschaft keine Lobby. Es wird verstraßt, zersiedelt, verkabelt, ausgeräumt und ausgerottet, was das Zeug hält. Und das Verlangen nach schöner Natur wird oft als rein subjektiv und als bloßer Luxus abgetan. Wer gegen Windräder, welche den Frieden und die Freiheit der Landschaft zerstören, protestiert, gilt sogar schnell als anti-grün oder als unsolidarischer Nimby (von «not in my backyard»).
 
Dem will ich hier etwas entgegensetzen. Ich will herausarbeiten, warum wir alle schöne Natur brauchen und es unerträglich ist, dass wir auf eine Welt zutreiben, in der nur noch einige Reiche und Mächtige Zugang zu den letzten Resten an intakter Natur haben. Und die vielen Anderen ihr Leben in hochtechnisierten Beton- und Agrarwüsten werden fristen müssen. Worum es mir hier also zu tun ist, ist eine Ethik der Natur, in deren Zentrum eine Ästhetik der Natur steht, und zwar für alle.
 
Der Morgen als Maler
 
Ausgehen möchte ich, wie schon in meinem Weltbild der Igel, von einer Textstelle aus Peter Kurzecks autobiographischem Roman Vorabend. Diese Textstelle entfaltet vor unseren Augen das Schaubild des kommenden Lichts an einem Sommermorgen, wenn die Sonne durch den Nebel dringt und Dorf und Tal weiß erglänzen:
Und wenn dann der Nebel weg ist und wenn man es malen wollte, das Dorf (ein Bild wird nicht reichen!), dann müßte man alles weiß malen. Weiß auf Weiß. Und höchstens noch ein paar feine hellblaue Morgenschatten, fast durchsichtig, bevor sie dann auch vergehen. Und vielleicht noch ein paar Oberdorfgäßchen, die jetzt noch blau sind, aber dann auch weiß werden. Sogar die Pflastersteine aus Blaubasalt, glänzen so, daß man sie am Ende weiß malen müßte. Der Morgen selbst ist der Maler, sagte ich. Er läßt sich Zeit und malt immer weiter. Man kann ihm zusehen dabei. Gerade jetzt ist er mit seinem Pinsel bei den Gärten im Tal. Und dann kommt der Horizont dran. Soviel Licht, sagte ich, wie soll man das aushalten? Als Kind, noch klein, vier vielleicht oder fünf. Man geht ein paar Schritte in diesen leuchtenden hellen Tag hinein. Und findet dann einen Platz zum Sitzen. Einen Platz, an dem die Welt sich gut um einen herumbewegen kann. Wie es weitergeht, wird sich finden. -(Peter Kurzeck: Vorabend. Frankfurt: Stroemfeld 2011, S. 935f.)
 
Die Passage lädt uns ein, mit der sanften, schrittweisen Enthüllung von Farben und Formen mitzugehen. Folgen wir der Einladung, dann ergehen wir uns in einer ästhetischen Betrachtung. Vielleicht spüren wir am Ende auch, wie Peter Kurzeck als Kind, die wunderbare Stimmung der Geborgenheit in einer noch jungen Welt, einem New Morning (Bob Dylans Songs sind ein Schlüssel zu Kurzecks Roman). Diese Stimmung der hoffnungsvollen Aufgehobenheit ist ein Geschenk, das nur dem zuteil wird, der sich zuvor auf die Betrachtung der Szenerie um ihrer selbst willen eingelassen hat. In der ästhetischen Betrachtung greift man nichts ab. Es geht einem nicht um irgendeinen Nutzen oder ein gutes Gefühl. Das gute Gefühl, wenn es sich denn einstellt, kommt auf dem Rücken der Hingabe an etwas Anderes. Die Hingabe gilt in unserem Beispiel nicht einem einzelnen Anderen, sondern einem größeren Ganzen aus Dorf, Himmel, Berg und Tal, einer Kulturlandschaft.
 
Eine solche landschaftsästhetische Betrachtung ist in mehrfacher Weise besonders. Zum ersten aufgrund ihres immersiven Charakters. In einer Landschaft ist man mittendrin: «in diesen leuchtenden hellen Tag hinein», «einen Platz, an dem die Welt sich gut um einen herumbewegen kann.» Man steht einer Landschaft nicht gegenüber wie einem einzelnen Baum oder einem Gemälde an der Wand.
 
Zum zweiten sind Landschaften von schier unerschöpflicher Vielfalt. Einmal hängt der Nebel oben im Dorf, ein anderes Mal unten im Tal. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Pflastersteine aus Blaubasalt nicht blau sind, wie der Name sagt, sondern weiß im glänzenden Sonnenlicht. Alles erscheint dann in «seiner eigenen unverwechselbaren Gestalt», es hat «seine eigene Aura und seinen eigenen Glanz» (Vorabend, S. 484 bzw. 758). Die ästhetische Wahrnehmung durchbricht die vom Verstand vorgegebenen, unseren Blick auf die Welt einengenden, allgemeinen Kategorien.
 
Zum dritten sind Landschaften dadurch besonders, und das ist wohl in unserer Passage am auffälligsten, dass sie in ständiger Veränderung begriffen sind: «Morgenschatten, fast durchsichtig, bevor sie dann auch vergehen», «und malt immer weiter». Auch das in diesem kurzen Text sechsmal auftauchende «dann» markiert diese Prozesshaftigkeit.
 
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