PhilosophiePhilosophie

01 2022

Angelika Krebs:
Warum wir schöne Natur brauchen

 aus: Heft 1/2022, S. 94-106
 
Im Grunde wissen wir alle, dass wir schöne Natur brauchen. Warum zieht es uns denn, zumindest bei gutem Wetter und gerade jetzt im Frühling, immer wieder nach draußen, unter den freien Himmel? Und warum im Urlaub in die Berge oder ans Meer? Und wo sollten wir hin, wenn wir schwer erkranken oder sonst einen Kummer haben?
 
Trotzdem hat Landschaft keine Lobby. Es wird verstraßt, zersiedelt, verkabelt, ausgeräumt und ausgerottet, was das Zeug hält. Und das Verlangen nach schöner Natur wird oft als rein subjektiv und als bloßer Luxus abgetan. Wer gegen Windräder, welche den Frieden und die Freiheit der Landschaft zerstören, protestiert, gilt sogar schnell als anti-grün oder als unsolidarischer Nimby (von «not in my backyard»).
 
Dem will ich hier etwas entgegensetzen. Ich will herausarbeiten, warum wir alle schöne Natur brauchen und es unerträglich ist, dass wir auf eine Welt zutreiben, in der nur noch einige Reiche und Mächtige Zugang zu den letzten Resten an intakter Natur haben. Und die vielen Anderen ihr Leben in hochtechnisierten Beton- und Agrarwüsten werden fristen müssen. Worum es mir hier also zu tun ist, ist eine Ethik der Natur, in deren Zentrum eine Ästhetik der Natur steht, und zwar für alle.
 
Der Morgen als Maler
 
Ausgehen möchte ich, wie schon in meinem Weltbild der Igel, von einer Textstelle aus Peter Kurzecks autobiographischem Roman Vorabend. Diese Textstelle entfaltet vor unseren Augen das Schaubild des kommenden Lichts an einem Sommermorgen, wenn die Sonne durch den Nebel dringt und Dorf und Tal weiß erglänzen:
Und wenn dann der Nebel weg ist und wenn man es malen wollte, das Dorf (ein Bild wird nicht reichen!), dann müßte man alles weiß malen. Weiß auf Weiß. Und höchstens noch ein paar feine hellblaue Morgenschatten, fast durchsichtig, bevor sie dann auch vergehen. Und vielleicht noch ein paar Oberdorfgäßchen, die jetzt noch blau sind, aber dann auch weiß werden. Sogar die Pflastersteine aus Blaubasalt, glänzen so, daß man sie am Ende weiß malen müßte. Der Morgen selbst ist der Maler, sagte ich. Er läßt sich Zeit und malt immer weiter. Man kann ihm zusehen dabei. Gerade jetzt ist er mit seinem Pinsel bei den Gärten im Tal. Und dann kommt der Horizont dran. Soviel Licht, sagte ich, wie soll man das aushalten? Als Kind, noch klein, vier vielleicht oder fünf. Man geht ein paar Schritte in diesen leuchtenden hellen Tag hinein. Und findet dann einen Platz zum Sitzen. Einen Platz, an dem die Welt sich gut um einen herumbewegen kann. Wie es weitergeht, wird sich finden. -(Peter Kurzeck: Vorabend. Frankfurt: Stroemfeld 2011, S. 935f.)
 
Die Passage lädt uns ein, mit der sanften, schrittweisen Enthüllung von Farben und Formen mitzugehen. Folgen wir der Einladung, dann ergehen wir uns in einer ästhetischen Betrachtung. Vielleicht spüren wir am Ende auch, wie Peter Kurzeck als Kind, die wunderbare Stimmung der Geborgenheit in einer noch jungen Welt, einem New Morning (Bob Dylans Songs sind ein Schlüssel zu Kurzecks Roman). Diese Stimmung der hoffnungsvollen Aufgehobenheit ist ein Geschenk, das nur dem zuteil wird, der sich zuvor auf die Betrachtung der Szenerie um ihrer selbst willen eingelassen hat. In der ästhetischen Betrachtung greift man nichts ab. Es geht einem nicht um irgendeinen Nutzen oder ein gutes Gefühl. Das gute Gefühl, wenn es sich denn einstellt, kommt auf dem Rücken der Hingabe an etwas Anderes. Die Hingabe gilt in unserem Beispiel nicht einem einzelnen Anderen, sondern einem größeren Ganzen aus Dorf, Himmel, Berg und Tal, einer Kulturlandschaft.
 
Eine solche landschaftsästhetische Betrachtung ist in mehrfacher Weise besonders. Zum ersten aufgrund ihres immersiven Charakters. In einer Landschaft ist man mittendrin: «in diesen leuchtenden hellen Tag hinein», «einen Platz, an dem die Welt sich gut um einen herumbewegen kann.» Man steht einer Landschaft nicht gegenüber wie einem einzelnen Baum oder einem Gemälde an der Wand.
 
Zum zweiten sind Landschaften von schier unerschöpflicher Vielfalt. Einmal hängt der Nebel oben im Dorf, ein anderes Mal unten im Tal. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Pflastersteine aus Blaubasalt nicht blau sind, wie der Name sagt, sondern weiß im glänzenden Sonnenlicht. Alles erscheint dann in «seiner eigenen unverwechselbaren Gestalt», es hat «seine eigene Aura und seinen eigenen Glanz» (Vorabend, S. 484 bzw. 758). Die ästhetische Wahrnehmung durchbricht die vom Verstand vorgegebenen, unseren Blick auf die Welt einengenden, allgemeinen Kategorien.
 
Zum dritten sind Landschaften dadurch besonders, und das ist wohl in unserer Passage am auffälligsten, dass sie in ständiger Veränderung begriffen sind: «Morgenschatten, fast durchsichtig, bevor sie dann auch vergehen», «und malt immer weiter». Auch das in diesem kurzen Text sechsmal auftauchende «dann» markiert diese Prozesshaftigkeit.
 
 
Das Bild des Morgens als Maler ist ein stimmiger Ausdruck vor allem dieser Dynamik. Jeder neue Pinselstrich verwandelt die Szenerie. Es gibt einen Film von Georges Clouzot über Pablo Picasso. Es ist ein Film fast ohne Worte. Gezeigt wird einfach nur, wie Picasso in seinem Atelier malt. Ein Strich und aus der Vase wird eine Frau und wieder ein Strich und… Kurzecks Personifikation des Morgens betont zudem, dass die ständige Veränderung keine von uns inszenierte Veranstaltung ist, keine «light show», sondern aus der Natur selbst hervorgeht.
Dass der Morgen ein Maler ist, der sich Zeit lässt, seine Farben aus einer kleinen Palette vor allem von Weiß- und Blautönen auswählt, seinen Pinsel mal hier, mal dort ansetzt, ist nur eine Metapher, eine Personifikation. Wörtlich ist das nicht gemeint. Während uns Kurzecks Roman an anderen Stellen zu moralischem Mitleid mit der geschundenen Kreatur, z. B. den Igeln am Straßenrand, aufruft, wäre es unsinnig, dem malenden Morgen in dieser Weise zu begegnen und etwa zu meinen, dass man ihn nicht hetzen sollte oder in seiner Farbwahl nicht bevormunden. Moralischer Respekt für einen Morgen, für sein Wohl, seine Autonomie, steht hier schlicht nicht zur Debatte. Es geht vielmehr um Anmutung und Ästhetik. Darum, was die Erfahrung der Schönheit der Natur mit uns macht, wie sie uns zu freudigem Verweilen einlädt und dann steht die Zeit still, wie sie uns Einsichten schenkt und dann wissen wir besser, wer wir selbst sind, wohin wir gehören und was wir der Natur schulden. In der ästhetischen Erfahrung eines in die Landschaft eingelassenen Dorfes im Morgensonnenschein spüren wir, dass wir ein Teil der Erde sind und keine Fremdlinge, die sich nur für eine kurze Zeit auf ihrer Kruste unruhig hin und her bewegen.
 
Stimmung
 
Bei unserer zarten, lichten Morgenstimmung handelt es sich nicht einfach nur um ein angenehmes Körper- oder Vitalgefühl, also dass man sich, wenn man frisch ausgeschlafen ist und die Sonne scheint, hell und leicht fühlt. Das spielt zwar auch eine Rolle und wird die eigene Haltung gegenüber der Welt beeinflussen. Doch die Morgenstimmung hat auch unabhängig davon eine inhaltliche Bedeutung, was man u. a. daran erkennen kann, dass man sie auch in unausgeschlafenem oder verzweifeltem Zustand (also in einer sogenannten inkongruenten Stimmung) durchaus identifizieren kann. Einerseits bedeutet die Morgenstimmung Neuanfang, die Wiederentdeckung der Welt, das Staunen über ihre Vielfalt, die Dankbarkeit für das Wunder des Lebens. Andererseits kann sich das Ich in dieser Morgenwelt aufgehoben fühlen, sich selbst als Teil des Wunders des Lebens begreifen und spüren, dass es «auch zur eigenen Freude auf der Welt» ist, wie es in Kurzecks Hörbuch Mein wildes Herz heißt. Das Ich kann Kontrolle und Verfügung fahren lassen und sorglos, zuversichtlich, mit Hoffnung und Gottvertrauen in den kommenden Tag schauen: «Wie es weitergeht, wird sich finden.»
 
Der inhaltliche Bezug der Morgenstimmung ist kein konkreter wie bei Emotionen, die auf etwas Bestimmtes in der Welt gerichtet sind. Die Unterscheidung zwischen körperlichen Empfindungen, Stimmungen und Emotionen ist wie viele philosophische Unterscheidungen fließend. So ist es typisch, dass Emotionen zu Stimmungen «auslaufen» und umgekehrt sich Stimmungen zu Emotionen zusammenziehen. Ein uns allen vertrautes Beispiel für Letzteres dürfte es sein, dass man morgens gereizt aufwacht, vielleicht hat man einen Kater, und im Laufe des Tages etwas Konkretes findet, über das man sich ärgern kann. Dass es sich bei der Morgenstimmung um einen Paradefall von Stimmung handelt, ergibt sich auch aus der Verwendung allgemeiner Ausdrücke, wie «alles», «immer» und «Welt».
 
Die Philosophie der Stimmungen unterscheidet zwischen Grundstimmungen (wie unserer Morgenstimmung) und wechselnden Stimmungen oder Launen (wie einer Katerstimmung). Im Alltag assoziiert man mit «Stimmungen» oder im Englischen «moods» oft nur Launen. Dabei sind Grundstimmungen, wie Martin Heidegger und in seinem Gefolge Otto Friedrich Bollnow herausstreichen, ungleich wichtiger. Mit ihrem basalen, integrierenden Charakter entsprechen sie, wenn sie denn angemessen sind, der Vernunft – wobei «entsprechen» noch zu schwach ist, denn Grundstimmungen machen, neben «kalten» ganzheitlich abwägenden Urteilen, die Vernunft mit aus. Im Unterschied zum eindimensionalen Verstand ist die Vernunft ein Vermögen, welches bestrebt ist, inhaltliche wie formale Einseitigkeiten aller Art zu überwinden und zu einer gut begründeten Gesamtansicht zu gelangen. Grundstimmungen ermöglichen mit ihrer basalen, integrativen Sicht «warme» ganzheitlich abwägende Urteile. Als solche können sie uns ganzheitlich im Leben orientieren und erden.
 
Eine Frage, welche die Philosophie der Stimmungen seit jeher umgetrieben hat und welche auch unsere Kurzeck-Passage aufwirft, ist die Frage nach dem Ort der Stimmung. Wo ist sie: draußen in der Welt oder drinnen im Subjekt? Man will sagen: Sie ist in beidem, die Stimmung durchzieht und verbindet beides. Ohne Subjekte gäbe es keine hoffnungsvollen Morgenlandschaften. Und ohne diese Morgenlandschaften gäbe es keine Subjekte voller Weltvertrauen. Oder ist das zu stark? Wir werden sehen.
 
Jedenfalls ist die Morgenstimmung nicht nur im Subjekt. Das wäre sie, wenn sie lediglich eine der Spielarten der egofokussierten Übertragung oder Projektion wäre. Es ist aber nicht so, dass sich der junge Kurzeck über irgendetwas gefreut hat und seine gute Laune nur auf die Natur überträgt. Es ist auch nicht so, dass der Morgen einfach kausal mit seiner Licht-energie eine gute Laune bewirkt, welche Kurzeck dann auf die Morgenlandschaft projiziert. Es ist vielmehr so, dass die Morgenstimmung dem jungen Kurzeck aus der Landschaft entgegenkommt. Die Morgenlandschaft selbst hat eine Anmutung von Neubeginn und Hoffnung. Diese Anmutung erschließt sich auch jedem, der sich auf ihre «altrofokussierte» Betrachtung einlässt. Würde jemand sagen, das ist aber bedrückend hier, es macht mir Angst, dann würden wir uns um ihn Sorgen machen müssen. Weil es die morgendliche Landschaft selbst ist, die einen anmutet, ist die Stimmung sicher auch draußen. Aber sie ist nicht einfach nur draußen, denn ohne Subjekte gäbe es sie nicht. Die Anmutung ist eine Qualität, die sich nur Subjekten erschließt, welche sich für ihre intrinsische Betrachtung öffnen. Wir könnten diese Qualität in Anlehnung an John Lockes primäre und sekundäre Qualitäten «tertiär» nennen. Wir könnten auch von «atmosphärisch» sprechen und terminologisch «Stimmung» als Befindlichkeit von Subjekten von (objektiver) «Atmosphäre» unterscheiden. Letztere bezeichnete dann die Anmutung von Entitäten, die wie morgendliche Landschaften selbst keine Subjekte sind. Es ist eine Eigenheit der deutschen Sprache, im Unterschied zum Englischen oder Französischen, dass ein und dasselbe Wort «Stimmung» sowohl (subjektive) Befindlichkeit als auch (objektive) Atmosphäre bezeichnet.
 
Nicht nur Landschaften, auch Bau- und Kunstwerke haben objektive Atmosphären, ohne selbst Subjekte zu sein. Steine und Leinwände können genauso wenig etwas empfinden wie Landschaften. Im Fall von Architektur und Kunst bietet es sich allerdings an zu denken, dass diejenigen Subjekte, welche die Gebäude oder die Gemälde geschaffen haben, für deren Atmosphären verantwortlich sind, indem sie sie bewusst oder unbewusst in sie hineingelegt haben, um uns etwas zu bedeuten.
 
Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann könnte Natur nur dann atmosphärisch sein, wenn es jemanden gibt, der diese Atmosphären zuvor in sie hineingelegt hat. Religiöse Menschen mögen glauben, dass Gott dafür verantwortlich ist und uns mit dem Morgen nach der Nacht oder dem Frühling nach dem Winter etwas bedeuten will. Wir wollen hier aber versuchen, ohne Gott auszukommen. Denn auch nichtreligiöse Menschen sind für die Atmosphären der Natur empfänglich. Überhaupt scheint die Freude an der aufgehenden Sonne oder am Frühling etwas sehr Einfaches zu sein, das allen Menschen, unabhängig von ihrem Glauben, offensteht und leichtfällt. Leichter als die Wertschätzung von Architektur und Kunst, wozu man in der Regel einiges an Wissen und Übung mitbringen muss. Nicht dass ein gewisses Maß an naturgeschichtlichem Wissen die Naturbetrachtung nicht befördern würde. Doch es geht auch ohne.
 
Wie aber kommt Atmosphäre und Bedeutung dann in die Natur? Wie wird aus dem hellen Morgen ein hoffnungsvoller? Haben wir es dabei doch mit einem religiösen oder zumindest künstlerischen Restbestand zu tun? Hat die Natur nur deswegen Atmosphäre, weil vorher, wenn nicht Gott selbst, dann die Künstlerinnen und Künstler sie in sie hineingelegt haben? Dann hätte die Kunst die Natur für uns verzaubert. Wir sähen atmosphärische Natur nur durch das Auge der Kunst.
 
Die Gemälde, z. B. des Impressionismus, haben gewiss unser Bild der Natur geprägt. Gehen wir durch die Säle eines kunsthistorischen Museums oder blättern wir in Kenneth Clarks Klassiker Landschaft wird Kunst, dann merken wir, wie sehr sich der künstlerische Blick auf die Natur mit den Jahrhunderten ändert und wie vertrauter uns die dargestellten Landschaften werden, je näher wir an die Gegenwart herankommen. Das hat die Kunstgeschichte zur steilen These verleitet, dass Landschaften in der Natur erst mit der Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert «erfunden» wurden! Das scheint allerdings überzogen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Menschen nicht seit eh und je hoffnungsvolle Morgen-, versöhnliche Abend- und drohende Gewitterstimmungen erlebt haben, sowie liebliche Täler und stolze Berge.
 
Landschaft
 
Landschaften sind größere Einheiten in der Natur, welche von einer Atmosphäre, einer Anmutung, einem Charakter durchdrungen sind und dadurch zusammengehalten werden. Atmosphäre, so könnten wir es auch formulieren, ist das «Einheitsprinzip» von Landschaften. Wie bei menschlichen Stimmungen auch, lassen sich bei Landschaften anhaltende Atmosphären, aufbauend auf der Physiognomie, dem Klima und der Geschichte einer Landschaft, unterscheiden von transitorischen Atmosphären, die vom Wetter, der Jahres- und Tageszeit herrühren. Der Landschaftsbegriff bezieht sich wie der Naturbegriff selbstredend nicht nur oder vor allem auf unberührte Natur. Die Landschaft in unserer Eingangspassage ist auch keine unberührte, sondern eine Kulturlandschaft. Wenn die Grundatmosphäre einer Landschaft nicht nur verändert, sondern regelrecht zerstört wird, sei es von der Natur selbst durch eine Naturkatastrophe oder von uns durch den Bau einer Autobahn oder einer Windkraftanlage, dann zerfällt damit auch die Landschaft in eine Heterogenität und ist keine Landschaft mehr.
 
Eine Landschaft konstituiert sich also durch ihre Atmosphäre. Wie aber kommt die Atmo-sphäre in die Natur? Vielleicht so, dass jeder Mensch, wenn er nicht gerade am Verhungern oder Erfrieren ist, sondern die Zeit und die Kraft hat, sich auf die Betrachtung seiner Umgebung einzulassen, mit seiner Vorstellungskraft Dinge in die Natur hineinsehen kann. Ein simples Beispiel sind die Figuren, die wir als Kinder in den Wolken ausmachen. Was man da sieht, ist nicht willkürlich, rein subjektiv, bloße Projektion. Andere können es auch sehen, wenn man es ihnen zeigt. Es ist aber auch nicht so, dass man tatsächlich glaubt, dass da oben eine auf ihrem Pferd reitet. Es sieht nur so aus als ob. Man sieht mit sogenannter doppelter Intentionalität einerseits die Wolke und andererseits die Reiterin auf ihrem Pferd, indem man die Reiterin auf ihrem Pferd in der Wolke sieht. Und diese Beschreibung trifft das, was man da sieht, besser, als würde man sich auf primäre und sekundäre Qualitäten, etwa geometrische Daten, beschränken. Solche tertiären Wolken-Beschreibungen mögen treffend sein, doch sie sind nicht sonderlich bedeutsam oder aufschlussreich.
 
Anders gelagert ist es, wenn wir im Kommen und Gehen des Lebens in der Natur, im Zyklus ihrer Tages- und Jahreszeiten, ein Sinnbild für unser eigenes Leben sehen. Diese symbolische Naturbetrachtung kann von beträchtlicher Tiefe sein, gerade in Zeiten, in denen wir wie heute naturfern leben. Wir sitzen stundenlang vor unseren Computern und sperren das Tageslicht aus, damit man besser erkennen kann, was auf dem Bildschirm ist. Wir leben in klimatisierten Räumen, da man im Sommer in der versiegelten Großstadt die Hitze nicht mehr erträgt. Selbst im Frühling, wenn einen das blühende Grün förmlich hinauszieht in die Natur, bleiben wir immer öfter in den eigenen vier Wänden, sei es, weil wir, wie inzwischen fast jeder Vierte in unseren Breiten, unter Heuschnupfen leiden und allergisch reagieren auf die durch Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung immer aggressiveren Pollen, oder sei es, weil wir wegen eines globalisierten, hochansteckenden Virus unter Hausarrest stehen. Der vor allem in der Stadt ubiquitäre Straßen- und Baustellenlärm ist ohnehin und das ganze Jahr über schwer zu ertragen. Und wenn wir unbedingt hinausmüssen, dann fahren wir im eigenen Auto herum, das uns wiederum von der Umgebung abschottet. Wir leben also in einer durch und durch künstlichen Umgebung, die uns vergessen lassen kann, dass wir selbst keine Maschinen sind, sondern Lebewesen in der Natur.
 
Raffen wir uns dann doch einmal auf und gehen hinaus in die Natur, dann kann es gut sein, dass wir nicht einfach das helle Licht am Morgen sehen oder die warme Luft im Frühling spüren, sondern der Morgen nach dem Dunkel der Nacht und der Frühling nach der Kälte des Winters uns als Inbegriff des Auf und Ab unseres eigenen Lebens erscheinen. Natürlich wissen wir Bescheid über Morgen und Nacht, Frühling und Winter, Auf und Ab. In der naturästhetischen Erfahrung spüren wir es aber mit unserem ganzen Wesen und können aus der Tiefe dieser Erfahrung schöpfen. Was Kurzeck in seiner Literatur aufruft, ist freilich ungleich feiner und vielschichtiger und gibt mehr zu denken und zu fühlen als die eben angeführten Beispiele von der Reiterin mit ihrem Pferd in den Wolken oder von Morgen- und Frühlingsgefühlen.
 
Wie lautet also die Antwort auf die Frage, wie Atmosphäre in die Natur kommt? Sie lautet ähnlich wie schon bei Georg Simmel in seiner «Philosophie der Landschaft»: Atmosphäre kommt dadurch in die Natur, dass wir sie selbst hineinlegen. Wie Künstler es tun, wenn sie mit Pinsel und Farbe auf der Leinwand etwas materiell Konkretes entstehen lassen, das in seiner Bedeutung über sich hinausweist. Nur dass wir keine materiellen Kunstwerke schaffen. Wir «sehen» nur anders, wir sehen die Natur symbolisch. Wenn wir sie so sehen, dann «spricht» sie zu uns. Sie spricht zugleich von sich und von uns. Sie ist wie ein offenes Buch, in dem wir lesen. Mit Aberglaube hat das nichts zu tun, auch nicht mit Religion.
 
Atmosphäre ist also «nur» im metaphorischen Sinne in der Natur. Sie offenbart sich, wenn wir die Natur durch das metaphorische Prisma des menschlichen Lebens, von menschlichen Bedeutungen und Werten betrachten. Doch ohne diese metaphorische Erfahrung der Natur wäre unsere Welt ärmer. Sie enthielte z. B. keine Landschaften, da Landschaften als größere Einheiten in der Natur durch Atmosphären konstituiert sind. Eine reiche menschliche Welt verlangt die metaphorische Personifikation der Natur. Anders gesagt, ist die Personifikation der Natur eine notwendige Metapher in der ästhetischen Wahrnehmung.
 
Ästhetische Resonanz
 
Die ästhetische Erfahrung der Natur wendet sich der Natur um ihrer selbst willen zu, d. h., sie will nichts von der Natur. Die Natur ist ihr kein Mittel zum Zweck, wie das in einer zweckrationalen Naturwahrnehmung der Fall wäre, wenn man etwa versucht, die Augen vom langen Starren auf den Bildschirm oder den Körper vom langen Sitzen bei einem Spaziergang draußen zu entspannen und zu erfrischen. Es ist vielmehr so, dass schöne Natur eine Faszination auf uns ausübt und uns dazu aufruft, sie eingehend zu betrachten. Unsere Textstelle vom Morgen als Maler führt diese Funktionsweise ästhetischer Wahrnehmung exemplarisch vor: Kurzeck lässt sich ohne besondere Absichten ganz auf das frühmorgendliche Schauspiel ein. Anders ausgedrückt liegt das Ziel oder der Zweck seiner Wahrnehmung in der Betrachtung selbst.
 
Im Grunde kann man alles um seiner selbst willen betrachten. Man kann sich sogar in das Farbenspiel einer Ampel versenken, statt auf ihre Rolle bei der Verkehrsregelung zu achten. Doch es gibt Objekte, die besonders zur intrinsischen Wahrnehmung einladen, wie ein Lied, ein Gedicht, ein Bild, eine Blume, das Meer oder eine Gebirgslandschaft. Diese Objekte berühren uns, sie regen uns an, viel zu fühlen und zu denken. Wir erfahren sie als symbolisch reich. Wenn wir etwas «schön» nennen, heben wir damit wohl vor allem auf diese zwei Faktoren ab: das Selbstzweckhafte der Betrachtung und den symbolischen Reichtum.
 
Das ist gut kantisch gedacht. Kant spricht in seiner Ästhetik von «interesselosem Wohlgefallen» und der Anregung der Erkenntniskräfte, Einbildungskraft und Verstand, zu einem freien Spiel. Dabei liefere die Einbildungskraft pralle sinnliche Eindrücke, welche der Verstand vergeblich versuche, auf den Begriff zu bringen. Je prägnanter die Eindrücke, desto mehr Schwung habe das Spiel. Mit dem Hinweis auf das Wohlgefallen macht Kant deutlich, dass auch das Gefühl als ein dritter Faktor neben Selbstzweckhaftigkeit und symbolischer Kraft zur ästhetischen Wahrnehmung mit dazu gehört. Ästhetische Wahrnehmung ist nicht «kalt». Was aber fühlen wir, wenn wir uns etwas Schönem zuwenden? Ist es Freude über das Objekt oder am freien Spiel oder noch mehr? Kurzeck freut sich nicht einfach über die schöne Morgenstimmung, es macht ihm auch nicht nur Spaß, sie genau zu betrachten – er «teilt» die Morgenstimmung, wie ich sagen will. Nicht nur drückt die Morgenweltbewegung einen Neuanfang und Leichtigkeit aus, auch Kurzeck selbst wird gelassen, leicht und hoffnungsvoll. Wir kennen dieses Phänomen vielleicht besonders gut vom Musikhören. Dabei spüren wir dem Ausdruck der Musik nach und gehen affektiv mit. Aber auch in Romanen fühlen wir uns oft in die Personen oder Tiere ein und teilen ihr Leben. Es entsteht dann ein Gefühl des gemeinsamen Schwingens und Seins, keine Verschmelzung zwar, aber perfekte sympathetische Koordination, so wie beim Miteinander-Tanzen (einschlägig für die Unterscheidung zwischen Verschmelzung und anderen Formen des Mitfühlens sind die ersten 40 Seiten aus Max Schelers Wesen und Formen der Sympathie).
 
Um die emotionale Seite ästhetischer Erfahrung zu betonen, will ich von ästhetischer «Resonanz» sprechen. Der Resonanzbegriff stammt aus der Physik. Physikalische Resonanz tritt auf, wenn ein Körper mit einem anderen von einer ähnlichen natürlichen Frequenz mitvibriert. Ein Beispiel ist das Anklingen der G- und D-Seite einer Geige auf einen G-Dur-Akkord auf dem Klavier hin. Ein anderes, berühmtes Beispiel (in diesem Fall sich aufschaukelnder Resonanz) ist der Einsturz einer Brücke durch die Schritte der auf ihr marschierenden Soldaten. Die Metapher der Resonanz trifft die affektive Phänomenologie ästhetischer Erfahrung besser als die zu kalten, aber gebräuchlicheren Begriffe der ästhetischen «Kontemplation» oder «Betrachtung». Kant betont zwar mit seinem interesselosen «Wohlgefallen» auch das Lustvolle der ästhetischen Tätigkeit. Doch bei ihm ist dies nur die Freude am freien Spiel der Erkenntniskräfte. Heutzutage nennt man derlei aktive Lust gerne «flow» (nach einem psychologischen Bestseller von Mihály Csíkszentmihá-lyi). Diese Lust entsteht auf dem Rücken, als Nebenprodukt oder Geschenk aller intrinsischen Tätigkeiten, nicht nur der ästhetischen Betrachtung. Kants interesseloses Wohlgefallen ist somit eine Unterart von «flow». Ein emotionales Mitgehen und Mitschwingen ist in Kants Ästhetik jedoch nicht vorgesehen. In diesem Punkt gehe ich also über Kant hinaus. Ich könnte, um dies zu markieren, mit dem englischen Ästhetiker Roger Scruton von einem «freien Spiel der Sympathie» sprechen.
 
Ästhetische Resonanz darf nicht mit physiologischen oder psychologischen Effekten verwechselt werden. Wenn wir nach einem Tag in der Kälte in ein warmes Bad steigen, empfinden wir Wohlbehagen und scheinen mit dem Wasser zu verschmelzen. Dahinter steckt allerdings ein kausaler Mechanismus. Anders als «passives» Wohlbehagen ist ästhetische Resonanz kein kausales Phänomen, sie setzt einen intentionalen Akt voraus: Wir richten unsere Wahrnehmung, unser sympathetisches Mitfühlungsvermögen und unsere Phantasie aktiv auf ein Objekt. Kurzeck ist am Sommermorgen nicht einfach bloß hingerissen von der Szenerie, sondern widmet sich offen, innig und aktiv all den Einzelheiten und Besonderheiten und lässt seine Vorstellungskraft spielen, indem er den so treffenden, personifizierenden Ausdruck des Morgens als Maler findet.
 
Anders als bei kausalen Phänomenen können wir zudem Gründe dafür angeben, warum wir etwas besonders schön finden. Wie Ludwig Wittgenstein in seinen Vorlesungen zur Ästhetik bemerkt, stellt sich bei ästhetischen Reaktionen die Frage nach dem «Warum» und nicht die Frage nach der Ursache. Niemand fragt, warum sich warmes Badewasser gut anfühlt. Das ist einfach so und zwar bei uns allen. Warum ein Buch oder ein Streichquartett oder ein Tal schöner sein soll als ein anderes, dazu gibt es dagegen viel zu sagen und mehr noch zu zeigen. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem «Ansinnen», einem Appell an unseren «Gemeinsinn». Die Feuilletons unserer Zeitungen sind voller solcher Appelle. Die Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaften hätten auch kaum eine Existenzberechtigung, wenn sie nicht unseren Sinn für Schönheit weiterentwickelten. Schönheit mag im Auge des Betrachters liegen, aber je nachdem, wie geschult dieses Auge ist, sieht es die Schönheit besser als ein anderes. Schönheit ist nicht subjektiv.
 
Mit einem geschulten Auge empfindet man auch nicht einfach mehr Freude im Leben, sondern es gehen einem Wahrheiten auf, derer man auf anderem Wege nicht habhaft werden kann. In der naturästhetischen Erfahrung sind das vor allem Wahrheiten über den Teil unseres Lebens, der einen Widerfahrnischarakter hat: Geburt und Tod, Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit. In unserer immer künstlicheren Welt verlieren wir sukzessive den Sinn dafür, wie viel an unserem Leben trotz allem noch Widerfahrnis ist und wie man damit am besten umgeht. Für ein gutes menschliches Leben ist die naturästhetische Erfahrung daher keine bloße Bereicherung, schon gar nicht reiner Luxus. Sie ist vielmehr notwendig.
 
Die Personifikation der Natur ist also nicht nur deswegen notwendig, weil sie Teil der Phänomenologie der ästhetischen Naturerfahrung ist. Sie ist auch deshalb notwendig, weil naturästhetische Resonanz zu einem guten menschlichen Leben dazugehört. Auch Hartmut Rosa spricht von «Resonanz». Anders als Rosa betone ich jedoch, um nicht in schlechte Metaphysik abzugleiten, den metaphorischen Charakter der Stimme der Natur.
 
In der Natur Wohnen
 
Aber kann man so eine Erfahrung des Staunens, des Mitschwingens und der Aufgehobenheit in der Welt, der Ruhe, des Angekommenseins und der Gelassenheit wirklich nur in schönen Landschaften machen? Können wir dasselbe oder ganz ähnliches nicht auch bei der Betrachtung schöner Architektur, sagen wir, einer Kathedrale, erleben? Auch eine Kathedrale ist riesengroß, stehe ich in ihr, umgibt sie mich. Auch Kathedralen haben ihre eigene Atmosphäre, auch in ihnen gibt es unendlich viele Elemente zu betrachten. Kathedralen können alt sein wie Landschaften und uns eine Geschichte erzählen. Auch in ihnen können wir uns geborgen fühlen, d. h., auch schöne Gebäude beheimaten uns in der Welt.
 
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Gebäude sind Artefakte, sie sind durch Menschenhand entstanden und nicht, wie die Natur, von selbst geworden. Schöne Architektur kann uns wie schöne Natur in der Welt beheimaten, aber es ist die menschliche, menschgemachte Welt, als deren Teil wir uns begreifen, wenn wir mit schönen Gebäuden resonieren. In schönen Landschaften dagegen erleben wir die Nähe und unsere Zugehörigkeit zur natürlichen Welt, zur Natur, die von selbst wird, ist und wieder vergeht – so wie wir letztendlich auch. Es gehen uns Wahrheiten über das Leben selbst und die Naturseite unserer eigenen Existenz auf. Schöne Landschaften sind also vor allem deshalb unersetzbar, weil sie unsere bewusste oder unbewusste Sehnsucht danach erfüllen, ein Teil des Ganzen der Natur zu sein und nicht entfremdet von ihr zu leben. Schöne Landschaften heilen den Riss, überbrücken die Kluft zwischen dem Subjekt und dem Objekt, sei dieses Objekt die Natur da draußen oder die Natur in uns. In Harmonie mit der Natur leben ist nicht nur eine Option des guten menschlichen Lebens, sondern, noch einmal, ein notwendiger Teil dessen.
 
Gäbe es keine schönen Landschaften mehr, verlören wir nicht nur Orte, in denen wir Entspannung finden, die uns aus unserem Alltagsstress, aus unserer zweckrational ausgerichteten und durchgetakteten Welt herausführen und eine andere Perspektive auf diese gewinnen lassen können. Es ändert sich vielmehr durch diesen ja schon weit fortgeschrittenen Landschaftsverlust auch unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst, zu dem, was an uns Natur ist, zu unserem eigenen Leib. In schönen Landschaften lernen wir auf der Erde und in unserem Körper zu «wohnen», wie es in dem berühmten Aufsatz von Martin Heidegger «Bauen, Wohnen, Denken» heißt. Schöne Landschaften geben uns einen «sense of place» und lassen uns ihn ehren. Sie laden uns dazu ein, irgendwo Wurzeln zu schlagen, uns mit diesem Ort zu identifizieren und für ihn, als unsere besondere Heimat, Sorge zu tragen.
 
Das Wohnen-Können in der Natur ist etwas, das einem jedem Menschen zusteht und nicht nur einigen Privilegierten vorbehalten sein darf. An dieser Stelle trifft sich Ästhetik nun doch direkt mit Moral. Der Erhalt einer Natur, die zu ästhetischer Resonanz einlädt, ist allen Menschen moralisch geschuldet. Die Ästhetik der Natur hat politische Sprengkraft in einer Welt, welche die Natur pragmatisch zurichtet und ihre Schönheit mit Füßen tritt.
 
NEUE LITERATUR
 
Naturästhetik
 
Wer spürt nicht, dass ihr oder ihm die Schönheit der Natur guttut? Doch wer fragt, warum das so ist und was es mit dieser Schönheit oder Erhabenheit auf sich hat, der wird von der Philosophie im Stich gelassen. Weder die Ethik noch die Ästhetik behandeln die Frage nach der Schönheit der Natur. Dieses Feld wird seit Jahrzehnten nicht mehr bestellt. Es ist nahezu verwaist. Die Menschen werden mit ihrer Resonanzerfahrung und der Angst, dass die Natur um sie herum bald ganz verschwindet, von der Philosophie allein gelassen.
 
Die in Basel lehrende Philosophin Angelika Krebs nähert sich zusammen mit ihren Mit-autorInnen Stephanie Schuster, Alexander Fischer und Jan Müller in ihrem Buch
 
Krebs, Angelika: Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders. 242 S., kt., € 28.00, Schwabe, Basel
 
dem Thema auf eine originelle Weise: Sie setzt nicht nur auf Philosophie, sondern auch auf Literatur, und das Buch wechselt zwischen literarischen Passagen und solchen theoretischer Natur. Angelika Krebs hat lange gesucht, bis sie einen zeitgenössischen Schriftsteller fand, der ihrem Anliegen literarisch entgegenkommt. Fündig wurde sie bei Peter Kurzeck und seinem 2011 erschienenen Roman Vorabend. Dieser Roman feiert die ästhetische Resonanz des Menschen mit der Natur und enthält dichterische Passagen von großer Leuchtkraft, die die philosophischen Gedanken ideal ergänzen. Jedes Kapitel des Igel-Buches beginnt mit einer Passage aus dem Roman. Oft bleibt es aber nicht nur bei dieser einen Textstelle, sondern sie wird mit Bild und Ton angereichert. Außerdem findet man Gemälde und Fotografien, es hat Audiolinks und Transkriptionen.
 
Das Buch setzt an bei der konkreten menschlichen Naturerfahrung und ihrer literarischen Evokation und bewegt sich dann mithilfe philosophischer Unterscheidungen und Begründungen auf einer mittleren Ebene zwischen spezifischer Erfahrung und theoretischer Reflexion. Es steht damit zwischen Lebenswelt und Wissenschaft, zwischen Literatur und Philosophie sowie zwischen einer Vielzahl von internen Fachrichtungen und Theorien. Es legt den Fokus auf die Schönheit der Natur und positioniert sich inhaltlich zwischen Anthropozentrik und Ökozentrik. Die Anthropozentrik verteidigt das Recht des Menschen, die Natur nach Belieben zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ganz anders in der ökozentrischen Sichtweise: Hier kommt der Natur ein Eigenwert, etwas beinahe Göttliches zu und die Anthropozentrik wird als Sündenfall des Menschen gesehen. Umgekehrt hält die An-thropozentrik die steilen ökozentrischen Thesen für unbegründbar und sieht dahinter Esoterik und Dogmatik, bis hin zu Ökofaschismus. Angelika Krebs ist davon überzeugt, dass die Naturästhetik zwischen diesen beiden Extremen vermitteln kann. Die Naturwissenschaft hat die Natur „entzaubert“ und unsere Welt „trostlos“ gemacht, aber nur, wenn wir ihr einen Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit zuerkennen und unser Weltbild szientistisch an ihr ausrichten. Die Naturästhetik sieht in der Natur ein Gegenüber, das einem zu fühlen und zu denken gibt und dem man selbst etwas schuldet. Auch in der ästhetischen Erfahrung der Natur eröffnet sich Welt und Wahrheit. Damit sind wir bei einem dritten Weg, den Angelika Krebs „ästhetische Ökozentrik“ nennt.
 
Das Buch beginnt in einem Prolog mit einem fiktiven Gespräch zwischen Angelika Krebs und dem ein paar Jahre vor der Veröffentlichung des Buches verstorbenen Autor Peter Kurzeck. Das erste Kapitel berichtet nach einer Kurzeck-Passage von dem herzzerreißenden Los von fünf Igeln, welche auf dem Weg zum Winterschlaf vergeblich versuchen, eine stark befahrene Straße zu überqueren. Das Kapitel verficht den moralischen Status der Igel und stützt sich dabei auf lebensweltliche Gewissheiten, wie die, dass großes Leid Mitleid und Abhilfe verdient. Es tritt ein für emotionale und literarische Prägnanz als notwendige Ergänzung von wissenschaftlicher Präzision und rechtfertigt auf dieser Basis die Personifikation der Igel. Dabei referiert das Kapitel auf die erkenntnistheoretischen Arbeiten von Gottfried Gabriel.
 
Das zweite Kapitel hebt an mit der Evokation einer wunderschönen Morgenstimmung: Wie die Sonne langsam durch den weißen Nebel dringt und Dorf und Tal nach und nach hoffnungsvoll aufleuchten. Wie Landschaft und Stimmung zusammenhängen, wird anhand des inspirierenden ästhetischen Ansatzes von Roger Scruton entwickelt. Das nächste Kapitel thematisiert die spirituelle Dimension unseres Verhältnisses zur Natur und begreift unter Rückgriff auf das Werk Religion von Hans Julius Schneider die spirituelle Naturerfahrung als eine Facette der ästhetischen Naturerfahrung. Es macht sich dafür stark, dass wir über die Schönheit der Natur zu einer spirituellen oder religiösen Haltung zu unserem Leben gelangen können.
 
Das vierte Kapitel beginnt mit einer Kurzeck-Passage, die die Verwandlung eines lieblichen Tales durch den Bau einer Autobahn zeigt und geht dann dem oft als nostalgisch abgetanen Bedürfnis des Menschen nach Beheimatung in der Landschaft nach. Dafür macht es den Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ von Jean Améry fruchtbar. Das letzte Kapitel kritisiert unseren Konsumwahn und die private wie unternehmerische Gewinnmacherei auf Kosten der Natur und greift dabei auf den kapitalismuskritischen Ansatz zur politischen Ökonomie von Friedrich Kambartel zurück.
 
Das Buch ist so verfasst, dass es nicht nur im Ethik- und Philosophieunterricht, sondern auch in der Philosophischen Praxis Verwendung finden kann.