PhilosophiePhilosophie

02 2022

Michael Hampe:
Abschied von großen Worten. Über Illusionen der Aufklärung

aus: Heft 2/2022, S. 10-20
 
 
Philosophie und Öffentlichkeit

 Man kann Philosophie als ein Unternehmen verstehen, das ursprünglich und vor allem als eine Intervention in menschliche Verhältnisse gedacht war, nicht als eine religiöse oder politische, erst recht nicht eine militärische, sondern als eine Intervention sui generis. Sokrates’ Befragungen der Überzeugungen seiner Mitmenschen war eine Intervention im Athen seiner Zeit. Und seine Aktivitäten waren nicht gelegentliche „reach outs“ eines Akademikers, der Sokrates ja nicht war, sondern seine „eigentliche Tätigkeit“.

 Dass das menschliche Leben nicht durch Konventionen, religiöse Dogmen oder politische Vorschriften bestimmt sein muss, sondern – so kann man die Absicht der Sokratischen Tätigkeit zusammenfassen – vor allem durch ein gemeinschaftliches Nachdenken, ist selbst als eine Initialzündung aufgeklärter Philosophie deutbar, einer Philosophie, der auch eine ihr entsprechende „Lebensform“ vorschwebte: die einer Gemeinschaft von frei sich miteinander Verständigenden über das, was man sich im Leben vornehmen solle, wenn es mit der Selbsterhaltung einmal halbwegs geklappt hat, einer Gemeinschaft von nachdenkenden Freundinnen und Freunden (im Sinne von Hannah Arendt), die sich nicht durch eine Kaste von Priestern oder politischen „Führern“ sagen lassen will, was zu tun sei. Man kann das im Anschluss an John Dewey eine aufgeklärte, demokratische Lebensform nennen, wobei Demokratie für Dewey nicht lediglich eine Regierungsform war, sondern eine gemeinschaftliche Art und Weise, Lebensziele hervorzubringen. (Und sofern die, die in einer solchen Form leben, sich selbst auch noch Gesetze geben und dazu verpflichten, sie auf alle gleich anzuwenden, ist es auch eine republikanische.)

 Judith Shklar benennt drei Kennzeichen der „klassischen“ Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts in Europa: radikalen Optimismus, Anarchismus und Intellektualismus. Der radikale Optimismus bezieht sich in ihren Augen auf die Fortschrittshoffnungen, nach denen das für Menschen wirklich nützliche Wissen auch gesellschaftliche Relevanz erhalten werde und ökonomische Ungerechtigkeiten verschwinden würden. Der Anarchismus betrifft den Glauben, dass in einer Gesellschaft von wirklich vernünftig gewordenen Menschen das staatliche Gewaltmonopol zur Durchsetzung der Regeln nicht mehr nötig sein werde. Mit Intellektualismus meint Shklar die Vorstellung, dass Appelle an den Verstand ausreichen, um dem menschlichen Verhalten eine vernünftige Ordnung zu geben.

 Die durch diese Charakteristika gekennzeichnete Aufklärung sei nach den beiden Weltkriegen und den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts nicht mehr fortsetzbar, wie Shklar in After Utopia 1957 schreibt. In einem moralischen Skeptizismus sieht sie das Politische in ihrer Zeit vor allem vor die Aufgabe gestellt, zu helfen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Die Zeiten haben sich seitdem in meinen Augen nicht sehr geändert. Philip Kitcher hat ein pragmatistisches Fortschrittsverständnis vorgestellt, dass zu dieser Auffassung Shklars passt. Der seit Peirce in der Theorie der Wissenschaften existierende Fallibilismus legt es nahe, den Fortschritt der Wissenschaften in der Vermeidung und dem Ausräumen von Irrtümern und Illusionen zu sehen und nicht im Erreichen einer absoluten Wahrheit. Ließe sich dieser Fortschrittsbegriff nicht auch verwenden, um ein skeptisches Verständnis von Aufklärung zu entwickeln? Danach bestünde diese in dem ständigen Bemühen, Irrtümer, Illusionen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten kühlen Kopfes abzustellen, ohne dabei zu glauben, positive Utopien des Wissens oder Zusammenlebens zu befördern.

 Gegenwärtig scheinen immer weniger Menschen bereit, im Sinne Hannah Arendts als politische Freunde mit der Kompetenz zum Perspektivenwechsel wahrhaftig miteinander darüber nachzudenken, wie zu leben und was kollektiv zu tun sei, um Illusionen, Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Weder das argumentative Miteinander noch das Denken scheinen in der Öffentlichkeit gerade hoch im Kurs zu stehen. Auch die Vermeidung von Irrtümern, Illusionen und Grausamkeiten steht in einer neuen Epoche der digital verbreiteten Verschwörungstheorien und Aufrufen zu Grausamkeiten in Kommunikationskanälen wie „Telegram“ nicht gerade hoch im Kurs. Die politische Gemeinschaft scheint „im Westen“ durch eine in ihrem meist rein strategischen Konkurrenzverhalten brutalisierten Meritokratie zerstört worden zu sein, die alle Menschen in „Gewinner“ und „Verlierer“ einteilt. Die politische Öffentlichkeit ist in großen Teilen durch einen Aufmerksamkeitsmarkt für Privates ersetzt worden. Doch was können und sollen nun Philosophinnen, die sich in die Öffentlichkeit begeben, gegen solche Entwicklungen tun?

 Beispiele und Prinzipien

 Können Philosophen steuernd in die Öffentlichkeit eingreifen und Kriterien des vernünftigen, freundschaftlichen Diskurses entwickeln, der den universalen Kampf um Macht und Aufmerksamkeit einhegt und durch gemeinschaftliches Denken und eine aufgeklärte Bildung ersetzt, für die die Philosophie die Prinzipien aufstellt, wie moderne Kantianer, etwa Habermas, es für möglich zu halten scheinen? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.

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