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ESSAY

Poser, Hans: Strukturen als Denkformen

Hans Poser:

Strukturen als Denkformen

 Kants Gedankenformen

 Daß Denkformen als Bedingung der Mög­lichkeit der Erkenntnis dem Erkenntnis­gegenstand eine Form verleihen, die al­ler­erst ermöglicht, ihn zum Gegenstand des Denkens zu machen, ist uns seit Kants kopernikanischer Wende vertraut. Denk‑ oder Gedankenformen (wie Kant sie nennt) sind als Kategorien die fast aller In­haltlichkeit beraubten eingeborenen Ideen der platonistisch‑rationalistischen Tradi­tion. Gewonnen sind sie aus der Ur­teilstafel, die von Kant als die vollständige Wiederga­be des Verstan­desvermögens gesehen wird, um Subjekt und Prädikat eines Urteils ‑ die ja im Denken etwas Ge­schiedenes sind ‑ zur Synthese zu brin­gen und auf eines, den Gegenstand, zu bezie­hen. Damit dies nicht nur eine Schi­märe des Denkens ist, sondern ein sachhal­tiges Urteil, bedarf es einer be­sonderen Art des Umsetzens der Denkfor­men in Bezug auf das Material unserer Affektionen unter Zuhilfenahme der Zeit, etwas, das Kant als den Schematismus der reinen Verstandes­begriffe bezeichnete. Durch ihn wird dem Gegen­stand der Erfah­rung jene Struk­turierung aufgeprägt, vermö­ge derer wir ihn und damit im Individuellen das Allge­meine erkennen. Denkformen in-duzieren so eine Struktur im Objektbereich, und diese wiederum macht Wissenschaft mög­lich, als, wie Kant sich ausdrückt, ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Er­kenntnis.

Kants Wende löste die Philosophie von der bis dahin unverzichtbaren Voraussetzung, die Erkenntnisfähigkeit des Menschen an seine Gottgeschaffenheit zu binden, wenn eine adaequatio von res und intellectus erklärbar sein sollte. Die cartesische res cogitans wurde erkenntnistheoretisch auto­nom. Diese Autonomie hat ihren Preis, droht doch nun die Beliebigkeit subjekti­vistischer Setzungen an die Stelle der göttli­chen Wahl zu treten. Dem sucht Kant zu entgehen, indem er die unendliche Fülle der Individualität leib­nizscher Monaden zum transzendentalen Subjekt zusammen­zurrt, während als Trä­ger der Individualität das empirische Sub­jekt zurückbleibt. Das tran­szendentale Subjekt als Inbegriff des ver­nünftigen "Ich denke" entgeht dem Subjekti­vismus durch die Denkformen, die ‑ als logikbasiert ‑ allen denkenden Wesen ge­mein sein müs­sen. Denkformen sind damit in Kants Verständnis (neben den Formen der sinn­lichen Anschauung) die einzigen Formen, die es ermöglichen und erlauben, Vernunft und Erfahrung zusam­menzufügen und auf eine rationale Weise über unsere Welt zu sprechen.

Kants Voraussetzungen können wir heute in mehrfacher Hinsicht nicht mehr teilen; denn erstens wird mit den Kategorien als Denk­formen die aristotelische Logik ab­solut ge-setzt, sie erscheint als einzige Form der Logik und als die einzig mög­liche Struktu­rierung des Gegenstandes. Zweitens wird mit dem Schematismus eine in ihrem Kern newtonsche Zeitvorstellung, gemäßigt zur Anschauungsform, zur einzig möglichen Gestalt des Aufprägens einer kategorialen Struktur auf ein Material. Drittens ist unter dem Druck wis­senschaftshistorischer Argu­mente ‑ es sei an Duhem, Kuhn und die Folgen erinnert ‑ ein Wissenschaftsverständ­nis entstanden, das die un­ausweichliche historische Ge­bundenheit jeder Wissenschaft ernst nimmt. Eben hier­aus erwächst heute das Problem, wie be­gründete Erkenntnis in den Wissenschaften möglich sein soll, denn der Anspruch aller Wissenschaften ist ge­blie­ben, das jeweils gesichertste Wissen einer Zeit zu verwalten. Wie aber läßt sich, ohne in einen völligen Subjektivismus zu gera­ten, der Gedanke der kopernikanischen Wende Kants aufrecht erhalten, um die Erkenntnismöglichkeit be­gründen zu kön­nen? Oder genauer noch, wie läßt sich auch jetzt noch sagen, daß es Denkformen sind, die die Strukturen des Erkenntnis­gegen­standes bestimmen? Nur wenn sich dies beantworten läßt, ist der Beliebig­keit eines Subjektivismus in den Wissen­schaf­ten in Gestalt eines anything goes Einhalt gebo­ten.

Whiteheads Ideenschemata

Einen ersten umfangreichen Neuansatz, der der Geschichtlichkeit menschlichen Welt­verständnisses Rechnung trägt, hat White­head entwickelt. "Die wahre Methode phi-losophischer Konstruktion", schreibt er in seinem Vorwort zu Process and Reality, "besteht darin, das bestmögliche Gedan­ken-schema zu entwerfen und auf der Grundlage dieses Schemas unbeirrt die Interpretation der Erfahrung zu er­forschen." Scheme of Ideas oder Scheme of Thought nennt er sie, die sowohl hin­sichtlich der Funktion der Vernunft wie im geschichtli­chen Abenteuer der Ideen be­stimmend sind; denn sie be­stimmen die "Logik des Entdec­kens", wer­den doch unsere Meinungen und Überzeu­gungen beurteilt, indem wir sie in ein sol­ches Schema einordnen, das "(a) weitgehend mit der Erfahrung überein­stimmt, (b) nir­gendwo mit ihr in Konflikt gerät, (c) auf kohärenten Grundbegriffen [categoreal notions] beruht und (d) metho­dologische Konsequenzen hat". Der entscheidende Punkt eines solchen Gedan­kenschemas sei, daß es einen Zusammen­hang zwischen unseren Grundbegriffen und damit "ein verbessertes Verständnis der Welt" durch einen höheren Grad der Be­stimmtheit her­vorbringe. Darum sei das "Hervor­bringen eines Gedankenschemas eine der bedeutend­sten Leistungen der spe­kulativen Vernunft", eine Leistung, die zur Entfal­tung der Wis­senschaften von den frühen Griechen bis zu den abstraktesten Theorien der Gegenwart geführt hat. Dies ist ganz im Sinne Kants zu verstehen, denn gegen den empiristischen Primat der Beob­ach­tung erklärt Whitehead, entscheidend sei, "daß die Entwicklung ab-strakter Theorien dem Verständnis der Tat­sachen voraus­geht." Zum geschichtlichen Fortgang der Wissen­schaften, ja der Zivi-lisation, kommt es also vor allem durch die kreative Ent­wicklung immer neue Gedan­kenschemata; und White­heads Durch­gang durch diese Geschichte als Adventures of Ideas läßt sich als eine Ge­schichte der Ge­danken­schemata lesen.

Strukturen als Denkformen

Hinsichtlich der Wissenschaften ‑ und um sie ging es Kant wie Whitehead ‑ läßt sich die Stelle, wo Strukturen als Denkformen aufgesucht werden sollen, so bestimmen: Jede Wissenschaft ist in ihrer Zeit und im Rahmen eines Forschungsprogrammes para-digmenorientiert. Diese Orientierung erfolgt auf zwei Stufen durch methodolo­gische Festsetzungen: Die Festsetzungen erster Stufe bestimmen den Wissenschaftsgegen­stand, die Wissensquellen, die Methoden der Aus­sagenüberprüfung, die zulässige Gestalt des Aussagenaufbaus etc. Diese dis­ziplinspezifischen Festsetzun­gen sind histo­rischen Änderungen unter­worfen, und zwar, wie die Wis­senschafts­geschichte gezeigt hat, aufgrund von Ar­gumenten. Diese nun stüt­zen sich auf Festsetzungen zweiter Stufe, welche, ohne explizit for­muliert zu sein, auszuloten gestatten, ob eine vorgeschlagene Än­derung der Regeln der ersten Stufe wis­senschaftskonform ist oder nicht. So wer­den die Festsetzungen erster Stufe auf der Ebene der Festsetzun­gen zweiter Stufe begründet. Worauf aber stützen sich die Regeln der zweiten Stufe? Ganz allgemein kann man sagen, daß sie ihre Legitimation aus der Weltsicht einer Zeit erfahren, als denjenigen Grundüber­zeugungen, die einer Kultur in einer Epo­che gemeinsam sind ‑ mögen die subjek­tiven Weltanschauungen auch diffe­rieren. Zwar ist auch die Welt­sicht dem histori­schen Wandel und einem langfristigen Einfluß der auf sie bauenden Wissenschaf­ten unterwor­fen; doch gerade diese Verän­derung geht, ähnlich den Än­derungen in der Sprache, vergleichsweise langsam vonstat­ten.

Fragt man nun, wo Denkformen als Struk­turen, die letztlich Wissensvorstellungen begründen, angesiedelt sind, so wird es sinnvoll sein, sie im Umkreis der Welt­sicht zu suchen, ‑ jedenfalls dann, wenn durch sie viererlei gewährleistet ist:

1. Als Denkformen muß es sich um Struk­tu-ren des Denkens handeln, die ähnlich den Kantischen Kategorien und White­heads Ge-dankenschemata zur Struk­turierung des Zusammenhangs der Ge­genstände der Er­kennt­nis taugen.

2. Sie müssen Argumentationsstrukturen be-stimmen, damit sich Begründungen und Er-klärungen ihrer bedienen können.

3. Damit sind sie intersubjektiv, ohne doch ein transzendentales Subjekt voraus­zu­setzen.

4. Die Denkformen müssen zugleich eine Extrapolation erlauben, die Weltbild­cha­rakter hat.

Solche Strukturen sind als Argumen­tations­strukturen nicht wahr oder falsch, doch sollen sie auf der Ebene der Wis­senschaften eine solche Unterscheidung ermöglichen.

Das angeschnittene Problem ist nicht neu. Die Kantkritik des 19. Jahrhunderts hat es gesehen, und mit aller Klarheit hat es Ernst Cassirer erkannt, als er sich genö­tigt sah, für mythisches Denken präkatego­riale Denkformen anzunehmen, ‑ was ersichtlich eine Historisierung der Denk­formen bedeu­tet, die in der transzenden­talen Deduktion nicht nur nicht vorgesehen ist, sondern die ihr widerspricht. Ähnlich hat Dilthey auf dem Hintergrund der He­gelschen Auswei­tung des Begriffs der Denkform diese mit dem Leben in seiner Geschichtlichkeit zu­sammengebracht, was in Sprangers Theorie der Lebensformen seinen Niederschlag fand; vermutlich hat dort Wittgenstein seinen Begriff der Le­bensform entlehnt. Entschei­dend aber ist die Einsicht Hans Leisegangs von 1928, daß es unterscheidbare Typen von Denk­formen gibt. Er arbeitet sie an hi-storischen Beispielen heraus, um sie ideal­typisch darstellen zu können. Leisegang ein Stück weit zu folgen, ist deshalb angezeigt, allerdings verbunden mit einer veränderten Akzentsetzung.

 

Typen von Denkformen bei Leisegang

Unter Denkformen versteht Leisegang "das in sich zusammenhängende Ganze der Ge-setzmäßigkeiten des Denkens". Er be­zieht dies auf das Individuum ‑ und ver­gibt  damit gerade das, worum es Kant ging, nämlich die Möglichkeit einer Er­kenntnisbegründung. Ein  weiterer Nach­teil des Leisegangschen Ansatzes scheint in der phänomenologischen Zugehensweise zu be-stehen, der Wahl von typischen Ver­tre­tern, an denen herausgearbeitet wird, wel­cher Art die jeweils betrachtete Struk­tur ist. Dies läßt sich jedoch nur um den Preis eines Dogma­tismus umgehen; denn man müßte einen vollständigen Überblick über alle überhaupt denkbaren Strukturen haben, um einen sy-stematischen Ansatz zu finden. Hierfür al-lerdings fehlt jede Grund­lage. Erst im Nachhinein läßt sich eine Ordnung aus­ma­chen: der eher phänomeno­logische An­satz bleibt uns also nicht er­spart.

1. Der Gedankenkreis

Eine der ältesten Formen, Gedanken zu ordnen, ist die zyklische Gestalt. Charak­teristi­sche Vertreter finden wir von den Vorsokra­tikern bis heute.‑ Drei ganz unter­schiedliche Beispiele unter den vielen, die Leisegang heranzieht, mögen dies verdeut­lichen. Hera­klit schreibt im Fragment 22 B 10:

"Aus Allem Eines und aus Einem Alles".

Diese Struktur, ABBA, steht geradeso am Beginn des Johannesevangeliums:

"Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos".

Verbunden mit einer Deutung des inhären­ten Verständnisses lesen wir bei Goethe

 

"Eh' sich nicht rundet zu einem Kreis,

Ist kein Wissen vorhanden.

Ehe nicht einer alles weiß,

Ist nicht die Welt verstanden."

Systole und Diastole, ewige Wiederkehr des Gleichen, coincidentia oppositorum ‑ diese Figur finden wir nicht nur im Klei­nen, in kurzen Zeilen, sondern in ganzen Werken und Gedankengebäuden als Struk­turprinzip. Die schulmäßige Barockarie hat die Form ABA, die klassische Sonate wiederholt am Ende die beiden Themen des Anfangs; das Strukturprinzip wird hier zu einem ästheti­schen Prinzip und zur Stilform. Literarisch gilt es immer noch als eine gelungene Fi­gur, am Ende den An­fang wieder aufzuneh­men.

In der Philosophie mag der Eindruck ent­stehen, die Figur des Gedankenkreises finde sich nur dort, wo an die Stelle mythischer Kreislaufvorstellungen (etwa der Zeit, des Umschwungs der Gestirne oder des Lebens, das sterbend neues ge­biert) starke mystische Elemente getreten sind. So treffen wir im Neoplatonismus, bei Meister Eckhart und Jakob Böhme diese Figur, die doch jeder aristotelischen Logik zuwider ist. Wieso aber hat sie argumentative Kraft? Der inne­re Zusam­menhalt ist unmittelbar erkennbar, denn er beruht auf der Vorstellung, "daß das sinn­volle Gefüge der menschlichen Rede mit dem sinnvollen Gefüge der Welt we­sens­gleich sei" (Leisegang). Natürlich steht dahinter der Gedanke einer tiefgehenden Übereinstimmung von Denken und Sein, wie wir sie bei Parmenides erstmals for­muliert finden und wie sie Aristoteles für seine Logik ebenso in Anspruch nimmt, nur an anderer Stelle. Damit aber ist diese Denkform durchaus mit dem Anspruch ver-bunden, universell zu sein.

Man sage nicht, alles wissenschaftliche Denken habe die Unsinnigkeit gerade sol­cher Strukturierung gezeigt: Goethe selbst verstand sich als Naturwis­senschaftler, und verwandte Gedanken finden wir nicht nur in der romantischen Naturphilosophie, sondern auch in der romantischen Naturwissen­schaft; ebenso haben zyklische Kosmosmo­delle der Ge­genwart hier ihre Wurzeln! Auch Joseph Schumpeters Theorie der Konjunkturzyk­len mit ihrer Überlagerung von Kontra­tieff‑ und Juglarzyklen, deren Kreislauf­charakter zu begründen er sich weigert, bezieht ihre Plausibilität allein aus der Akzeptanz der Kreisform als eine ele­men­tare Daseinsform. Schließlich ist der Kreis, der in sich kehrende Zirkel, die me­thodo­logische Grundfigur der Hermeneutik ‑ jedenfalls so lange, als der Gedanke eines völligen Verstehens eines Textes noch keine Schwierigkeiten bereitet oder der Abschluß in einer Horizontverschmelzung für möglich gehalten wird.

Diese Denkform in ihrer Kreisstruktur ver­bindet Begriffe naturgemäß nicht im Sinne einer aristotelischen Definitionslehre von genus proximum und differentia speci­fica, denn die Begriffe bezeichnen in der zykli­schen Denkform stets einen unauflös­lichen Zusammenhang von Teil und Gan­zem, sie verweisen in eins auf einen leib­lich‑seeli­schen und einen kosmischen Zusammen­hang: Ein und Alles, Licht und Finsternis, Leben und Tod ‑ aber nicht als bloßer Ge­gensatz, sondern als Pole im ewigen Um­schwung. Die Begriffe sind dabei aufeinan­der bezogen, bezeichnen eine Dynamik und keine Statik, und sie stehen als Metaphern im Sinne von ver­kürzten Strukturanalogien für einen Ge­samtzusammenhang des Da­seins. Die Argumentationsstruktur muß darauf ab­zielen zu zeigen, daß wir es mit einer geschlos­senen Kreisfigur A‑B‑A zu tun haben. Man wende nicht ein, dies sei keine Ar­gumentation: Im Mittelalter galt der Auf­weis einer Analogie als Beweis, weil er als Ausdruck der Harmonie der Schöpfung durch den Schöpfer gesichert war. Man sage auch nicht, für uns Heutige sei dies kein Beweis, denn in den Geistes­wis­senschaften wird man ohne die her­meneu­tische Methode nicht auskommen, weil jedes Verstehen in das polare Ver­hältnis von Ganzem und Teil eingebunden ist und das Ganze nicht anders als über den Durchgang durch die Teile faßbar wird. Immer noch auch empfinden wir den Umschwung der Gestirne als den Aus­druck des Fast‑Ewigen, immer noch hoffen wir, nach Krankheit wieder gesund zu werden. Überall, wo wir Organismus­vorstellungen in die Natur tragen, kehrt diese zyklische Denkform wieder ‑ und alle Vorstellungen von Müllrecycling haben hier ihre Wurzeln. Der Kreis als Denkform ist so zugleich Argumen­tationsform, Lebensform und Weltbild!

2. Die dialektische Denkform

 

Scheinbar nah verwandt mit der Zyklus­form ist die Dialektik, arbeitet sie doch geradeso mit Gegensatzpaaren, die nicht kontradikto­risch, sondern konträr und inhaltlich zu ver-stehen sind.

Wenn ich weiß, was ein Bleistift ist, weiß ich zugleich, was kein Bleistift ist ‑ und dies bezogen nicht auf alles in der Welt, sondern sinnvollerweise auf andere Schreibgeräte. Diese wiederum kann ich von Nicht‑Schreibgeräten unterscheiden usf. Ersichtlich haben wir es hier auch mit einem Prozeßgedanken zu tun, aber er führt nicht von der Thesis über die An­tithesis zur Thesis zurück, sondern zur Synthesis, wel­che die beiden voraufgegan­genen Positionen "aufhebt": Wir gelangen zu einer ganz ande­ren, vorantreibenden, zu immer größe­rer Höhe aufsteigenden Dyna­mik, der als Er-kenntnisdynamik be­kanntlich zugleich eine Dynamik im Er­kenntnisobjekt korres­pon­diert. Voran­getrieben durch inhaltliche Entgegen­setzungen (oft unzutreffend, ja irreführend als Widersprüche bezeichnet), korrespon­diert diese Denkform durchaus einer Grundfigur des Lebens, denn auf jede gegebene Situation reagieren wir, wobei das Resultat nicht eine Rückkehr in den alten Zustand ist, sondern sich als Spirale erweist, denn nie wird der Ausgangspunkt wieder er-reicht: Entweder bin ich ein anderer ge­wor­den oder der Fluß ist ein anderer gewor­den...

Hegels Strukturprinzip hat Leisegang, Hegel wörtlich nehmend, als "Kreis von Kreisen" gesehen, weil dieser schrieb, daß jedes einzelne Glied als "Beseeltes der Methode... die Reflexion in sich" sei, die "in den An­fang zurückkehrt"; aber das Bild ist irrefüh­rend, geht doch die Syn­thesis gerade nicht mehr in der Thesis auf, weil diese Rückkehr in den Anfang "zu­gleich der Anfang eines neuen Gliedes ist". So schreibt Hegel schon am Beginn seiner Logik, in Wahrheit sei weder das Sein, noch das Nichtsein, sondern das Werden. Dieses Werden ist mit klassi­schen Logikansätzen nicht einzufangen. Eben darum war es notwendig, dem bloßen Begriff der geschaf­fenen als der besten der Leibnizischen mög­lichen Welten das von Kant so gezauste Wolffsche Complemen­tum possibilitatis hinzuzufügen, weil die rein begriffstheoreti­sche Struktur nicht in Exi­stenz und Wandel umzusetzen ist. Doch auch der Kantische Schematismus der Zeit reicht nicht aus, ein Werden auf Begriffe zu gründen, denn er induziert eine Abfolge im Sinne einer Ord­nung, nicht aber, wie Kant glaubt, eine Dynamik. Die Dialektik als Denkform ist also sehr wohl eine eigenstän­dige und irre­duzible Struk­turierung. Von der Kreisform nimmt sie das Entgegensetzen auf, doch wandelt sie den Kreis zur Spirale, weil der Anfang gerade nicht wieder er­reicht wird, sondern ein durch den Kreis­gang veränder­ter Zu­stand. Begriffe werden hier nicht in Ge­gensatzpaaren, sondern in inhaltlicher Entgegensetzung im Hinblick auf das beide Verbindende verstanden, Aussagen entfalten eben dieses, und die argumen­tative Struktur besteht im Aufweis des Zusammenhangs von Ausgegrenztem und Ganzem, das im Prozeß erst entsteht und zugleich in seiner Überholbarkeit durch­schaut wird. Die Struk­tur verweist damit in jeder Aktualisierung über sich hinaus und schließt insofern das dynamische Element ein. ‑ Daß diese Denk­form eine Weltsicht bestimmt, muß nicht entwickelt werden.

 

3. Die Begriffspyramide

Eine begriffliche Struktur, die seit Platons Dihairesen des Sophistes bekannt ist und von Porphyrios (im Arbor Porphyrii) zum methodischen Werkzeug gemacht wurde, ist die Begriffspyramide. Sie steht im diametra­len Gegensatz zum dynamischen Werden der Dialektik. Voraussetzung ist, daß sich Eigenschaften einer Sache (eines Dreiecks als Dreieck, einer Pflanze qua Pflanze etc.) von solcher Art finden, daß man die Fülle der möglichen hinzutreten­den Eigenschaften in einer Pyramide an­ordnen kann (wobei Mehrfach-­Aufglie­derungen zulässig sind). Das geläufigste Beispiel stellen die Klas-sifikationen der Pflanzen und Tiere dar: oben stehen die allgemeinsten Begriffe ‑ 'Pflanze' bzw. 'Tier' ‑, unten stehen die Individuen. Die Begriffspyramide bringt also Ordnung in die unendliche Vielzahl der Individuen. In der Pyramide gibt es kein Werden, keine Coincidentia oppositorum, kein Mehr oder Weniger, sondern nur schar­fe klas­sifikatorische Merkmale. Gerade dar-um gilt hier die aristotelische Syllogistik, die nichts anderes ausdrückt als die Lagebe­ziehungen der Begriffe in der Pyramide zu-einander:

Alle Menschen sind sterblich.

Sokrates ist ein Mensch.

Sokrates ist sterblich.

 Die Ordnungsstruktur induziert also nicht nur ideal scharfe Abgrenzungen (und führt damit, ontologisch gesehen, ins Reich der platonischen Ideen), sondern mit ihnen die aristotelische Syllogistik als Logik einstel­liger Prädikate für Aussagen vom Typ "A ist B". So ist, wie Leisegang treffend sagt, Platon als Schöpfer der Begriffspyramide zugleich der Schöpfer des logischen Ur­teils und des logischen Denkens. Sokrates zwingt seine Gesprächspartner, mit 'ja' und 'nein' zu antworten, um Begriffe sinnvoll entwik­keln und anwenden zu können. So denkt Aristoteles in der Be­griffspyramide. Der Unterschied zu Platon besteht nur darin, daß Aristoteles immer den in einzelnen Schlüs­sen aktualisierten Teilausschnitt betrachtet, während Platon stets auf den Gesamtzusam­menhang aus ist, denn die Ordnung des Kosmos ist die Ordnung des Reiches der Ideen. Ebenso induziert der Gedanke einer Abgeschlos­senheit der Begriffspyramide in der ober­sten Idee der Kalokagathia den scholasti­schen Gedanken des Ens et Unum conver­tuntur wie des Omne ens est unum, verum, bonum als Zusammenfassung der Tran­szendentalia oder Postprädikamente, das, was über die Kategorien hinausgeht und auf diese anwendbar ist, was sie also in die Begriffspyramide integriert.

Die Pyramide dient dabei nicht nur der Begründung der Kategorien, sondern gera­deso der Systematisierung der Wissenschaf­ten, und zwar von der Metaphysik bis zur Ethik. Im Bereich der Physis, die dazwi­schen liegt, sichert sie, daß eine pyra­midale Begriffsstruktur zugleich als natür­lich ver­standen wird ‑ wie dies Linné von seiner Pflanzenklassifikation glaubte sagen zu können: Das Wirkliche ist auch hier das Vernünftige. Damit er­weist sich ein schein­bar einfaches Klas­sifikations‑ und Struktu-rierungsinstrument als begriffliche Stufung aufsteigender Abstrakta, als argumentative Grundlage syllogistischer Schlußweisen und als welt­bildbestimmende Vorstellung von der idealen Existenz der den Dingen inne­woh­nenden, sie konstituie­renden Formen oder Essenzen. Und mehr noch, die logische Struktur der Begriffshie­rachie erlaubt es, überall Gründe ‑ rationes ‑ anzunehmen. Damit gilt der Leibnizsche Satz vom Grund in der Welt, und mit ihm die ent­scheidende Bedingung, die Wissen­schaft als ein System begründeter Erkennt­nis ermöglicht.

 

4. Die traditionelle axiomatische Denkform

Seit Euklid ist der Gedanke geläufig, die Begründung des Wissens in einem axioma­tischen Aufbau zu suchen. Im 17. Jahr­hun­dert wurde dieser Zugang verallge­mei­nert und zur wissenschaftlichen Metho­de schlechthin erhoben. Das hatte Kant im Auge, als er Wissenschaft als ein nach Prinzipien geordnetes ‑ nämlich auf Axio­me aufgebau­tes ‑ Ganzes der Erkenntnis defi­nierte. Die Struktur unterscheidet sich maß­geblich von jener der Begriffs­pyramide, handelt es sich doch bei den Grund­elemen­ten um Aussa­gen, nicht um Be­griffe; die in die Axiome eingehenden Begrif­fe werden entweder vorausgesetzt (bei Euklid stehen sogenannte Definitionen am Anfang, die als Hinweis auf einen Inhalt figurieren, den wir ohnehin im Denken verfügbar haben; in der klassi­schen Me­chanik, etwa bei Newton, werden Länge, Zeit und Masse ebenfalls als Grund­größen vorausgesetzt und ‑ außer­halb der Mecha­nik ‑ beschrieben); oder aber sie werden ‑ wie bei Hilbert ‑ als implizit definiert angesehen, nämlich als durch die Axiome in ihrem Zusammen­hang gegeben. Dem zweiten Falle aller­dings liegt ein ganz anderes Verständnis dieser Denkformen zugrunde. Betrachten wir deshalb zunächst die erste Gestalt, wie sie von Euklid bis zum 19. Jahrhundert herrschend war.

Mit der axiomatischen Denkform waren in der Tradition zwei Sichtweisen unmittelbar verbunden:

1. Alle Erkenntnis eines gegebenen Berei­ches ist auf einige wenige Grundaussagen, die Axiome, dergestalt rückführbar, daß erstere in Ableitungsketten aus letzteren hergeleitet werden kann. Hieraus resultiert die Forderung nach Vollständigkeit eines Axiomensystems.

Die Axiome selbst sind keiner Begründung bedürftig, weil sie dem Sachkundigen als wahr einsichtig sind.

Die beiden scheinbar systemimmanenten Voraussetzungen haben weitreichende Konsequenzen; denn sobald angenommen wird, unsere Erkenntnis sei ausschließlich von dieser Art, wird umgekehrt vom Er­kenntnisgegenstand (von der Mathematik wie von der Welt) unterstellt, daß er mit den Mitteln einer cartesischen Mathesis universalis oder einer Leibnizschen Scien­tia generalis erkennbar sei: Die on­tologische Struktur der Erkenntnis­gegenstände ist des-halb die durchgängige Ordnung nach Prinzi­pien!

Wie im Falle dieser Denkform eine Ar­gu­mentation beschaffen ist, muß nicht erläutert werden: Sie beruht durchgängig auf einer Deduktion aus den Axiomen. Von den Grundbegriffen abgesehen fun­gieren Begrif­fe dabei nur als Abkürzungen und sind eigentlich überflüssig; alle Last verlagert sich auf die Axiome. Auch das damit ver­bundene Weltbild ist unmittelbar ablesbar: Die Welt ist im Grundsatz er­kennbar, selbst wenn es dem menschlichen Denken im Fal-le der Tatsachenwahrheiten nicht gelingt, die hierfür erforderlichen unendlichen kom­plexen Ableitungen vor­zunehmen. Für Gott aber sind alle Wahr­heiten analytisch, und einem Laplaceschen Dämon, der eine voll­ständige Zu­standsbeschreibung der Welt für einen einzigen beliebigen Augenblick be­sitzt, sind alle vergangenen und alle zukünf­tigen Zustände der Welt berechenbar.

 

5. Die axiomatische Denkform heute

Die Einstellung zu Axiomensystemen hat sich radikal gewandelt, seit Gauß, Bolyai und Lobatschewski erkannten, daß neben der euklidischen auch nichteuklidische Geometrien möglich sind: Axiomensy­steme gabeln sich ‑ und zwar nicht nur in der Geometrie, sondern geradeso in der Men­genlehre, in der Wahrscheinlich­keitstheorie, ja selbst in der Logik, und dies, ohne daß sich ein Hypersystem in Gestalt einer Axio­mensystempyramide angeben ließe. Damit ist der Gedanke hinfällig, Axiome seien wahre, evidente Grundaussagen. Ebenso kann Vollständig­keit nur noch intern (syn­taktisch oder semantisch) betrachtet werden. Dem ent­spricht der formalistische Gedanke Hil­berts, Axiome als implizite Definitionen aufzufassen und ihre Widerspruchsfreiheit zum entscheidenden Kriterium ihrer Zuläs­sigkeit und der Existenz der so konstituier­ten Gegenstände zu machen. Gerade die Einsicht in die Offenheit und in die prin­zipielle Unvollständigkeit aller etwas kom­plexeren Axiomensysteme führt nun zu der Möglichkeit der Verzweigung in unter­schiedliche Geometrien, Mengentheorien und sogar Logiken: Kein Bereich formaler Strukturwissenschaften ist hiergegen gefeit.

Was aber bedeutet dies für Denkformen? In einer engeren Perspektive läßt sich zunächst so argumentieren: Kant ging in seinen Kate­gorien von der aristotelischen Logik aus. Wenn nun an deren Stelle andere und reich­haltigere Logiksysteme treten, gelangen wir entsprechend zu an­deren und reichhaltigeren Urteilsstrukturen und ‑ wenn man wie Kant eine zugehörige Urteilstafel entwerfen woll­te ‑ zu kor­respondierenden Kategorien. Dies ist frag­los ein bedeutsamer Schritt, denn er er­laubt uns, an der Grundvorstellung festzu­halten, daß das erkennende Subjekt den Er-kenntnisgegenstand strukturiert und damit in gewissem Sinne konstituiert; denn das strukturelle Netz der betreffenden logischen Formen wird über das Material geworfen. Dennoch ändert sich radikal das Verständnis von der Funktion solcher axiomatischen Denkformen, denn da es nicht mehr bloß eine einzige Logik gibt, die die Basis der Denkformen für das transzendentale Subjekt bildet, ist ein Relativismus der Denkformen unaus­weichlich, und dies um so mehr, als sich Axio­mensysteme kreativ verändern, er­weitern und ergänzen lassen, solange die Wider­spruchsfreiheit gewahrt ist. Natürlich bleibt es bei der Deduktion als Ideal der Ar­gumentation, aber ersichtlich kann sie nicht für eine Begründung ausreichen, weil weder die Grundaussagen ‑ die je gewähl­ten Axio­me ‑ noch die durch sie auf­gespannte Struk­tur Wahrheit und Evidenz für sich in An­spruch nehmen können. Wir sind also inner­halb der Denkformen selbst mit der Rela-tivismusproblematik konfron­tiert. Dies er­zwingt als erkenntnis­theoretische Konse-quenz, die kantische Leitidee einer transzen­dental auszuloten­den Grundlage aufzugeben und zu einem relativen Apriori überzuge­hen. Mehr noch, die Möglichkei­ten, Axio­mensysteme um­zumodeln, gar gänzlich neue zu ent­wickeln, verlangt, eine formale Krea­tivität ernst zu nehmen.

Das eben gewonnene Resultat betrifft nun keineswegs nur Axiomensysteme. Wir müs­sen erkennen, daß jede formale Struk­tur geeignet sein kann, als Denkform zu fungie­ren. Denkformen selbst sind also der kreati­ven Ausweitung fähig! Dies ist der Grund, weshalb eine systematische Deduk­tion aller möglichen Denkformen mißlin­gen muß und uns nur eine phänomenolo­gische Zugehens­weise offen steht, welche die jeweils vorlie­genden Denkformen sicht­bar macht. So kön­nen die behandelten Denkformen nur als Beleg gelten, nicht aber die Möglichkeiten ausschöpfen. Das wiederum findet ‑ als Folgerung aus dem heutigen Verständnis von Axiomatik ‑ seine Entsprechung im korrespondierenden Weltbild, denn an die Stelle des zwar unendlichen, aber in seinen Gesetzen ab­geschlossenen Kosmos tritt nun das grund­sätzlich offene Universum ‑ im Materiellen wie im Geistigen. Zugleich aber kommt mit der Betonung des Kreativen, des Neuen, die Zeit als konstitutives Element der Denkformen hinzu; denn Neues kann nur in der Zeit auftreten. Was aber be­deutet dies für unser Problem?

Denkformen und Zeitvorstellungen

In Kants kritischer Philosophie sind Denk­formen und Zeit weitgehend unabhängig voneinander, denn die Anschauungsform Zeit wird erst im Schematismus an die Kategorien herangetragen. Allerdings sieht Kant sehr wohl das Schritt‑für‑Schritt eines Beweises geradeso wie die Konstruk­tion geometrischer und mathematischer Gegen­stände; die Kategorien der Relation und Modalität bezeichnet er selbst als "dyna­misch". Dies legt es nahe, grundsätz­lich nach der Beziehung von Denkform und Zeitvorstellung zu fragen, ja, die Zeitvor­stellung selbst als Denkform zu begreifen. Hier scheinen die Dinge ohne­hin einfacher zu liegen, denn aus dem uns vertrauten Abfolgeverhältnis Vergangenheit/Gegen-wart/Zukunft ergeben sich fol­gende Mög­lich­keiten:

n Die Abfolge ist im Sinne megarischer Modalitäten in jedem Schritt notwendig und determiniert;

 

n die Abfolge ist auf einen festliegenden Endpunkt in der Zukunft teleologisch bezo­gen;

 

n die Abfolge ist in jedem Schritt offen, so daß zwar Vergangenes, genauer der Aus­gangspunkt, festliegt, nicht aber Künftiges, das sich evolutiv entwickelt.

Fassen wir das Zeitverhältnis weiter, etwa als den Gegensatz des Immerwährenden und des sich stets Ändernden, wie dies die Grammatik der semitischen Sprachen kennt, ergeben sich ganz andere Schemata. Hierzu gehört wohl auch die mythische Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die eben genannten Unterschei­dungen sind also keineswegs erschöpfend, zu schweigen von Überlegungen zum Lichtkegel, wie sie zur Relativitätstheorie gehören, oder zur Zuläs­sigkeit von Zeit­umkehr, wie sie als Deu-tungsmöglichkeit für Mikroprozesse ‑ ge­wissermaßen im Inneren der Heisenberg­schen Unschär­ferelation ‑ herangezogen wird: Auch Zeitformen als Denkformen scheinen prin­zipiell offen zu sein. Doch die getroffenen Unterscheidungen reichen aus, um die Bezüge zu den entwickelten Denk­formen aufzusuchen.

Die zyklische Form verlangt das Durch­laufen der ABA‑Struk­tur; das Ergeb­nis ist eine ewige Wieder­kehr des Glei­chen, genau jene Zeitvorstel­lung, die dem mythi­schen Denken zu­grunde liegt und ihre Entspre­chung in der Vorstellung vom ewigen Kreislauf der Gestirne und der Geschicke findet. Die Begriffspyramide dagegen ver­harrt in zeitloser Statik. Sie repräsentiert Platons Ideenhimmel oder Leibnizens Regio idea­rum des göttlichen Denkens. Für die traditionelle Axio­matik gilt hin­sichtlich der Ableitungs­ketten zunächst Ähnliches; aber bei nähe­rem Zusehen zeigt sich eine Ge­richtetheit, denn die Ableitun­gen sind in ihrem Schritt‑für‑Schritt nicht umkehrbar. Damit ist jedoch nicht etwa eine Zeitrich­tung aus­ge­zeich­net, vielmehr erweist sich, da alles seine Grün­de hat, alles in jeder Rich­tung festgelegt. Darum kann der La­placesche Dämon jeden vergangenen wie jeden zu­künftigen Zu­stand berech­nen. Die Zu­kunft kann also grundsätzlich nichts Neues brin­gen. Die Dialektik struk­turiert einen Prozeß, der nicht umkehrbar ist: Er weist stets von Erreichtem in die Zu­kunft und ist ‑ wie alles mensch­liche Han­deln ‑ teleolo­gisch. Solange nun diese Zu­kunft als letz­ter Fluchtpunkt gedacht wird, weil es zu ihm keine Negation mehr geben kann, so­lange erweist sich die zeitliche Dynamik insge­samt als Geschichtsteleolo­gie. Das Vergan­gene ist stets nur Vorge­schichte zur eigentlichen Ge­schichte, die uns dem letzten Ge­schichtsziel näherbringt.

Ersetzt man die formell bloß negative Anti­these durch etwas, das neu ist gegen­über allem Bis­herigen, insbesondere ge­genüber der These, so ergibt sich die zeit­liche Denk­form des Evolutions­schemas - wenn noch folgende Bedingun­gen erfüllt sind:

 

n Das jeweilige Neue (in der Biologie die Mutation) muß in seinen Funktionen min­destens das leis­ten, was es ersetzen soll.

 

n Und es muß in einem dyna­mischen Selek­tionsprozeß erweisen, daß dies bes­ser, zumindest aber gleich gut gelingt.

Dieses Schema eines Wech­selspiels von Mutation und Selektion bean­sprucht, eine retrospek­tive Erklärung der Vergangenheit geben zu können, je­doch nur eine Trend­aussage für die nahe Zu­kunft. Es leistet damit, so gesehen, we­niger als das kausale axiomati­sche Sche­ma. Aber da es auf jeden Prozeß an­wendbar ist, in dem etwas kausal nicht Vorhersehbares sich ereignet, also auf jeden Geschichtsprozeß, ist es heute zum Strukturprinzip vom Biologi­schen über das Psychische bis zum Wirt­schafts‑ und Wis­senschaftsdarwinismus geworden. Seine Ar-gumentationsweise ist, wo sie sich nicht des kausalen Schemas bedient, auf die Plau­sibi-lität gegründet, daß das Auftreten von Neuem nie prog­nostizierbar, sondern nur in seinen Folgen retrospektiv deutbar ist.

 

Das Relativitätsproblem

Mit der Freigabe der Denkformen, mit ihrer Öffnung für krea­tive Weiterun­gen ist un­ausweichlich das Pro­blem der Rela­tivität verbunden. Anders als bei den Denkstilen, wie sie heute in der Wis­senschaftsge­schichte in An­knüpfung an Fleck diskutiert werden, wurden die Denk­formen ja als letzter Bezugspunkt zur Rechtfertigung argumen­tativer Zusammen­hänge und damit zur Rechtfertigung des Methodengefüges der Wissenschaften gesehen. Sie sind damit unauflöslich für deren Wahrheits­anspruch mit­verantwortlich. Denkformen jedoch sind nicht wahr, selbst wenn dies im­manent etwa vom Mythos, vom Kausal­nexus, von der Dia­lektik oder von Vertre­tern der Evolu­tion immer wieder in An­spruch genommen wur-de oder wird. Nun gibt es aber außer­halb der Denkformen keine Instanz mehr, die zur Rechtfertigung her­angezogen wer­den könn­te. Die Schwie­rigkeiten gehen sogar tiefer, denn bevor man den Begrün­dungsanspruch zweier konkurrierender Denkschemata ge­genein­ander abwägen kann, muß man sie ver­standen haben! Die Inkommensurabilität von Paradigmata, das Fehlen einer radi­kalen Übersetzung, die Unübertragbarkeit der den Sprachen in­hä­renten Weltsicht ist ein oft behandeltes Problem, das hier wiederkehrt. So glaubt Donald Davidson, in der Unter­scheidung von ordnenden Schemata auf der einen und zugeordnetem Inhalt auf der anderen Seite ein letztes, drittes Dogma des Empi­rismus sehen zu müssen. Einmal ab­ge-se­hen davon, daß dies kein Dogma des Em­pirismus, sondern ein eingeschmuggelter Kantianis­mus ist, wird man dem Einwand nur auf folgende Weise begegnen können: Es ist keines­wegs ausgeschlossen, daß zu einer Zeit und von einem Menschen für verschie­dene Be­reiche verschiedene Denk­formen in An­wendung gebracht werden. Das Dogma, derlei dürfe nicht sein, beruht vielmehr auf einer Verallgemeinerung einer axiomati­schen oder pyramidalen Begriffs­form, nach der sich alle Begriffe und Argu­mente, derer wir uns bedienen, in ein einzi­ges Schema einordnen lassen müssen. Tat­sächlich jedoch sind wir frei darin, andere Arten der Bezie­hungen zu denken, Bezie­hungen, die nicht in deduk­tiven Ablei­tungsketten bestehen, sondern in Ergän­zungsverhältnissen. Da wir frei sind, neue Strukturen hervorzubringen und als Denk­formen anzuwenden, besteht die eigentliche Schwierigkeit nicht in der behaupteten Inkommensurabilität der Denkschemata.

Dennoch zeigt sich, daß wir nicht umhin können, eine weitere Voraussetzung zu machen, die noch hinter die Denkformen zurückreicht: Nämlich die Voraussetzung, daß die Argumentationen, die unter Ver­wendung der Struktur in den Wissenschaf­ten gegeben sind, auf Er­kenntnis, also auf Wahrheit abzielen. Dabei läßt sich innerhalb der jeweiligen Denkform, inner­halb also eines wissenschaftlichen Metho­den‑ und Aussagengefüges ein Wahrheits­relativismus vermeiden, denn durch die Denkformen wird nur eine Struktur vor­gegeben, die auf dem Wege über die Fest­setzungen zweiter und erster Stufe zu Fra­gen an den Erkennt­nisgegenstand führt, wie aber eine solche Frage beantwortet wird, ist durch die Struk­tur nicht deter­miniert. Doch dies kann für den vorliegen­den Zusammen­hang nicht ausreichen, weil es immer noch einen Rela­tivismus der Denkformen selbst gibt; viel­mehr müssen wir uns vergegenwär­tigen, daß alle Denk­formen darauf abzielen, auf der untersten Stufe Erkenntnis zu er­möglichen. Sie alle folgen also dem regula­tiven Prinzip der Wahrheit. Doch während Kant regulati­ve Prinzipien innerhalb der transzendentalen Dialektik durch einen Prozeß der Totalisie­rung von Kategorien zu gewinnen ver­moch­te, ist uns dieser Weg versperrt. Die Einfüh­rung von Denkformen als Struk­turen der Argumentation hilft zwar, das Abhängig­keitsgefüge wissen­schaftlicher Erkenntnis von historischen Bedingungen ein Stück weit tiefer zu durch­schauen, führt uns damit aber zu einer fun­damen­talen Frage, die auf eine Neubestim­mung des Wahrheitsbegriffes als regulative Idee hinausläuft. Whitehead, der nicht müde geworden ist, für die Wei­terentwicklung von Schemes of thought einzutreten, sagt von ihnen am Ende seines kleinen Essays The Function of Reason: "Auf diese Weise stolpert die Menschheit gleichsam mit unsi­cheren Schritten dem Ziel entgegen, die Welt zu verstehen...Die Herrschaft der Vernunft ist schwankend, un-gesichert, häu­fig verdunkelt und verdrängt. Aber es gibt sie."

 

UNSER AUTOR:

 

Hans Poser ist Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin.

 

Von der Redaktion gekürzter Text eines Vortrags auf der Tagung über "Rationali­tätstypen" in Luzern im Sommer 1997. Die ungekürzte Fassung mit den Zitatbelegen erscheint in dem von Karin Gloy heraus­gegebenen Buch "Rationalitätstypen" 1998 im Bouvier-Verlag.