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ESSAY

Habermas, Jürgen: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen

Dankesrede bei der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises am 9. März 2006

Als mir der Direktor des Karl-Renner-Instituts die erfreuliche Mitteilung machte, dass mir die Jury in diesem Jahr den Bruno-Kreisky-Preis verleihen wolle, hatte ich nicht nur Anlass, über den irritierenden Aspekt der glücklichen Situation nachzudenken, nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung und des Genusses eines eher kontroversen Rufes nun soviel unverdiente Anerkennung zu finden. Vielmehr geben mir die Namen von Karl Renner und Bruno Kreisky, die mit dem wechselvollen Schicksal der österreichischen Republik so rühmlich verbunden sind, auch Anlass, zum ersten Mal über mein Verhältnis zu den Wiener Sozialdemokraten nachzudenken. Nicht als hätten da politische Beziehungen bestanden. Aber die Namen jener beiden historischen Figuren erinnern mich an intellektuelle Anregungen, die ich einer großen theoretischen Tradition schulde. Ich möchte bei dieser Gelegenheit dem Austromarxismus meinen Dank für zwei entscheidende Denkanstöße abstatten.

Dank an den Austromarxismus


Als ich nach einem eher konventionellen Studium der Philosophie 1956 in das ungewohnte Milieu des Frankfurter Instituts für Sozialforschung kam, musste ich mich bei der Vorbereitung einer empirischen Untersuchung auch mit der (damals noch ausschließlich juristischen) Literatur zu Rechtsstaat und Demokratie vertraut machen. Zwar fand ich die Debatten zwischen den bedeutenden Staatsrechtslehrern der Weimarer Republik spannend, aber ich konnte die normativen Begriffe der Jurisprudenz nicht recht in Beziehung setzen zu der Gesellschaftstheorie, in deren Licht ich mir über die politische Gegenwart klar zu werden versuchte. Es war die Lektüre eines Buches, das mir für den Zusammenhang von Politischer Ökonomie und Recht die Augen geöffnet hat. Das 1929 veröffentlichte Buch mit dem spröden Titel Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion ging auf Studien zurück, die der junge Karl Renner um die Jahrhundertwende betrieben hatte, während er als Bibliothekar in der Bücherei des Reichrats, des österreichischen Parlaments, arbeitete.

Dadurch kam ich mit Schriften der Austromarxisten in Berührung, in denen ich drei Dinge fand, die ich als Adornos Assistent in Frankfurt vermisste: erstens die selbstverständliche Verbindung der Theorie mit der politischen Praxis, zweitens die uneingeschüchterte Öffnung der marxistischen Gesellschaftstheorie für Einsichten der akademischen Wissenschaft (eine Gesinnung, von der Horkheimer und Adorno seit der Dialektik der Aufklärung wieder abgerückt waren) und drittens – und vor allem – die vorbehaltlose Identifizierung mit den Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates, und zwar ohne Preisgabe von radikalreformistischen Zielsetzungen, die weit über den status quo hinauswiesen.


Auf meinem Wege vom Hegelmarxismus zu einem Kantischen Pragmatismus hat mir in den späten 60er Jahren das Buch eines anderen Austromarxisten einen ähnlich folgenreichen Anstoß gegeben – das späte Werk von Max Adler, das 1936 unter dem Titel Das Rätsel der Gesellschaft erschienen ist. Mit der Einführung eines „sozialen Apriori“ erinnert Adler nicht nur an die gesellschaftliche Konstituierung unseres Ich-Bewusstseins und unseres Wissens von der Welt; auch umgekehrt sollen sich die sozialen Lebenszusammenhänge aus Akten des Wissens aufbauen. Die Gesellschaft selbst beruht dann aber auf der Faktizität von Geltungsansprüchen, die wir mit unseren kommunikativen Äußerungen erheben. So begründet Adler ganz ähnlich wie der späte Husserl einen der Gesellschaft selbst immanenten Bezug zur Wahrheit von Aussagen und zur Richtigkeit von Normen.

Otto Bauer und Rudolf Hilferding, Karl Renner und Max Adler verstanden sich trotz aller Wissenschaftlichkeit als Parteiintellektuelle, die sich, wenn es darauf ankam, dem disziplinierenden Zwang von Taktik und Organisation unterwarfen. Als Demokraten hatten sie allerdings über die Rolle der Partei eine ganz andere Auffassung als der leninistische Lukacs von Geschichte und Klassenbewusstsein. Wie dem auch sei, die Figur des Parteiintellektuellen gehört zu dem inzwischen historisch gewordenen Milieu linker Weltanschauungsparteien. Nach 1945 konnte es diesen Typus im Westen nicht mehr geben. Wie Willy Brand ist auch Bruno Kreisky aus Skandinavien als ein anderer zurückgekehrt. Es ist auch das Verdienst dieser aus der Emigration zurückgekehrten Sozialdemokraten, dass die Klassengesellschaft sozialstaatlich befriedet und in eine Bürgergesellschaft transformiert worden ist.

Von diesem Hintergrund hebt sich der Typus des zeitgenössischen Intellektuellen, über den ich auf Bitten von Herrn Duffek sprechen soll, deutlich ab: Die nach 1945 auftretenden Intellektuellen – wie Camus und Sartre, Adorno und Marcuse, Max Frisch und Heinrich Böll - ähneln eher den älteren Vorbildern der Partei nehmenden, aber parteipolitisch ungebundenen Schriftsteller und Professoren. Sie lassen sich aus gegebenem Anlass dazu provozieren, ungefragt, also ohne Auftrag und Abstimmung, von ihrem beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch zu machen. Ohne Anspruch auf einen elitären Status können sie sich dabei auf keine andere Legitimation berufen als auf die Rolle eines demokratischen Staatsbürgers.


Der Intellektuelle und seine Öffentlichkeit

Die Wurzeln dieses egalitären Selbstverständnisses gehen in Deutschland auf die erste Generation nach Goethe und Hegel zurück. Die unruhigen Literaten und Privatdozenten aus dem Kreis des Jungen Deutschland und der Linkshegelianer haben das Bild vom freischwebenden, spontan eingreifenden, oft larmoyanten, aufgeregt-polemischen und unberechenbaren Intellektuellen genauso geprägt wie die anhaltenden Vorurteile gegen ihn. Nicht zufällig ist die Generation von Feuerbach, Heine und Boerne, von Bruno Bauer, Max Stirner und Julius Froebel, von Marx, Engels und Kierkegaard in den Jahren vor 1848 aufgetreten, als sich der Parlamentarismus und die Massenpresse unter den Fittichen des Frühliberalismus herausbildeten.

Schon während dieser Inkubationszeit, als sich die Viren der französischen Revolution über ganz Europa ausbreiten, zeichnet sich nämlich die Konstellation ab, in der der Typus des modernen Intellektuellen seinen Platz finden wird. Intellektuelle sind, wenn sie mit rhetorisch zugespitzten Argumenten auf die Meinungsbildung Einfluss nehmen, auf eine resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit angewiesen. Sie brauchen ein mehr oder weniger liberal gesinntes Publikum und müssen sich schon deshalb auf einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat verlassen, weil sie im Streit für unterdrückte Wahrheiten oder vorenthaltene Rechte an universalistische Werte appellieren. Sie gehören zu einer Welt, wo die Politik nicht in Staatstätigkeit aufgeht; ihre Welt ist eine politische Kultur des Widerspruchs, in der die kommunikativen Freiheiten der Bürger entfesselt und mobilisiert werden können.

Es ist einfach, den Idealtypus eines Intellektuellen zu entwerfen, der wichtige Themen aufspürt, fruchtbare Thesen aufstellt und das Spektrum der einschlägigen Argumente erweitert, um das beklagenswerte Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen zu verbessern. Wenigstens die Beschäftigung, der die Intellektuellen, wenn sie sich nicht gerade gegenseitig beschimpfen, am liebsten nachgehen, sollte ich nicht unterschlagen: Sie stimmen in die rituelle Klage vom Niedergang „des“ Intellektuellen nur zu gerne ein. Ich gestehe, dass ich selbst davon nicht ganz frei bin. Vermissen wir nicht die großen Auftritte und Manifeste der Gruppe 47, die Interventionen von Alexander Mitscherlich oder Helmuth Gollwitzer, die politischen Stellungnahmen von Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu, die eingreifenden Texte von Erich Fried oder Günter Grass? Liegt es wirklich an Grass, wenn dessen Stimmen heute kaum noch Gehör findet? Oder verhält es sich vielleicht so, dass sich in unserer Mediengesellschaft erneut ein Strukturwandel der Öffentlichkeit vollzieht, der der klassischen Gestalt des Intellektuellen schlecht bekommt?

Auf der einen Seite hat die Umstellung der Kommunikation von Buchdruck und Presse auf Fernsehen und Internet zu einer ungeahnten Ausweitung der Medienöffentlichkeit und zu einer beispiellosen Verdichtung der Kommunikationsnetze geführt. Die Öffentlichkeit, in der sich Intellektuelle wie Fische im Wasser bewegt haben, ist inklusiver, der öffentliche Austausch intensiver geworden denn je zuvor. Andererseits scheinen die Intellektuellen am Überborden dieses lebensspendenden Elements wie an einer Überdosierung zu ersticken. Der Segen scheint sich in Fluch zu verwandeln. Die Gründe dafür sehe ich in einer Entformalisierung der Öffentlichkeit und in einer Entdifferenzierung entsprechender Rollen.

Die Nutzung des Internet hat die Kommunikationszusammenhänge zugleich erweitert und fragmentiert. Deshalb übt das Internet zwar eine subversive Wirkung auf autoritäre Öffentlichkeitsregime aus. Aber die horizontale und entformalisierte Vernetzung der Kommunikationen schwächt zugleich die Errungenschaften traditioneller Öffentlichkeiten. Diese bündeln nämlich innerhalb politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen, sodass sich die Bürger zur gleichen Zeit mit denselben kritisch gefilterten Themen und Beiträgen befassen können. Der begrüßenswerte Zuwachs an Egalitarismus, den uns das Internet beschert, wird mit der Dezentrierung der Zugänge zu unredigierten Beiträgen bezahlt. In diesem Medium verlieren die Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden.

Die Aussage, dass die elektronische Revolution die Bühne für die elitären Auftritte eitler Intellektueller zerstört, wäre allerdings vorschnell. Denn mit dem Fernsehen, das im wesentlichen innerhalb der nationalstaatlich etablierten Öffentlichkeiten operiert, hat sich der Bühnenraum der Presse, der Zeitschriften und der Literatur nur vergrößert. Gleichzeitig hat das Fernsehen diese Bühne auch verwandelt. Es muss in Bildern zeigen, was es sagen will, und hat den iconic turn – die Wende vom Wort zum Bild – beschleunigt. Mit dieser relativen Abwertung des Wortes verschieben sich auch die Gewichte zwischen zwei verschiedenen Funktionen der Öffentlichkeit.

Weil das Fernsehen ein Medium ist, das etwas sichtbar macht, verschafft es denen, die öffentlich auftreten Prominenz im Sinne von Bekanntheit. Vor der Kamera stellen sich Akteure, was immer sie sonst zum Inhalt des Programms beisteuern, selber dar. Bei zufälligen Begegnungen erinnert sich deshalb der Zuschauer, das Gesicht irgendwann schon einmal gesehen zu haben. Das Fernsehen lädt die Beteiligten, auch wenn es dem Inhalt nach um eine diskursive Veranstaltung geht, zur Selbstdarstellung ein – wie in den vielen und populären talk-shows. Das Moment der Selbstdarstellung der Akteure verwandelt unvermeidlich das urteilende Publikum, das sich vor dem Bildschirm am Streit über Themen von allgemeinem Interesse beteiligt, auch in ein zuschauendes Publikum.

Nicht als käme das nicht der pathologischen Eitelkeit von Intellektuellen entgegen; manche haben sich von der Einladung des Mediums zur Selbstdarstellung korrumpieren und um ihren Ruf bringen lassen. Denn der gute Ruf eines Intellektuellen, wenn er denn einen hat, ist nicht in erster Linie auf Prominenz oder Bekanntheit gegründet, sondern auf eine Reputation, die er sich in der eigenen Zunft, sei es als Schriftsteller oder als Physiker, jedenfalls in irgendeinem Fach erworben haben muss, bevor er von seinem Wissen und seiner Reputation einen öffentlichen Gebrauch macht. Wenn er sich mit Argumenten in eine Debatte einmischt, muss er sich an ein Publikum wenden, das nicht aus Zuschauern besteht, sondern aus potentiellen Sprechern und Adressaten, die einander Rede und Antwort stehen können. Idealtypisch geht es um den Austausch von Gründen, nicht um die inszenierte Bündelung von Blicken.

Vielleicht erklärt das, warum jene Runden aus Politikern, Experten und Journalisten, die sich bei einer dieser fabelhaften Moderatorinnen treffen, keine Lücke lassen, die ein Intellektueller schließen müsste. Wir vermissen ihn nicht, weil alle anderen seine Rolle längst besser ausfüllen. Die Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung führt zur Entdifferenzierung und Angleichung von Rollen, die der inzwischen altmodisch gewordene Intellektuelle einst auseinander halten musste.

Er sollte den Einfluss, den er mit Worten erlangt, nicht als Mittel zum Machterwerb benutzen, also „Einfluss“ nicht mit „Macht“ verwechseln. Aber was könnte ihn in den talk-shows heute noch von Politikern unterscheiden, die die Bühne des Fernsehens längst für einen intellektuellen Wettbewerb um die Besetzung einflussreicher Themen und Begriffe benutzen? Der Intellektuelle war auch nicht als Experte gefragt. Er sollte, ohne das Bewusstsein seiner Fallibilität zu verlieren, den Mut zu normativen Stellungnahmen und die Phantasie zu einfallsreichen Perspektiven haben. Aber was könnte ihn heute noch von Experten unterscheiden, die im Streit mit Gegenexperten längst gelernt haben, für ihre Daten meinungsstarke Interpretation anzubieten? Vom klugen Journalisten sollte sich der Intellektuelle schließlich weniger durch die Form der Darstellung als durch das Privileg unterscheiden, sich nur nebenberuflich um die öffentlichen Dinge kümmern zu müssen. Er sollte nur dann, aber – gewissermaßen als Frühwarnsystem – dann auch rechtzeitig intervenieren, wenn das Tagesgeschehen entgleist.

Damit berühren wir die einzige Fähigkeit, die den Intellektuellen auch heute noch auszeichnen könnte – den avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen. Er muss sich zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind. Das erfordert ganz unheroische Tugenden

- eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens,

- die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen,

- der Sinn für das, was fehlt und „anders sein könnte“,

- ein bisschen Phantasie für den Entwurf von Alternativen,

- und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet.

Das ist – und war immer schon – leichter gesagt als getan. Der Intellektuelle muss sich aufregen können – und soll doch soviel politische Urteilskraft haben, dass er nicht überreagiert. Was ihm seine Kritiker – von Max Weber und Schumpeter bis Gehlen und Schelsky – entgegenhalten, ist immer wieder der Vorwurf der „sterilen Aufgeregtheit“ und des „Alarmismus“. Von diesem Vorwurf darf er sich nicht einschüchtern lassen. Sartre, der einflussreichere Intellektuelle, hat sich in seinem politischen Urteil öfter geirrt als Raymond Aron. Freilich kann der Spürsinn fürs Relevante auch grässlich in die Irre führen. Ein Historiker beispielsweise, der einen seit 1945 überwundenen „politischen Todeskult“ für die Bundesrepublik Deutschland einfordert, kann sich nur blamieren: offensichtlich hat der Mann vom mentalen Kern des Faschismus keine Ahnung.

Die Zukunft Europas

Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig. Warum sollen wir uns über ein so blasses Thema aufregen? Meine Antwort ist einfach: Wenn es nicht gelingt, bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009 die polarisierende Frage nach der finalité, dem Worumwillen der europäischen Einigung zum Gegenstand eines europaweiten Referendums zu machen, ist die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden. Wenn wir um eines faulen Friedens willen das heikle Thema vermeiden und uns auf dem üblichen Kompromisswege weiter durchwursteln, lassen wir der Dynamik der entfesselten Märkte freien Lauf und sehen zu, wie sogar die bestehende politische Gestaltungsmacht der Europäischen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird. Im europäischen Einigungsprozess stehen wir zum ersten Mal vor der Gefahr eines Rückfalls hinter den erreichten Stand der Integration. Was mich aufregt, ist die Lähmungsstarre nach dem Scheitern der beiden Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden. Eine Nicht-Entscheidung in dieser Situation ist eine Entscheidung von großer Tragweite.

Über dieses Thema hätte ich in dem Land, das heute den Vorsitzenden des Europäischen Rates stellt, gerne gesprochen, wenn ich nicht die Einladung zur Reflexion auf die Rolle des Intellektuellen erhalten hätte. Zu guter letzt führt mich aber, wie Sie sehen, das eine doch noch zum anderen.

Drei Probleme, die uns auf den Nägeln brennen, verknoten sich in dem einzigen Problem der fehlenden Handlungsfähigkeit der Europäischen Union:

(1) Die weltwirtschaftlichen Bedingungen, die sich im Zuge der Globalisierung verändert haben, verwehren heute dem Nationalstaat einen Zugriff auf die Steuerressourcen, ohne die er die eingewöhnten sozialpolitischen Ansprüche, überhaupt die Nachfrage nach kollektiven Gütern und öffentlichen Dienstleistungen nicht mehr in gebotenem Umfang befriedigen kann. Andere Herausforderungen wie die demographische Entwicklung und eine verstärkte Immigration verschärfen die Situation, aus der es nur einen offensiven Ausweg gibt: die Zurückgewinnung der politischen Gestaltungskraft auf supranationaler Ebene. Ohne konvergente Steuersätze, ohne eine mittelfristige Harmonisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken überlassen wir das Schicksal des europäischen Gesellschaftsmodells fremden Händen.

(2) Die Rückkehr zu einer rücksichtslos hegemonialen Machtpolitik, der Zusammenstoß des Westens mit der islamischen Welt, der Zerfall staatlicher Strukturen in anderen Teilen der Welt, die langfristigen sozialen Folgen der Kolonialgeschichte und die unmittelbar politischen Folgen einer misslungenen Dekolonisierung – das alles signalisiert eine äußerst riskante Weltlage. Nur eine Europäische Union, die außenpolitisch handlungsfähig wird und neben den USA, China, Indien und Japan eine weltpolitische Rolle übernimmt, könnte in den bestehenden Institutionen der Weltwirtschaft eine Alternative zum herrschenden Washington Consensus fördern und vor allem innerhalb der UNO die überfälligen, einstweilen von den USA blockierten, aber auf deren Unterstützung angewiesenen Reformen vorantreiben.

(3) Die seit dem Irakkrieg sichtbar gewordene Spaltung des Westens hat ihre Ursachen auch in einem Kulturkampf, der die amerikanische Nation selbst in zwei fast gleich große Lager teilt. Als Folge dieser mentalen Verschiebung verrutschen die bisher geltenden normativen Maßstäbe der Regierungspolitik. Das kann die engsten Verbündeten der USA nicht gleichgültig lassen. Gerade in kritischen Fällen des gemeinsamen Handelns müssen wir uns aus der Abhängigkeit vom überlegenen Partner lösen. Auch deshalb braucht die Europäische Union eigene Streitkräfte. Bisher haben sich die Europäer bei Einsätzen der Nato den Anweisungen und Regeln des amerikanischen Oberkommandos untergeordnet. Nun müssen wir uns in die Lage versetzen, auch bei einem gemeinsamen Vorgehen unseren eigenen Vorstellungen von Völkerrecht, Folterverbot und Kriegsstrafrecht treu zu bleiben.

Deshalb muss sich Europa, wie ich meine, zu einer Reform aufrappeln, die der Union nicht nur effektive Entscheidungsverfahren, sondern einen eigenen Außenminister, einen direkt gewählten Präsidenten und eine eigene Finanzbasis verschafft. Diese Forderungen könnten der Gegenstand eines Referendums sein, das sich mit der nächsten Wahl zum europäischen Parlament verbinden lässt. Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die „doppelte Mehrheit“ der Staaten und der Stimmen der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mitgliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die Reform entschieden hat. Europa würde sich damit vom Modell des Geleitzuges verabschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt. Auch in einem Europa von Kern und Peripherie würden natürlich die Länder, die es vorziehen, einstweilen am Rande zu bleiben, die Option behalten, sich jederzeit dem Zentrum anzuschließen.

Mit diesen Stichworten weiß ich mich in Übereinstimmung mit dem belgischen Ministerpräsident Guy Verhofstadt, der soeben ein Manifest zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ veröffentlicht hat. An diesem Beispiel sehen Sie, meine Damen und Herren, dass Politiker, die die Nase vorn haben, Intellektuelle ins Schlepptau nehmen können.