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02 2022

Daniel Minkin:
Über die Schwierigkeit der Philosophie mit den Verschwörungstheorien

 
aus: Heft 2/2022, S. 44-56
 
Dass der Ausdruck „Verschwörungstheorie“ ursprünglich von Karl Popper stammt und dass das Thema zu Zeiten des Kritischen Rationalismus intensiv diskutiert wurde, ist in Vergessenheit geraten. Heute, wo das Thema unerwartet wieder aktuell geworden ist, ist es in der englischsprachigen Erkenntnistheorie – ganz im Gegensatz zur deutschen – unter dem Titel „Conspiracy Theories“ wiederaufgenommen worden. Daniel Minkin, der in Marburg mit einer Arbeit zur „Rationalität philosophischer Forschung“ promoviert hat, berichtet im Folgenden darüber (Red.)
 
Verschwörungstheorien und ihr schlechter Ruf
 
Auf die Frage, was das denn für Leute seien, die an Verschwörungstheorien glaubten, antwortete der Moderator und Meteorologe Jörg Kachelmann: „Generell solche, […] die nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind, die nicht die knusprigsten Chips in der Tüte sind, […] die nicht alle Latten am Zaun haben“ (vgl. [20]). Solche Erklärungen sowie Titel von öffentlich-rechtlichen Sendungen wie etwa „Verschwörungstheorien – darum sind sie so gefährlich“ oder „Leben im Wahn“ machen deutlich, dass Verschwörungstheorien in der medialen Öffentlichkeit prinzipiell keinen guten Stand haben. Ganz ähnlich ist es auch im größten Teil der interdisziplinären Forschung zum Thema. Die meisten Wissenschaftler:innen scheinen – wie etwa der Kulturwissenschaftler Michael Butter – „der festen Überzeugung [zu sein], dass Verschwörungstheorien einem adäquaten Verständnis der Wirklichkeit im Wege stehen“. ([15], S. 255)
 
Umso erstaunlicher ist es, dass die Philosophie in der Frage, ob Verschwörungstheorien grundsätzlich abgelehnt werden sollten, gespalten ist. Es lassen sich zunächst zwei Tendenzen beobachten, die sich unvereinbar gegenüberstehen und die sich in Anlehnung an den Soziologen Oliver Kuhn als „repressivistisch“ bzw. „permissibilistisch“ bezeichnen lassen (vgl. [17]) Repressivistische Positionen behaupten, dass Verschwörungstheorien grundsätzlich abgelehnt werden sollten, da sie nicht oder schlecht gerechtfertigt seien. Permissibilistische Positionen behaupten dagegen, dass nicht alle Verschwörungstheorien ihren schlechten Ruf verdienten. Dass eine Theorie oder Erklärung eine Verschwörungstheorie sei, habe diesen Positionen zufolge nichts mit der Frage zu tun, ob sie gerechtfertigt sei. Vielmehr müsse man jede einzelne Theorie unabhängig von ihrem Status als Verschwörungstheorie prüfen.
 
Was ist eine Verschwörungstheorie?
 
Bevor die wichtigsten Positionen dieser Tendenzen vorgestellt werden können, müssen einige Grundüberlegungen gemacht werden. Die philosophische Debatte dreht sich hauptsächlich um die Fragen: Wie lässt sich der Begriff der Verschwörungstheorie definieren? Und wie sollen wir mit Verschwörungstheorien umgehen? Dabei brauchen wir eine Definition des Begriffs „Verschwörungstheorien“, die möglichst einheitlich ist und möglichst alle Verwendungsweisen umfasst. Aus diesem Grund soll hier die folgende Definition vorgeschlagen werden:
 
Eine Verschwörungstheorie ist eine Theorie oder Erklärung, die annimmt, dass mindestens zwei Personen im Geheimen und zu Ungunsten Dritter Handlungen planen und/oder ausführen.
 
Obwohl diese Definition in der Fachliteratur bislang nicht vertreten wurde, scheint sie die nötige Allgemeinheit und Einheitlichkeit zu gewährleisten.
 
Um eine ernsthafte und ehrliche Debatte führen zu können, muss ein Minimalkonsens darüber bestehen, dass aus der Kritik an repressivistischen Positionen keine allgemeine Befürwortung des Glaubens an Verschwörungstheorien folgt. Vertreter:innen des Permissibilismus kritisieren vielmehr das durch den Repressivismus gezeichnete Bild von Verschwörungstheorien und verteidigen nur zu einem bestimmten Grad den Glauben an diese Theorien. Die gesellschaftliche Diskussion zum Thema ist jedoch ideologisch aufgeladen, was dazu führen könnte, dass Vertreter:innen permissibilistischer Positionen v. a. aufgrund ideologischer Einstellungen kritisiert werden. Der Minimalkonsens soll eine solche sachfremde Kritik vermeiden und wird im Folgenden vorausgesetzt.
 
Die Frage, ob der Glaube an Verschwörungstheorien gerechtfertigt ist, lässt sich in verschiedenen Hinsichten beantworten: Die philosophische Forschung dreht sich größtenteils um die epistemische Hinsicht, d. h. um die Frage, ob wir an (einige) Verschwörungstheorien glauben sollten, wenn wir mehr über unsere Welt herausfinden wollen. Hier soll es jedoch auch um die Frage gehen, ob es pragmatisch (un)klug oder ob es moralisch (un)problematisch ist, an solche Theorien zu glauben.
 
Bei einer näheren Betrachtung der Forschungsliteratur erweist sich die Unterscheidung zwischen Repressivismus und Permissibilismus als zu grob und soll deshalb folgendermaßen verfeinert werden:
 
Allgemein-repressivistische Positionen kritisieren den Glauben an sämtliche Verschwörungstheorien.
Partiell-repressivistische Positionen definieren eine (Sub)Klasse dieser Theorien und behaupten, dass nur der Glaube an die Theorien in dieser Subklasse ungerechtfertigt ist.
● Permissibilistische Positionen schließlich kritisieren sowohl den allgemeinen als auch den partiellen Repressivismus.
 
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