FORSCHUNG
Daniel Minkin: | |
aus: Heft 2/2022, S. 44-56 Dass der Ausdruck „Verschwörungstheorie“ ursprünglich von Karl Popper stammt und dass das Thema zu Zeiten des Kritischen Rationalismus intensiv diskutiert wurde, ist in Vergessenheit geraten. Heute, wo das Thema unerwartet wieder aktuell geworden ist, ist es in der englischsprachigen Erkenntnistheorie – ganz im Gegensatz zur deutschen – unter dem Titel „Conspiracy Theories“ wiederaufgenommen worden. Daniel Minkin, der in Marburg mit einer Arbeit zur „Rationalität philosophischer Forschung“ promoviert hat, berichtet im Folgenden darüber (Red.) Verschwörungstheorien und ihr schlechter Ruf Auf die Frage, was das denn für Leute seien, die an Verschwörungstheorien glaubten, antwortete der Moderator und Meteorologe Jörg Kachelmann: „Generell solche, […] die nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind, die nicht die knusprigsten Chips in der Tüte sind, […] die nicht alle Latten am Zaun haben“ (vgl. [20]). Solche Erklärungen sowie Titel von öffentlich-rechtlichen Sendungen wie etwa „Verschwörungstheorien – darum sind sie so gefährlich“ oder „Leben im Wahn“ machen deutlich, dass Verschwörungstheorien in der medialen Öffentlichkeit prinzipiell keinen guten Stand haben. Ganz ähnlich ist es auch im größten Teil der interdisziplinären Forschung zum Thema. Die meisten Wissenschaftler:innen scheinen – wie etwa der Kulturwissenschaftler Michael Butter – „der festen Überzeugung [zu sein], dass Verschwörungstheorien einem adäquaten Verständnis der Wirklichkeit im Wege stehen“. ([15], S. 255) Umso erstaunlicher ist es, dass die Philosophie in der Frage, ob Verschwörungstheorien grundsätzlich abgelehnt werden sollten, gespalten ist. Es lassen sich zunächst zwei Tendenzen beobachten, die sich unvereinbar gegenüberstehen und die sich in Anlehnung an den Soziologen Oliver Kuhn als „repressivistisch“ bzw. „permissibilistisch“ bezeichnen lassen (vgl. [17]) Repressivistische Positionen behaupten, dass Verschwörungstheorien grundsätzlich abgelehnt werden sollten, da sie nicht oder schlecht gerechtfertigt seien. Permissibilistische Positionen behaupten dagegen, dass nicht alle Verschwörungstheorien ihren schlechten Ruf verdienten. Dass eine Theorie oder Erklärung eine Verschwörungstheorie sei, habe diesen Positionen zufolge nichts mit der Frage zu tun, ob sie gerechtfertigt sei. Vielmehr müsse man jede einzelne Theorie unabhängig von ihrem Status als Verschwörungstheorie prüfen. Was ist eine Verschwörungstheorie? Bevor die wichtigsten Positionen dieser Tendenzen vorgestellt werden können, müssen einige Grundüberlegungen gemacht werden. Die philosophische Debatte dreht sich hauptsächlich um die Fragen: Wie lässt sich der Begriff der Verschwörungstheorie definieren? Und wie sollen wir mit Verschwörungstheorien umgehen? Dabei brauchen wir eine Definition des Begriffs „Verschwörungstheorien“, die möglichst einheitlich ist und möglichst alle Verwendungsweisen umfasst. Aus diesem Grund soll hier die folgende Definition vorgeschlagen werden: Eine Verschwörungstheorie ist eine Theorie oder Erklärung, die annimmt, dass mindestens zwei Personen im Geheimen und zu Ungunsten Dritter Handlungen planen und/oder ausführen. Obwohl diese Definition in der Fachliteratur bislang nicht vertreten wurde, scheint sie die nötige Allgemeinheit und Einheitlichkeit zu gewährleisten. Um eine ernsthafte und ehrliche Debatte führen zu können, muss ein Minimalkonsens darüber bestehen, dass aus der Kritik an repressivistischen Positionen keine allgemeine Befürwortung des Glaubens an Verschwörungstheorien folgt. Vertreter:innen des Permissibilismus kritisieren vielmehr das durch den Repressivismus gezeichnete Bild von Verschwörungstheorien und verteidigen nur zu einem bestimmten Grad den Glauben an diese Theorien. Die gesellschaftliche Diskussion zum Thema ist jedoch ideologisch aufgeladen, was dazu führen könnte, dass Vertreter:innen permissibilistischer Positionen v. a. aufgrund ideologischer Einstellungen kritisiert werden. Der Minimalkonsens soll eine solche sachfremde Kritik vermeiden und wird im Folgenden vorausgesetzt. Die Frage, ob der Glaube an Verschwörungstheorien gerechtfertigt ist, lässt sich in verschiedenen Hinsichten beantworten: Die philosophische Forschung dreht sich größtenteils um die epistemische Hinsicht, d. h. um die Frage, ob wir an (einige) Verschwörungstheorien glauben sollten, wenn wir mehr über unsere Welt herausfinden wollen. Hier soll es jedoch auch um die Frage gehen, ob es pragmatisch (un)klug oder ob es moralisch (un)problematisch ist, an solche Theorien zu glauben. Bei einer näheren Betrachtung der Forschungsliteratur erweist sich die Unterscheidung zwischen Repressivismus und Permissibilismus als zu grob und soll deshalb folgendermaßen verfeinert werden: ● Allgemein-repressivistische Positionen kritisieren den Glauben an sämtliche Verschwörungstheorien. ● Partiell-repressivistische Positionen definieren eine (Sub)Klasse dieser Theorien und behaupten, dass nur der Glaube an die Theorien in dieser Subklasse ungerechtfertigt ist. ● Permissibilistische Positionen schließlich kritisieren sowohl den allgemeinen als auch den partiellen Repressivismus. Allgemein-repressivistische Positionen Die meisten umfassenderen Darstellungen identifizieren Karl Popper als den Initiator der interdisziplinären Forschung zu Verschwörungstheorien. Und für Matthew Dentith ist er der „Großvater“ ([14], S. 15) der philosophischen Auseinandersetzung. Dabei bezieht sich die interdisziplinäre Forschung in zweifacher Weise auf Popper: Einerseits wird die Frage gestellt, ob Verschwörungstheorien Poppers Falsifikationskriterium genügen. Andererseits werden seine expliziten Bemerkungen zu Verschwörungstheorien diskutiert. In der medial-öffentlichen Debatte sowie in einem Großteil der Wissenschaft findet sich ein allgemein-repressivistisches Argument gegen die Glaubwürdigkeit von Verschwörungstheorien, das man als „Standardargument“ bezeichnen kann und das auf Poppers Falsifikationismus aufbaut. Demnach seien Verschwörungstheorien generell abzulehnen, weil sie nicht falsifizierbar und damit kritikimmun seien. Oftmals wird ihnen deswegen auch nicht zugestanden, den Status von Theorien zu besitzen. Forscher:innen außerhalb der Philosophie bezeichnen Verschwörungstheorien daher eher als „Verschwörungserzählungen“, „-mythen“ oder „-ideologien“. So schreiben Katharina Nocun und Pia Lamberty in ihrem stark rezipierten Buch Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen: „Eine Theorie ist eine wissenschaftlich nachprüfbare Annahme über die Welt. Wenn sich diese als falsch herausstellt, wird sie auch wieder verworfen. Die Verschwörungserzählung zeichnet sich aber eben genau dadurch aus, dass sie sich der Nachprüfbarkeit entzieht.“ ([19], S. 21) Innerhalb der Philosophie findet man kaum Vertreter:innen dieses Standardarguments, da es aus mehreren Gründen und in hohem Maße unbefriedigend ist. Die meisten Quellen, die das Falsifikationsargument anführen, berücksichtigen die wissenschaftstheoretische Debatte der letzten 90 Jahre nicht. Innerhalb dieser Zeit wurden diverse Argumente gegen Poppers Position angeführt, die dazu geführt haben, dass der naive Falsifikationismus wie ihn Popper konzipiert hatte als unhaltbar gilt. Doch selbst wenn man diesen Punkt ausklammert, wurde innerhalb der Philosophie deutlich gemacht, dass das Falsifikationskriterium nicht dazu dienen kann, Verschwörungstheorien die Glaubwürdigkeit zu entziehen. Brian Keeley z. B. schreibt: „My claim here is that unfalsifiability is only a reasonable criterion in cases where we do not have reason to believe that there are powerful agents seeking to steer our investigation away from the truth of the matter.“ ([10], S. 55) Bei Verschwörungen jedoch – ganz gleich, ob sie imaginiert seien oder nicht – sei dies nicht der Fall. Ein Beispiel, das Keeleys Punkt gut veranschaulichen kann, ist der Watergate-Skandal: 1972 brachen fünf Männer in die Wahlkampfzentrale der us-amerikanischen Partei „Die Demokraten“ ein, um illegale Abhörvorrichtungen zu installieren. Journalisten der Washington Post haben daraufhin eine Verbindung der Männer zum Weißen Haus und dem damaligen Präsidenten Richard Nixon festgestellt. Heute gilt es als eingestanden, dass zumindest einige Vertraute des Präsidenten die Ermittlungen zu diesem Fall aktiv behindern wollten. Argumente wie dasjenige von Keeley erklären womöglich, weshalb heute kein:e Philosoph:in dem Standardeinwand gegen Verschwörungstheorien zustimmt. Auch Popper selbst hat dies nie getan. Allerdings geht eine andere allgemeine Kritik auf Popper zurück. In seinem Buch The Open Society beschreibt er eine Theorie, die er als „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ bezeichnet. Diese Theorie erhebe den Anspruch, sozialwissenschaftliche Erklärungen anzubieten, formuliere jedoch das exakte Gegenteil des eigentlichen Ziels der Sozialwissenschaften. Poppers Einstellung zu dieser Theorie ist unmissverständlich: „The conspiracy theory of society […] has very little truth in it.“ ([5], S. 32) Das Problem daran sei, dass sie den Verschwörern nahezu übermenschliche Kräfte zuschreibe und daher keinen Platz für Zufall oder menschliches Versagen schaffe. Dies lasse sich aber nicht mit dem eigentlichen Ziel sozialwissenschaftlicher Erklärungen vereinbaren: „[T]here are always certain unwanted consequences of our actions; and usually these unwanted consequences cannot be eliminated. To explain why they cannot be eliminated is the major task of social theory.“ (ebd.) Dieses Argument wirkt sehr überzeugend, wenn man etwa antisemitische Verschwörungstheorien betrachtet, die eine vermeintliche jüdische Weltherrschaft postulieren. Eine dieser Theorien geht beispielsweise von den als fiktionale Propagandaschrift entlarvten Protokollen der Weisen von Zion aus, in der ein (nie stattgefundener) Kongress jüdischer Gelehrter „protokolliert“ wird, auf dem die Pläne zu einer solchen jüdischen Diktatur geschmiedet würden. Die Gelehrten werden in diesen Pseudoprotokollen tatsächlich als übermenschlich mächtig dargestellt. Obwohl Poppers Argument auch aufgrund solcher Beispiele heute großen Anklang außerhalb der Philosophie findet (vgl. z.B. [15]), wird es innerhalb der philosophischen Forschung flächendeckend abgelehnt. Dies wird nachvollziehbar, wenn man sich die Schwierigkeiten mit Poppers Sicht vergegenwärtigt: Zum einen definiert Popper den Begriff „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ nicht, daher bleibt es auch fraglich, ob dieser Begriff auf heutige Verschwörungs-theorien angewandt werden kann. Weiterhin stellt sich die Frage, wer überhaupt das eigentliche Ziel der Sozialwissenschaften festlegt. Popper scheint normativ zu reden, doch eine solche Redeweise erfordert Begründung, die Popper – zumindest dort, wo er über die Verschwörungstheorie der Gesellschaft spricht – nicht gibt. Die wirkungsvollste Kritik an Popper stammt aber von Charles Pigden. Pigden unterzog Poppers Bemerkungen einer detaillierten und historisch informierten Analyse und hat festgestellt, dass selbst bei einer sehr wohlwollenden Deutung Popper eine Theorie ablehne, „that nobody believes“ ([6], S. 21) Die von Popper abgelehnte Theorie besagt nämlich nicht bloß, dass gesellschaftliche Phänomene durch Verschwörungen erklärt werden können, sondern, dass alle gesellschaftlichen Phänomene allein durch erfolgreiche Verschwörungen erklärt werden können. Und das scheint tatsächlich niemand zu vertreten. Selbst die absurden Theorien über die vermeintliche jüdische Weltherrschaft beinhalten eine solche Erklärung nicht (was natürlich nicht bedeutet, dass sie glaubwürdig sind). Obwohl Pigden dies nicht explizit sagt, kritisiert er Popper offenbar dafür, sich an sog. Strohmännern abzuarbeiten, d. h. an Positionen, die so schwach sind, dass sie kaum vertreten werden, obwohl sie dafür benutzt werden, eine allgemeine Kritik an real existierenden Verschwörungstheorien zu formulieren. Forscher, die Poppers Argument zustimmen, nehmen in der Regel an, dass Verschwörungstheorien immer falsch sind. Doch darauf sind Vertreter:innen allgemein-repressivistischer Positionen nicht festgelegt. Der deutsche Philosoph Karl Hepfer etwa erkennt in seinem Buch Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft an, dass es Verschwörungstheorien gibt, die sich als wahr herausgestellt haben – ein paradigmatisches Beispiel hierfür waren die Vermutungen der Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein zum oben genannten Watergate-Skan-dal. Dennoch lehnt Hepfer diese Theorien ganz allgemein ab und schreibt, dass die verschwörungstheoretische Argumentation […] den Anschein der Vernünftigkeit erwecken kann, ohne im Kern wirklich ‚vernünftig‘ zu sein.“ ([7], S. 55) Er führt diverse Argumente gegen solche Argumentationen an; eines der zentralsten scheint das folgende zu sein: „[Die] Anhänger [wahrer Verschwörungstheorien] haben zwar eine wahre Meinung, bis zur Aufdeckung der Verschwörung fehlt ihnen aber die Rechtfertigung. […] [Die] Anhänger [fiktiver Verschwörungstheorien] stützen ihre Behauptungen mit zahllosen ‚Begründungen‘, doch ihre Meinung entspricht eben nicht der Wahrheit“. (ebd., S. 61) Gegen Hepfers Behauptung lassen sich mehrere Punkte anführen: Legte man Hepfers Behauptung zu wahren Verschwörungstheorien zugrunde, hieße dies, dass Woodward und Bernstein im Watergate-Fall keine Rechtfertigung für ihre Vermutungen hätten, bevor der Skandal aufgedeckt wäre. Das ist aber offensichtlich falsch, da sie ihren Verdacht auf Belegen fundiert hatten, die sie aus FBI-Kreisen erhielten. Mit Blick auf fiktive Verschwörungstheorien, scheint der Ausdruck „Begründung“ erläuterungsbedürftig zu sein. Offensichtlich will Hepfer sagen, dass Vertreter dieser Theorien ihre Ansichten auf Belege stützen. Doch Ansichten, die auf Belegen gestützt werden, gelten in der Regel für gerechtfertigt. Das würde bedeuten, dass etwa die Theorien zur vermeintlichen jüdischen Weltherrschaft gerechtfertigt seien, denn die Vertreter:innen dieser Theorien – hauptsächlich Rechtsextreme und islamistische Fundamentalist:innen – sehen in den oben genannten „Protokollen“ einen Beleg für ihre Theorie. Dies ist in hohem Maße zweifelhaft. Wahrscheinlich meint Hepfer mit „Begründung“ aber vermeintliche Belege. Um jedoch eine allgemeine repressivistische Position zu begründen, muss ein angemessenes Kriterium zur Unterscheidung zwischen Belegen und bloß vermeintlichen Belegen angegeben werden. Ein solches Kriterium bietet Hepfer nicht an. Poppers und Hepfers Kritik ist erkenntnistheoretischer Natur, da sie letztlich besagt, dass wir Verschwörungstheorien ablehnen sollten, weil sie uns bei unserer Erkenntnissuche behindern. Eine solche erkenntnistheoretische Kritik wurde in der philosophischen Debatte allerdings angegriffen. Lee Basham z. B. kritisiert alle Versuche, solche Theorien auf erkenntnistheoretischer Grundlage abzulehnen. Sein Ansatzpunkt liegt in der nicht in Frage gestellten Tatsache, dass die Geschichte eine unüberschaubare Vielzahl von Verschwörungen aufweist. Dementsprechend gäbe es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass einige Theorien, die Verschwörungen postulieren, wahr seien, und dementsprechend wäre der Glaube an solche Theorien zunächst nicht unbegründet. Bashams zweite – nicht mehr so konsensfähige – Annahme ist, dass Manipulationen von Daten und Dokumenten in großer Zahl und über einen langen Zeitraum geheim gehalten werden könnten. Ausgehend von diesen beiden Annahmen, formuliert er ein Problem, dem sich jeder Versuch, Verschwörungstheorien in epistemischer Hinsicht zurückzuweisen, gegenübergestellt sehen müs-se: Wenn man sich einerseits zwischen einer Theorie, der zufolge sich offizielle Institutionen, internationale Unternehmen oder Geheimgesellschaften gegen bestimmte Personen(gruppen) regelmäßig verschwören, und andererseits der konkurrierenden Sicht, nach der dies nicht der Fall sei, zu entscheiden habe, müsse man offensichtlich bestimmte Daten und Dokumente zur Rate ziehen, die Aufschluss darüber geben, wie Wahrscheinlich es sei, dass solche Theorien wahr seien. Dazu müssten diese Argumente zuverlässig bzw. vertrauenswürdig sein. Doch um dies beurteilen zu können, müsse man erst beurteilen, wie wahrscheinlich es sei, dass offizielle Stellen, Finanzunternehmen und Geheimgesellschaften sich regelmäßig gegen bestimmte Personen(gruppen) dahingehend verschwören, dass sie Dokumente fälschen. Gegeben, dass die beiden gemachten Annahmen zutreffen, ist nach Basham die Annahme von Verschwörungen die naheliegende Reaktion. Trotz seiner Ablehnung der erkenntnistheoretischen Kritik vertritt Basham (zumindest im hier behandelten Text) eine allgemein-repres-sivistische Position. Seine Ablehnung sämtlicher Verschwörungstheorien ist allerdings pragmatisch: „A more solid ground for rejection of conspiracy theories is simply pragmatic. There is nothing you can do.“ ([8], S. 74, Hervorhebung im Original) Daher bringe es auch nichts, solche Theorien zu formulieren oder diese zu verbreiten. Viel eher müssten wir uns auf das konzentrieren, „what is good and valuable in life.“ (ebd.). Auch Bashams Position ist mit mehreren schwerwiegenden Einwänden konfrontiert. Viele Vertreter:innen von Verschwörungstheorien sehen gerade das Gute und Wertvolle in ihrem Leben durch eine Verschwörung bedroht. Als Beispiele lassen sich hier Theorien zum Coronavirus (Sars-CoV-2) anführen. Einige Theorien behaupten etwa, dass das Virus durch Mobilfunkmasten (5G-Masten) verursacht werde, worin einige Vertreter:innen den von Herrschenden unternommenen Versuch zu sehen glauben, eine Diktatur zu installieren. Andere Theorien behaupten, dass die Coronapandemie künstlich geschaffen wurde und dafür genutzt wird, die Weltbevölkerung zu impfen, dadurch zu vergiften und letztlich zu dezimieren. In diesen Theorien geht es um die Freiheit und die Gesundheit der Vertreter:innen. Aus ihrer Sicht ist es also pragmatisch sinnvoll, sich gegen die (vermeintlichen) Verschwörungen zu Wehr zu setzen, was einige auch getan haben, indem sie z. B. 5G-Masten zerstört haben. In seinem Text sagt Basham nicht, wann es pragmatisch ungerechtfertigt ist, sich zu wehren. An diesem Punkt setzt David Coady an und macht deutlich, dass Bashams Argument nur im Falle von sog. global-bösartigen Verschwörungen gelten könne, d. h. für Verschwörungen von Gruppen, die so mächtig sein, dass sie die einzigen seien, die von den Verschwörungen wissen könnten. (vgl. [9], S. 168) Eine jüdische Weltverschwörung wäre ein Kandidat hierfür. Doch gerade dieses Beispiel scheint gegen Bashams allgemeinen Repressivismus zu sprechen. Denn einerseits lässt sich die Theorie der vermeintlichen jüdischen Weltherrschaft epistemisch einfach zurückweisen, was auch gemacht wurde – das würde auch Basham anerkennen. Andererseits aber nehmen die auch heute noch existierenden Vertreter:innen dieser Theorie an, dass sie im Besitz verlässlicher Belege sind, denn sonst würden sie diese Theorie nicht vertreten. Insofern glauben sie nicht an eine global-bösartigen Verschwörung. Coady führt aus, dass eine echte global-bösartige Verschwörungstheorie von niemandem vertreten wird, womit er offensichtlich Recht hat. So wie im Falle von Pigdens Kritik an Popper scheint auch hier also der Strohmann-Vorwurf eine generelle Ablehnung von Verschwörungstheorien zu verhindern. Partiell-repressivistische Positionen Obwohl der allgemeine Repressivismus außerhalb der Philosophie vorherrschend ist, sprechen sich die einflussreichsten Teilnehmer:innen der philosophischen Debatte gegen eine allgemeine Zurückweisung von Verschwörungstheorien aus und bemühen sich stattdessen um die Identifizierung einer Subklasse dieser Theorien, um dann ihre Argumente allein gegen die Theorien in dieser Subklasse zu richten. Den wohl berühmtesten dieser Versuche und den vielleicht einflussreichsten philosophischen Text zum Thema überhaupt hat Brian Keeley beigesteuert. In seinem Essay Of Conspiracy Theories unterscheidet er zunächst zwischen gut begründeten Verschwörungstheorien wie etwa der Theorie zum Watergate-Skandal und den sog. UCTs – den Unwarranted Conspiracy Theories. Letztere sollten grundsätzlich abgelehnt werden. Keeley gesteht zwar ein, dass es kein A priori-Kriterium geben kann, mit dessen Hilfe man die UCTs von begründeten Verschwörungstheorien unterscheiden kann. Dennoch weist er auf Merkmale dieser Theorien hin, die sie suspekt machen würden. Hier sind nur zwei wichtig: Einerseits sollen UCTs immer im Widerspruch zu offiziellen Versionen stehen. Und andererseits basieren sie auf sog. Errant Data. Hierunter versteht Keeley Sachverhalte, die entweder die offizielle Version nicht berücksichtigt oder die Teilen der offiziellen Version widersprechen. UCTs – so Keeley – würden versuchen, immer mehr zu erklären als die offizielle Version, da sie das zu erklären suchen, was die offizielle Version erklärt und zusätzlich die Errant Data. Doch um alle Errant Data zu erklären, müssten sie eine immer größer werdende Zahl an Verschwörer:innen annehmen. „As a result of this process, an initial claim that a small group of people is conspiring gives way to claims of larger and larger conspiracies.“ ([10], S. 56) Schließlich postulierten UCTs-Vertreter:innen eine so große Verschwörung, dass sie das Vertrauen in alle Institutionen in Zweifel ziehen, die dafür eingerichtet wurden, Erkenntnisse zu produzieren und zu verwalten: „These theories throw into doubt the various institutions that have been set up to generate reliable data and evidence.“ (ebd.) Ein solcher institutioneller Skeptizismus sei aber aus erkenntnistheoretischer Sicht unhaltbar, da er Vertrauen zerstöre, das nötig sei, um Wissen zu akkumulieren. Zumindest einige Verschwörungstheorien scheinen Keeleys Beschreibung des institutionellen Skeptizismus zu entsprechen. So behaupten Vertreter:innen der sog. Chemtrail-Theorie im Widerspruch zu wissenschaftlichen und offiziellen Erklärungen, dass die Kondensstreifen, die Flugzeuge in großer Höher hinter sich her ziehen, giftige Chemikalien seien. Um etwa die Tatsache zu erklären, dass Piloten diese Behauptung zurückweisen –, rechnen Chemtrail-Theoretiker eine immer größer werdende Zahl an Personen in die Verschwörung ein. So reift ein Skeptizismus nicht nur gegenüber Piloten heran, sondern auch gegenüber Institutionen, die Erkenntnisse verwalten und der Chemtrail-Theorie widersprechen. Typischerweise sind das wissenschaftliche Institutionen wie etwa der Deutsche Wetterdienst. Auch sog. Reichsbürger, die entgegen internationaler Verträge die BRD nicht als souveränen Staat anerkennen, fordern den von Keeley beschriebenen institutionellen Skeptizismus ein. Trotz solcher Entsprechungen ist Keeleys Beitrag nicht ohne Widerspruch geblieben. Auch hier war es David Coady, der Keeleys partiellen Repressivismus attackierte. Neben anderem hat Coady moniert, dass die Antwort auf die Frage, ob der von Keeley kritisierte Skeptizismus gegenüber den genannten Institutionen angemessen sei, abhängig von der Gesellschaft sei, in der man lebe. Coady macht dies am Beispiel der Holocaust-Leugnung deutlich: In der Phase der nationalsozialistischen Schreckensdiktatur war die Holocaust-Leugnung die offizielle Haltung. Dass Juden sukzessive aus der damaligen deutschen Bevölkerung verschwanden, wurde von einigen Stellen des Staates dadurch erklärt, dass diese Menschen bloß umgesiedelt wurden. Somit stand die Überzeugung, dass diese Menschen ermordet wurden, im Widerspruch zu der offiziellen Version. Weiterhin wies diese offizielle Version Errant Data auf. Mit diesen Beobachtungen zeigte Coady auf, dass die damals nichtoffizielle Überzeugung über die Ermordung der Juden alle Merkmale erfüllt, die Keeley den UCTs zuschreibt. Und dennoch ist es sicherlich absurd, diese Überzeugung als eine unbegründete Verschwörungstheorie zu behandeln. Nach der oben gegebenen Definition stellt diese Überzeugung eine Verschwörungstheorie dar, die jedoch wahr war und ist und an die man sowohl damals als auch heute (auch aus moralischen Gründen) glauben sollte (heute macht man sich in Deutschland sogar strafbar, wenn man sie negiert). Keeley hat sich noch auf die Merkmale von Verschwörungstheorien konzentriert. Einige Vertreter:innen partiell-repressivistischer Positionen haben im Kontrast dazu allerdings die Merkmale von Verschwörungstheoretiker:innen betrachtet. Den einflussreichsten Vorschlag in dieser Richtung hat Steve Clarke formuliert. Er verwendete einerseits das von Lakatos geprägte Konzept des Forschungsprogramms und andererseits die in der Psychologie gemachte Entdeckung des Fundamentalen Attributionsfehlers (im Folgenden „FA“). Ein Forschungsprogramm beinhaltet eine Menge von Grundannahmen (sog. harter Kern des Programms), die bestimmte Erklärungen und Vorhersagen (sog. Schutzgürtel) von Ereignissen generieren. So lassen sich etwa mit bestimmten physikalischen Grundannahmen (etwa den Newton’schen Axiomen) bestimmte Planetenbewegungen vorhersagen. Nun kann es jedoch geschehen, dass einem Forschungsprogramm „die Luft ausgeht“ – es hört auf, neuartige Vorhersagen zu produzieren, die auch eintreten. In diesem Fall muss von einem „degenerierten Forschungsprogramm“ gesprochen werden. (vgl. [18]) Der FA beinhaltet die Tendenz, in der Erklärung menschlichen Verhaltens dispositionale Faktoren zu über- und situative zu unterschätzen. Dispositionale Faktoren sind Faktoren, die Charaktereigenschaften und Motive bestimmen, situative diejenigen, die die Situation bestimmen, in der sich die Person befindet, deren Verhalten erklärt werden soll. Auf der Grundlage des Forschungsprogrammkonzepts sowie der Einsichten zum FA, formulierte Clarke seine Grundthese: „Those who continue to believe in conspiracy theories, when it is intuitively clear to the majority that the time to abandon such theories is well overdue, may simply be people who are more in the grip of the fundamental attribution error than most.“ ([11], S. 89) Nach Clarke werde der Glaube an Verschwörungstheorien erst dann ungerechtfertigt, wenn dieser Glaube auf dem FA basiere, was dazu führe, dass die Verschwörungstheorie keine neuartigen Fakten vorhersagen könne, während eine konkurrierende Erklärung hauptsächlich situative Faktoren berücksichtige und hierdurch erfolgreicher sei. Wie im Falle der Argumentation von Keeley finden sich real existierende Theorien, deren Vertreter:innen Argumentationen anhängen, die Clarkes Konzeption entsprechen. Ein Beispiel hierfür sind Theorien, die im Konflikt zum offiziellen Bericht über den Tod von Prinzessin Diana im Jahr 1997 liegen. Dem Bericht zufolge verstarb Diana in Folge eines Autounfalls, den ihr Fahrer verursacht hatte, weil er unter Drogen- und Alkoholeinfluss stand. Dies sind hauptsächlich situative Faktoren. Im Kontrast dazu nehmen alternative Theorien beispielsweise an, dass das britische Königshaus den Mord in Auftrag gegeben hätte mit dem Motiv, ein muslimisches Kind, das Diana mit ihrem muslimischen Freund Dodi Al-Fayed vermeintlich erwartete, zu verhindern. Obwohl am Beginn der Untersuchungen diese und ähnliche Theorien diskutiert wurden, verloren sie schnell an Bedeutung, weil sie bestimmte Sachverhalte vorhergesagt haben, die nicht eingetreten sind – was Vertreter:innen dieser Theorien nicht daran hindert, weiterhin auf ihnen zu beharren. Im selben Text, in dem Coady den Ansatz von Keeley angegriffen hatte, kritisierte er auch Clarke. Coady vermutet in Clarkes Argumentation einen Selbstwiderspruch. Diese Kritik lässt sich so darstellen: Der FA besagt, dass die Neigung, nur oder hauptsächlich dispositionale Faktoren bei einer Verhaltenserklärung zu bevorzugen, irrational ist. (Prämisse 1) Die Zuschreibung des FAs bevorzugt nur oder hauptsächlich dispositionale Faktoren. (Prämisse 2) Also: Die Zuschreibung des FA basiert selbst auf dem FA. (Konklusion) Die erste Prämisse scheint natürlich etwas verkürzt zu sein, dennoch bildet sie offensichtlich genau das ab, was Clarke und die Psycholog:innen, die an den FA glauben, behaupten. Die zweite Prämisse scheint jedoch in jedem Falle wahr zu sein, denn Clarke bezieht sich bei seiner Beschreibung des Verhaltens von Vertreter:innen der im Fokus stehenden Verschwörungstheorien hauptsächlich auf dispositionale Faktoren – nämlich auf die Disposition, den FA zu begehen. Die Konklusion scheint aus den Prämissen zu folgen. Coadys Argument ist also offenbar wieder schlüssig. Vielleicht lässt sich zeigen, wie man Anhänger:innen von Verschwörungstheorien den FA zuschreiben kann ohne selbst diesen Fehler zu begehen. Doch weder Clarke noch die genannten Psycholog:innen haben bislang gezeigt, wie dies möglich ist. Keeleys und Clarkes Ansätze unterscheiden sich zu denjenigen Poppers und Hepfers, weil sie nicht sämtliche Verschwörungstheorien angreifen. Dennoch sind die ersteren mit den letzteren verwandt, weil auch sie erkenntnistheoretischer Natur sind. Doch auch für partiell-repressivistische Positionen gilt, dass sie nicht in erkenntnistheoretischer Hinsicht formuliert werden müssen. Juha Räikkä etwa hat einen Ansatz erarbeitet, der zeigen soll, dass bestimmte Verschwörungstheorien aus ethischen Gründen abgelehnt werden müssten. Dies gilt v. a. für politische Verschwörungs-theorien, was bedeutet: „Political conspiracy theorists offer conspiracy theories to explain social events by referring to genuine political conspiracies whose existence is not widely known or presumed.“ ([12], S. 458) Das ethische Problem dieser Theorien sei, dass sie Menschen öffentlich in ein falsches Licht rücken, um selbst Profit hieraus zu schlagen. Ein Beispiel hierfür sind bestimmte Theorien im Gesundheitsbereich. Gruppen wie etwa die „Germanische Neue Medizin“ vermuten hinter viralen Krankheiten wie Covid-19, Masern oder HIV eine Verschwörung der Politik und der Pharmaindustrie. Personen, die vor diesen Krankheiten warnen und etwa Impfungen gegen sie befürworten, werden öffentlich an den Pranger gestellt. Gleichzeitig wird die Ablehnung dieser Krankheiten als Werbung für den Verkauf von alternativ-medizinischen Präparaten benutzt. Auch Räikkäs Ansatz scheint also Entsprechungen zu finden. Was in diesem Ansatz jedoch fehlt, ist eine Begründung der moralischen Bewertung. Räikkä setzt einfach voraus, dass die beschriebenen Handlungen unmoralisch sind. Intuitiv mag das naheliegend sein. Philosophisch gesehen fehlt jedoch eine argumentative Begründung in welchem ethischen System – Tugendethik, Deontologie oder Utilitarismus – welche verschwörungstheoretischen Handlungen als unmoralisch ausgezeichnet werden sollten. Permissibilistische Positionen Der schon genannte Coady ist der konsequenteste und einflussreichste Vertreter des Permissibilismus. Als solcher verteidigt er zu einem gewissen Grad den Glauben an Verschwörungstheorien ohne dabei schwer begründbaren Positionen wie etwa der Chemtrail-Theorie oder der Theorie der Reichsbürger anheim zu fallen. Coady weist auf diverse Fehler der repressivistischen Positionen – seien sie allgemein oder partiell – hin. Hier soll es jedoch nur um seine Ausführungen zu den Konsequenzen der Verwendung des Verschwörungstheorie-Begriffs gehen (vgl. [13]). Zunächst macht er die Beobachtung, dass die Ausdrücke „Verschwörungstheorie“ und „Verschwörungstheoretiker:in“ einen schlechten Ruf haben, was zu mehreren Nebeneffekten führe, die keine offene Gesellschaft dulden sollte. Ein erster Nebeneffekt betrifft wieder die erkenntnistheoretische Dimension. Coady gibt zu, dass Personen, die man als „Verschwörungstheoretiker:innen“ bezeichnet, sich oft in falschen Erklärungen verrennen, die eine Verschwörung postulieren, obwohl eine Erklärung existiert, die deutlich überzeugender ist ohne eine Verschwörung anzunehmen – ein in epistemischer Sicht schlechtes Verhalten. Doch wenn eine verschwörungstheoretische Erklärung näher liege, sei es ebenfalls falsch, sie nicht zu verwenden. Dies lässt sich an dem Fall „Gustl Mollath“ veranschaulichen. Mollath hat 2003 illegale Aktivitäten der HypoVereinsbank aufgedeckt. Mitarbeiter der Bank haben damals Kunden geholfen, Schwarzgeld zu verstecken. Als Mollaths damalige Frau, die u. a. selbst für die illegale Dienstleistung verantwortlich war, Mollath wegen Missbrauchs angezeigt hatte, vermutete er eine Verschwörung und wurde aufgrund falscher Diagnosen und einer Voreingenommenheit des Richters in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Erst nach sieben Jahren und der Aufdeckung des Skandals durch Journalisten, Anwälte und Steuerfahnder kam Mollath frei. In diesem Fall wäre es angemessen, an eine Verschwörung zu glauben. Stattdessen wurden Mollaths Berichte durch seine vermeintliche psychische Erkrankung erklärt. Coady zufolge begünstige die pejorative Verwendung der besagten Begriffe solche blinden Flecke. Dieser Punkt führt weiter zu einem zweiten unerwünschten Nebeneffekt: „Another bad effect of [these terms] is that their use is an injustice to the individuals who are characterized as conspiracy theorists or whose beliefs are characterized as conspiracy theories.“ ([13], S. 173, Hervorhebung im Original.) Auch diese zweite These lässt sich durch den Fall „Mollath“ belegen. Denn dieser Fall macht klar, dass die generelle Skepsis, die mit der Verwendung der Ausdrücke „Verschwörungstheorie“ und „Verschwörungstheoretiker:in“ einhergeht, zur Diskriminierung und in diesem Fall sogar zu ungerechten Beraubung von Grundrechten führen kann. Sicherlich ist dies ein Einzelfall, aber durch die vorherrschende abwertende Verwendung der Ausdrücke ist nicht auszuschließen, dass weitere Fälle nicht sichtbar bleiben. Einen dritten Nebeneffekt beschreibt Coady so: „[The terms ‚conspiracy theory‘ and ‚conspiracy theorist‘] contribute to a political environment in which it is easier for conspiracy to thrive at the expense of openness.“ (ebd.) Damit ist gemeint, dass die Kategorisierung einer Person als Verschwörungstheoretiker:in etwa von Regierungen dafür genutzt werden kann, von ihren illegalen Machenschaften oder Inkompetenzen abzulenken. Im Falle Mollaths lässt sich z. B. vermuten, dass die damalige Bayrische Justizministerin Beate Merk selbst dann an der falschen Diagnose von Mollaths Gesundheitszustand festgehalten hatte, als bereits gute Belege für die Falschheit der Diagnose aufgedeckt wurden und zwar deshalb, weil sie ihre Versäumnisse verdecken wollte. Ein noch besseres Beispiel hierfür ist der NSA-Skandal. Vor den Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2011 wurde die Befürchtung, dass Geheimdienste Bürger ausspionierten, als „Verschwörungstheorie“ bezeichnet (vgl. z. B. [16]). Im Falle des NSA-Skandals ist es zumindest denkbar, dass die in den Skandal involvierten Personen, Gruppen und Regierungen dies ausgenutzt haben, um von ihren illegalen bzw. illegitimen Praktiken abzulenken. Auch aufgrund dieser Effekte vertritt Coady mittlerweile einen Eliminativismus in Bezug auf die besagten Ausdrücke, der den Appell beinhaltet, auf diese vollständig zu verzichten. Die gerade aufgeführten Beispiele machen Coadys Position plausibel. Gegen diesen Eliminativismus spricht aber, dass er unnötig radikal ist. Vielleicht könnten wir nämlich die unerwünschten Effekte auch beseitigen, indem wir eine unproblematische Definition dieser Ausdrücke finden. Fazit Der Repressivismus ist zweifellos das vorherrschende Paradigma in der außerphilosophischen und außeruniversitären Debatte. Diese Position ist mittlerweile so stark, dass sie zur Einrichtung von Beratungsstellen gegen den Glauben an Verschwörungstheorien geführt hat – so etwa die in Berlin ansässige Stelle „Veritas“, die Angehörige berät, die unter dem Verschwörungsglauben ihrer Verwandten leiden. So formuliert ist dies sicherlich ein sinnvolles Ziel. Nicht übersehen werden darf jedoch, dass sich die Vorherrschaft des repressivistischen Paradigmas vor allem durch die Ignoranz gegenüber permissibilistischen Argumenten und damit auch gegenüber der internationalen philosophischen Forschung am Leben hält. Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum, in dem es kaum Philosoph:innen gibt, die dem Permissibilismus zustimmen, wächst dieses Gegenprogramm in der angelsächsischen Philosophie kontinuierlich. Auch Autoren wie Matthew Dentith oder mittlerweile auch Brian Keeley (vgl. [3] und [14]) unterstützen es. Selbst wenn die Argumente dieses Gegenprogramms nicht jede:n Vertreter:in des Repressivismus überzeugen können, ihre Berücksichtigung würde sicherlich eine ehrliche und offene Diskussion über den Status von Verschwörungstheorien und den richtigen Umgang mit deren Vertreter:innen fördern. UNSER AUTOR: Daniel Minkin ist promovierter Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Zum Thema ist von ihm erschienen: Kulturtheoretische Betrachtungen zu Verschwörungstheorien. Philosophische Anmerkungen zu Michael Butters „Nichts ist, wie es scheint“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 14, H. 1 (2020). S. 174-177. Literatur zum Thema: Überblicksdarstellungen und Einführungen: [1] Cassam, Quassim (2019), Conspiracy Theories, Cambridge: Polity Press. [2] Coady, David (2006a), An Introduction to the Philosophical Debate about Conspiracy Theories, in: D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hamp-shire/Burlington: Ashgate, S. 1-11. [3] Dentith, Matthew R. X. / Keeley, Brian L. (2019), The applied epistemology of conspiracy theories: an overview, in: D. Coady/J. Chase, James (Hg.): Routledge Handbook of Applied Epistemology. Oxon / New York: Routledge 2019. S. 284-293. [4] Räikkä, Juha / Ritola, Juho (2020), Philosophy and conspiracy theories, in: M. Butter / P. Knight, (Hg.): Routledge Handbook of Conspiracy Theories. London / New York: Routledge 2020. S. 56-66. Allgemein-repressivistische Positionen: [5] Popper, Karl Raimund (1945), The high tide of prophecy: Hegel, Marx, and the aftermath, in: ders.: The Open Society and its Enemies, 2 Bde., Bd. 2, 5 rev. Aufl., London: Routledge & Kegan Paul. [6] Pigden, Charles (1995), Popper Revisited, or What is Wrong with Conspiracy Theories? In: D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hampshire/Burlington: Ashgate, S. 17-43. [7] Hepfer, Karl (2015), Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld: transcript. [8] Basham, Lee (2001): Living with the Conspiracy, in: D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hampshire/Burlington: Ashgate, S. 61-75. [9] Coady, David (2006b), The Pragmatic Rejection of Conspiracy Theories. D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hampshire/Burlington: Ashgate, S. 167-170. Partiell-repressivistische Positionen [10] Keeley, Brian L. (1999), Of Conspiracy Theories, in: D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hampshire/Burlington: Ashgate, S. 45-60. [11] Clarke, Steve (2002): Conspiracy Theories and Conspiracy Theorizing, in: D. Coady (Hg.): Conspiracy Theories. The Philosophical Debate, Hampshire/Burlington: Ashgate, S. 77-92. [12] Räikkä, Juha (2009), The Ethics of Con-spiracy Theorizing, Journal of Value Inquiry, 43 (4), S. 457-468. Permissibilistische Positionen: [13] Coady, David (2019): Psychology and conspiracy theories, in: D. Coady/J. Chase, James (Hg.): Routledge Handbook of Applied Epistemology. Oxon/New York: Routledge 2019. S. 166-175. [14] Dentith, Matthew R. X. (2014), The Philosophy of Conspiracy Theories, Hampshire / New York: Palgrave Macmillan. Weitere Quellen [15] Butter, Michael (2018), „Nichts ist, wie es scheint.“ Über Verschwörungstheorien, Berlin: Suhrkamp. [16] Dambeck, Holger (2004), Feind hört mit, Spiegel, online verfügbar unter https://www.spiegel.de/netzwelt/web/krypto-handys-feind-hoert-mit-a-285618.html (zuletzt abgerufen am 6.12.21). [17] Kuhn, Oliver (2014), Spekulative Kommunikation und ihre Stigmatisierung, in: A. Anton/M. Schetsche/M. Walter, Michael (Hg.): Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens, Wiesbaden: Springer. S. 327-347 [18] Lakatos, Imre (1970), Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders.: Philosophische Schriften, 2 Bde., Bd. 1, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, S. 7-107. [19] Nocun, Katharina/Lamberty, Pia (2020), Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln: Quadriga. [20] [ZDF] (2015), Leben im Wahn, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v= kwyVnjOOsc8 (zuletzt abgerufen am 6.12.2021) |