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Martin Hähnel:
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aus: Heft 1/2019, S. 22-34
Immer wieder erleben wir in der Philosophie Renaissancen. Wenn bestehende Diskurse leer zu laufen drohen, theoretische Begründungsfiguren nicht mehr tragfähig genug erscheinen oder sich unter Philosophinnen und Philosophen langsam der Wunsch breitet macht, nach Konzepten Ausschau zu halten, die sich im Laufe der Philosophiegeschichte mehr oder weniger bewährt haben, dann liegt es nicht fern, den Blick in die Vergangenheit zu werfen und dort nach alten Erkenntnisschätzen zu graben, denn – wie bekanntlich der Volksmund sagt – leben Totgesagte länger. Ein Philosoph, der immer wieder für tot erklärt worden ist, dessen Erkenntnisschatz aber stets von Neuem gehoben wurde, ist Aristoteles, von dem ein so moderner und vielseitiger Denker und Leser wie Ludwig Wittgenstein einmal gesagt hat, dieser sei der einzige Philosoph gewesen, von dem er kein einziges Wort gelesen habe (26, 496). Ob diese Aussage von Wittgenstein ironisch zu verstehen ist, oder vielmehr plausibel zu machen versucht, dass ein vorschneller Rückgriff auf philosophische Klassiker die Authentizität unseres zeitgenössischen Fragens und Problematisierens beeinträchtigt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Allerdings ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Aristoteles im aktuellen philosophischen Diskurs wieder eine gewichtige Rolle spielt, so er denn in diesem akademischen Gespräch überhaupt jemals abwesend war (1). Was könnten jedoch Hindernisse sein, die dagegen sprechen, sich mit Aristoteles erneut und auf eine möglichst unvoreingenommene Weise zu beschäftigen? (2): Zunächst sei hier die natürliche Weltsicht des Stagiriten und, in Verbindung damit stehend, sein ontologischer Realismus zu nennen. Aristoteles will stets „zu den Sachen selbst" bzw. verweilt bei diesen, indem er nicht-lebendige von lebendigen Gegenständen unterscheidet, Seiendes zuallererst auf seine spezifischen Ursachen hin untersucht und dabei alles natürlich Vorkommende als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt betrachtet. In diesem Zusammenhang erscheint seine Vorstellung von einer teleologischen Verfasstheit der Welt bzw. der lebendigen Dinge in ihr bisweilen naiv, wenngleich seine kategorialen Beschreibungen von Lebewesen bzw. der Art, wie sie existieren, immer noch eine große Anschaulichkeit bieten und erstaunliche Erklärungskraft besitzen. Mit dieser natürlichen Sicht auf die Dinge ist für Aristoteles aber auch ein bestimmtes Verständnis von Praxis verbunden, das maßgeblich seinen ethischen Naturalismus beeinflusst: So findet der Mensch nach Aristoteles alles, was er benötigt, um glücklich zu sein, in „seiner" eigenen Natur vor (und nicht jenseits dieser; wenn er sich etwa als rein autonomes Vernunftsubjekt begreift), welche ihm und seinem Handeln den passenden Rahmen verleiht. ‚Von Natur aus' (phýsei) ist der Mensch, welcher als mit Verstand und Sprache ausgestattetes Lebewesen (zōon logon echon) seine praktische Vernunft zu verstehen gebraucht, auf moralisches Handeln und ein tugendgemäßes Leben ausgerichtet. Von dieser ethischen Praxis unterscheidet sich die aristotelische Auffassung von der Kunst als ein hervorbringendes Tun, das der Nachahmung der natürlichen Welt und ihres Erlebens dient und sich damit von genuin modernen ästhetischen Grundsätzen (wie sie die Malerei oder das Theater im frühen 20. Jahrhundert entwickelt hat), denen zufolge das klassische Mimesis Postulat hinterfragt und dekonstruiert werden muss, abgrenzen lässt. Zwar ist Aristoteles in den eben genannten Kontexten und Diskursen noch immer außerordentlich prominent vertreten, allerdings finden wir heutzutage die wohl breiteste und elaborierteste Diskussion seiner Gedanken in der Philosophie, namentlich in den Disziplinen von Metaphysik (3), Wissenschaftstheorie (4), politischer Philosophie (z.B. 30) und Ethik (5). Diese Ansätze, welche sich ausdrücklich auf Aristoteles als Ideengeber und eines der hier genannten philosophischen Teilgebiete beziehen, firmieren dabei selbstbewusst unter dem Label ‚neoaristotelisch' oder ‚Neoaristotelismus'. Dabei repräsentieren sogenannte ‚Neoaristotelikerinnen' und ‚Neoaristoteliker' – vor allem in der angloamerikanischen Diskussion – einen relativ eigenständigen Typ der philosophischen Erklärung und Begründung, welcher nicht auf die Funktion einer reinen Wiederbelebung einer philosophischen Position der Vergangenheit reduziert werden kann. In der deutschsprachigen philosophischen Diskussion ist die Situation eine andere. Von ‚Neoaristotelismus' war und ist hierzulande bislang meist im Spannungsfeld der politischen Philosophie die Rede, wo Autoren wie Jürgen Habermas und Herbert Schnädelbach (6) den Ausdruck zur Beschreibung einer bürgerlichen Philosophie eingeführt haben, welche vorrangig von einer neokonservativen weltanschaulich-politischen Gesinnung getragen wird. Vor allem werden hier Namen ins Spiel gebracht, die mit der sogenannten „Ritter-Schule" in Verbindung stehen: Hermann Lübbe, Manfred Riedel, Robert Spaemann, Ernst-Wilhelm Böckenförde oder Odo Marquard. Unter diesen Philosophen ist besonders der kürzlich verstorbene Robert Spaemann hervorzuheben, der das aktuelle neoaristotelische Ethikmodell in manchen Hinsichten rezipiert und adaptiert hat (29), um es für eine spezifische Theorie der Person fruchtbar zu machen (20). Der aktuelle Neoaristotelismus in der Ethik
Neustart der Ethik oder „alter Wein in neuen Schläuchen"?
Trotz vielfältiger Rezeptionsweisen in der gegenwärtigen Philosophie spielt Aristoteles und seine Wiederentdeckung vor allem in der aktuellen Ethik eine große Rolle. Der ethische Neoaristotelismus hat in den letzten Jahrzehnten die moralphilosophische Diskussion zweifelsohne stark beeinflusst, indem er sowohl kritische Impulse setzen konnte als auch innovative Vorschläge zu einer Neukonzeption der Idee des Ethischen auf den Weg zu bringen in der Lage war. Deren Vertreterinnen und Vertreter haben dabei versucht, das Feuer, das in den Gedanken des Aristoteles zur Ethik steckt, neu zu entfachen und mit modernen sprachlichen Mitteln und Argumentationsmethoden weiterzugeben. Aus diesem Grund ist der Neoaristotelismus in der Ethik auch als ein genuin modernes Projekt zu verstehen.
Den entscheidenden Aufschlag zu einer Wiederbeschäftigung mit der aristotelischen Ethik gab die britische Moralphilosophin und Wittgenstein-Schülerin Elisabeth Anscombe. In ihrem epochemachenden Aufsatz Moderne Moralphilosophie von 1958 wendet sie sich gegen utilitaristische und kantianische Begründungsformen normativer Ethik, mit dem Ziel, das Feld für die Entwicklung tugendethischer Theorien des Guten zu öffnen (7). Angesichts ihrer Forderung nach einer ‚Philosophie der Psychologie' und der gezielten Kritik am moralischen Sprachgebrauch in der ethischen Theoriebildung kommt Anscombe zu der Feststellung, dass Termini wie ‚Pflicht' oder ‚Selbstgesetzgebung' Überbleibsel nicht mehr bestehender, religiös fundierter Ethikkonzeptionen seien und sich für eine zeitgemäße praktische Begründung von Normativität als untauglich erwiesen: „Wir sollten die Begriffe der Pflicht und der Verpflichtung – im Sinne der moralischen Pflicht und der moralischen Verpflichtung – über Bord werfen [...], falls dies psychologisch möglich ist, ebenso unsere Begriffe des moralisch Richtigen bzw. Falschen und den moralischen Sinn von ‚sollte'; denn sie sind alle Überbleibsel oder Derivate von Überbleibseln aus einer früheren Konzeption von Ethik, die heute nicht mehr allge-mein besteht, und sie sind außerhalb dieser Konzeption nur von Nachteil." (7, 217) Allerdings möchte Anscombe mit dieser Kritik das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ihre kritischen Einlassungen zielen vielmehr auf die Enthüllung zweier entscheidender Unzulänglichkeiten der modernen Moralphilosophie: Einerseits hält Anscombe mit Blick auf Immanuel Kant die Idee eines autonomen Willens, der sich selbst das moralische Gesetz gibt, für nicht intelligibel bzw. psychologisch unhaltbar; andererseits lehnt sie für die moderne Ethik so prägenden Versuch ab, moralische Urteile ohne Rückgriff auf Seinsaussagen zu formulieren. Dieser sogenannte Seins-Sollen-Fehlschluss, auch Humes Gesetz genannt, macht dabei die Annahme eines subjektiven Gefühls oder einer persönlichen Einstellung (der Billigung oder Missbilligung) zur normativen Begründung und Rechtfertigung moralischen Handelns notwendig und bildet damit die Grundlage für moderne subjektivistische Ansätze des Nonkognitivismus. Anscombe wendet sich in diesem Aufsatz wie auch in anderen Schriften dezidiert gegen diese Art der moralischen Begründung und gegen die daraus hervorgehende Theorie, wonach der moralische Wert einer Handlung allein von den Folgen abhängt. Sie gibt dieser spezifischen Moraltheorie auch einen Namen: „Konsequentialismus". Elisabeth Anscombe weist in Moderne Moralphilosophie insbesondere auch auf die Tatsache hin, dass es Aristoteles mit seiner Ethikkonzeption bereits gelungen sei, moralisches Handeln mit einer bestimmten Form von Normativität zu verbinden, die auf anderen Prämissen fuße als humeanische und kantianische Modelle der Ethikbegründung. Die Philosophin lenkt die moderne Moralphilosophie damit in eine bestimmte Richtung. So wird ihr nachfolgend zitierter Vorschlag zur Neubestimmung dessen, was Normen sind oder sein könnten, später im Kontext der Einführung und Spezifizierung sogenannter Aristotelischer Notwendigkeiten aufgegriffen: „Ebenso, wie der Mensch so oder so viele Zähne hat, was sicher nicht die durchschnittliche Zahl der Zähne aller Menschen, sondern die für die Spezies Mensch charakteristische Anzahl der Zähne ist, so ‚hat' vielleicht der Mensch als Spezies die und die Tugenden, wenn man ihn nicht rein biologisch, sondern von Seiten der Aktivitäten des Denkens und Wählens im Rahmen der verschiedenen Lebensbereiche [...] betrachtet. Und dieser ‚Mensch' mit der vollständigen Ausstattung an Tugenden ist die ‚Norm', wie etwa der Mensch mit dem vollständigen Satz von Zähnen die Norm ist. Aber in diesem Sinn hat ‚Norm' aufgehört, ungefähr gleichbedeutend mit ‚Gesetz' zu sein." (7, 235) Allerdings räumt Anscombe im Zuge dieser Beobachtung ein, dass „philosophisch noch eine beträchtliche Lücke besteht, [...] die durch ein Verständnis vom Wesen des Menschen, vom menschlichen Handeln, vom Eigenschaftstyp der Tugenden und vor allem vom menschlichen 'Gedeihen' geschlossen werden muss" (7, 241). Nichtsdestoweniger gibt sie damit den entscheidenden intellektuellen Impuls für eine Reihe sich ihr anschließender tugendethischer Ansätze, die ähnliche Diagnosen stellen und vergleichbare Ziele verfolgen, von denen die wichtigsten hervorgehoben werden sollen: ● Die moderne Moralphilosophie muss auf neue Füße gestellt werden. Dabei soll die Tugendethik höchstens als eigenständiges Begründungsparadigma der normativen Ethik etabliert werden oder mindestens als Instanz zur Ergänzung oder Kritik deontologischer und konsequentialistischer Begründungsansätze fungieren. ● Es stehen nicht mehr (allein) Handlungen im Zentrum der ethischen Bewertung, sondern konkrete Personen als deren Träger und Vollzugssubjekte. Demnach ist Gerechtigkeit nicht bloß das Ergebnis einer erfolgreichen Ausbalancierung verfahrensethischer Mechanismen (wie z. B. bei Rawls und Habermas), sondern besteht im ethischen Handeln von Menschen, die selbst gerecht sind bzw. sein wollen. Der tugendhafte Akteur tritt somit als eigenständige normative Instanz auf den Plan, was dazu führt, dass moralische Vorbilder gegenüber abstrakten Moralprinzipien aufgewertet werden können. ● Sprachphilosophische Analysen und meta-ethische Zugriffe sollen verstärkt Tugendbegriffe in den Blick nehmen, bevor sie, wie z. B. die deontische Logik, Sollenssätze auf ihre innere Konsistenz hin untersuchen. Damit einher geht die Forderung einiger Vertreterinnen und Vertreter der Tugendethik, bei der Eruierung der Quellen von Normativität „dicke" (d. h. phänomenologisch-beschreibende) statt „dünne" (d. h. analytisch-wertende) Konzepte stärker zu berücksichtigen. ● Angesichts zahlreicher moralischer Dilemmata in der angewandten Ethik dienen Tugenden bzw. deren Ermittlung einer besseren Identifikation der jeweils vorliegenden Problem- bzw. Gefährdungslage sowie der präzisierenden Beschreibung richtiger und falscher Haltungen gegenüber dieser oder jener Dilemma-Situation. Tugenden finden somit als Erklärungs- und Entscheidungshilfen unmittelbaren Eingang in unsere konkrete ethische Praxis. ● Die moderne Tugendethik macht implizite und explizite inhaltliche Annahmen über die spezifische ethische Gestalt und Gestaltung des menschlichen Lebens. Sie gibt nicht nur eine Antwort auf die Frage: ‚Was soll ich tun?', sondern auch auf die Frage „Wie soll und kann ich (gut) leben?" Von der klassischen Tugendlehre zur modernen Tugendethik
Wie wir bereits gesehen haben, bietet eine von aristotelischen Einsichten inspirierte moderne Ethik eine gute Möglichkeit, mit Hilfe der Kategorie der Tugend eine aktuelle Antwort auf altbekannte, bisweilen allerdings etwas ins moralische Hintertreffen geratene Fragen zu geben. Wenn wir also unter genuin modernen Gesichtspunkten danach fragen, wozu wir gegenwärtig eigentlich noch eine Tugendethik brauchen und, wenn wir geneigt sind, diese Frage mit Ja zu beantworten, wir dann weiter fragen, was wir heutzutage überhaupt noch unter Tugenden verstehen können, bietet es sich an, sowohl in historischer als auch kategorialer Hinsicht wichtige Differenzierungen vorzunehmen: Beispielsweise geht Stephen Gardiner in begriffsgeschichtlicher Absicht, d. h. mit Blick auf eine notwendige Unterscheidung zwischen klassischer und moderner Tugendethik, davon aus, dass wir aus heutiger Sicht gezwungen sind, eine paradoxe Haltung gegenüber der antiken und mittelalterlichen Tugendethik einzunehmen, und führt hierfür insbesondere zwei Gründe an: a) Es ist unbestritten, dass sich die Weltanschauungen der Vertreterinnen und Vertreter klassischer Positionen der Tugendethik von den Weltanschauungen neuzeitlicher Repräsentanten einer Tugendethik grundsätzlich unterscheiden. b) Ebenso ist nicht von der Hand zu weisen, dass es eine unglückliche historische und institutionelle Spaltung innerhalb der „Bewegung" der Tugendethik gegeben hat (21). Allerdings können diese Vorbehalte nichts an der Tatsache ändern, dass es weiterhin gute Gründe für einen moralphilosophischen Rekurs auf die Tugenden gibt, die uns im praktischen Leben immer wieder begegnen und die wir heutzutage cum grano salis auch als ‚Fähigkeiten' oder ‚Kompetenzen' beschreiben können. In systematischer Hinsicht sollte jedoch folgendes beachtet werden: Sprechen wir von ‚den' Tugenden im Plural, so verweisen wir in erster Linie auf eine bestimmte Phänomenologie der Moral, der zufolge wir wertungsfrei beobachten können, dass Tugenden (und Laster) irreduzible Teile des praktischen Lebens von Individuen und Gemeinschaften sind. Sprechen wir dagegen von ‚der' Tugend im Singular, dann nehmen wir direkten Bezug auf eine spezifische Kategorie der Moral, die umgehend in Konkurrenz zu anderen Begriffen der gleichen Art (z.B. Pflicht, Nutzen etc.) tritt. Im Folgenden wird sich allerdings zeigen, dass sich beide Annäherungsweisen an den Begriff nicht sauber voneinander trennen lassen, auch wenn Tugenden als Erscheinungsformen ethischer Praxis eher im Bereich der Anwendungsorientierung anzusiedeln sind. Daraus ergibt sich zwangsläufig noch eine weitere Differenzierungsnotwendigkeit: Die Zusammenfassung und Beschreibung von Tugenden findet zumeist im Rahmen einer Tugendlehre statt, die beliebig erweiterbare Kataloge von Charakterexzellenzen aufstellt (z. B. 28), während sich eine Tugendethik automatisch in Konkurrenz zu deontologischen und konsequentialistischen Entwürfen begibt, um sich über die Beschreibung hinaus auch dezidiert normativen Fragen zuzuwenden. Christoph Halbig präzisiert diese Unterscheidung wie folgt: „Die Tugendlehre bemüht sich um ein Verständnis dessen, was Tugenden sind: ihrer Ontologie, Epistemologie sowie ihrer handlungstheoretischen Bedeutung. Die Ethik der Tugend fragt hingegen nach der Rolle der Tugenden für die Ethik. Die Bestimmung dieser Rolle wird dabei unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches Modell einer normativen Ethik zugrunde gelegt wird. Die Tugendethik hingegen bildet ihrerseits ein solches Modell neben anderen, das sich dadurch auszeichnet, dass es aretaische Kategorien (also solche, die sich auf Tugenden und Laster beziehen, wie etwa ‚feige' und ‚freigebig') für fundamental hält und demotische (wie etwa ‚richtig' oder ‚verboten') bzw. im Extremfall sogar Evaluation (wie etwa ‚gut' oder ‚schlecht' Kategorien auf sie zu reduzieren versucht." (22, 11) Wie lässt sich nun der aktuelle Neoaristotelismus in dieses Schema einordnen? Zunächst gilt es festzuhalten, dass der aktuelle Neoaristotelismus in der Ethik eine transformierte Version der klassischen aristotelischen Ethik darstellt bzw. beinhaltet. Dabei tritt er fast ausschließlich als tugendethisches Modell auf und begibt sich damit automatisch in Konkurrenz zu etablierten und bereits erwähnten Paradigmen ethischer Begründungstheorien von Deontologie und Konsequentialismus. Als eine selbständige normative Alternative zu Deontologie und Konsequentialismus hat vor allem die Philosophin Rosalind Hursthouse ihre tugendethische Version des Neoaristotelismus verstanden und konzise ausgearbeitet (12). Dabei beginnt sie mit der Feststellung, dass Deontologie, Konsequentialismus und Tugendethik in nur unzureichender Weise Gründe für richtiges Handeln bereitstellen. Während Konsequentialisten angeben müssen, was die besten Folgen sind, und Deontologen Auskunft darüber zu geben haben, auf welche Weise universalisierte Normen auf konkrete Handlungssituationen angewendet werden können, ist es die Aufgabe der Tugendethik zu zeigen, wie ein tugendhafter Akteur zu sein und zu handeln hat. Zu diesem Zweck entwickelt Hursthouse spezifische Tugendregeln („v-rules"), z.B. „Breche keine Versprechen!"; „Lüge nicht!", welche ausdrücken, wie moralische Akteure charakteristischerweise handeln sollten. Mit dieser regelhaften Bestimmung der Tugenden, die der praktischen Vernunft (phronésis) einen besonderen Rang in der Behandlung der anderen Tugenden verleiht, glaubt Hursthouse einen ethischen Ansatz entwickelt zu haben, der deontologischen und konsequentialistischen Theorien in normativer Hinsicht gleichgestellt ist. Mit dieser Absicht steht Hursthouse im Konzert der aktuellen Neoaristotelikerinnen und Neoaristoteliker zwar nicht allein da, jedoch verstehen sich die meisten Sympathisanten einer modernen Tugendethik als Vertreter einer gemischten bzw. unselbstständigen Theorie, d. h. einer Theorie, die tugendethische Einsichten nur mit Hilfe der Hinzunahme von konsequentialistischen oder deontologischen Elementen plausibel machen kann. Nicht-aristotelische, aristotelisch-nonnaturalistische, aristotelisch-naturalistische Begründungsmodelle der Tugendethik Es ist nun alles andere als leicht nachvollziehbar, inwieweit tugendethische Begründungsmodelle tatsächlich als ‚aristotelisch' bzw. ‚neoaristotelisch' gelten können, da diese Ansätze alles andere als homogen sind. Aus diesem Grund versteht sich nur ein bestimmter Teil als ‚aristotelisch', wobei sich heutige Neoaristotelikerinnen und Neoaristoteliker nochmals in ethische Non-Naturalisten und ethische Naturalisten unterscheiden lassen. Zu den Modellen, die Tugenden auf genuin nicht-aristotelischer Grundlage begründen wollen zählen vor allem empirische und nicht-empirische Ansätze der Moralpsychologie und ein Großteil der kantianischen, konsequentialistischen und neostoizistischen Ansätze. Während im Kontext moralpsychologischer Ansätze Tugenden als situationsbedingte Zustände und nicht als robuste, diese ephemeren Zustände übergreifende Charaktermerkmale begriffen und analysiert werden, bedienen sich die letztgenannten moralphilosophischen Theorien bei den Tugenden zumeist nur, um ihrem eigenen empirisch ungesättigten Ansatz mit materialen und motivationalen Gesichtspunkten anzureichern. Zu aristotelischen, non-naturalistischen Modellen der Begründung von Tugendethik zählen unter anderem exemplaristische Ansätze (33) und Arbeiten, die die überragende Bedeutung der praktischen Vernunft hervorheben. So hat Daniel Russell eine Konzeption entwickelt, die eine „harte Tugendethik" vertreten soll (16). Die oberste aristotelische Tugend der praktischen Vernunft bzw. praktischen Intelligenz ist dabei nicht nur eine notwendige, sondern eine hinreichende Bedingung, um richtig zu handeln. Ein evaluativer Bezug zu einem Konzept von menschlicher Natur würde diesen Anspruch und die handlungsleitende Autorität der praktischen Intelligenz unter Umständen relativieren, weil – so Kritiker – hierfür auf theorieexterne Ressourcen zurückgegriffen werden müsste, deren normativer Einfluss die Autonomie der Ethik in Frage stellen würde. Der größte Teil der Vertreterinnen und Vertreter einer aristotelischen Begründung der Tugendethik versteht sich jedoch als ethische Naturalisten, obwohl die für die eigene Theorie jeweils in Anschlag gebrachten Naturverständnisse inhaltlich stark voneinander abweichen (auch vom Naturbegriff des Stagiriten selbst). ‚Naturalistisch' hat hier die generelle Bedeutung, dass ein um der Tugenden willen geführtes Leben ein Leben sei, dass natürlich gut ist bzw. im Einklang mit dem Gut des Menschen bzw. seiner Natur steht. Von einem solchen Aristotelischen Naturalismus (kurz: AN) im engen Sinne kann man vor allem bei Philippa Foot, Michael Thompson und Rosalind Hursthouse sprechen; von einem AN im weiten Sinne, der sich gerade nicht auf ein ‚naturalistisches' Verständnis der menschlichen Natur beschränken lassen möchte, ist dagegen etwa bei Alasdair MacIntyre und Martha Nussbaum die Rede. Eindeutige inhaltliche Bezugnahmen zu Aristoteles und zu seinem ethischen Naturalismus sind für all die hier genannten Autorinnen und Autoren zwar ausschlaggebend, aber keineswegs selbstverständlich, denn hier wie dort sollte gezeigt werden, ob die eigene Fassung eines AN überhaupt als ‚aristotelisch' oder ‚naturalistisch' bezeichnet werden darf, und, wenn sie dieser Prüfung standhält, wie ‚aristotelisch' oder ‚naturalistisch' sie dabei letztlich ist (5, Abschnitt B). Hinzu kommt, dass klar dargelegt werden sollte, auf welche Weise sich ein genuin neoaristotelisches Modell der Ethik oder des ethischen Naturalismus zu anderen existierenden ethischen Modellen und Naturalismusauffassungen verhält und inwieweit ein Rekurs der neoaristotelischen Ethik auf metaphysische Einsichten, die z.B. der aristotelischen Biologie und Ontologie entnommen werden, überhaupt im Hinblick auf die Beantwortung aktueller Fragen der Moral gerechtfertigt werden kann. Dass letzteres durchaus möglich ist bzw. möglich sein sollte, zeigen gerade die Ansätze derjenigen Neoaristotelikerinnen und Neoaristoteliker, die darauf insistieren, dass eine Teleologie des Menschen biologische Funktionen der Reproduktion und Selbsterhaltung berücksichtigen muss, aber über diese Zwecke auch hinausreichen sollte, um in eine ethische Praxis münden zu können, die grundsätzlich vernunftgeleitet ist. Als ein erster wichtiger Vertreter eines AN im weiten Sinne betont Alasdair MacIntyre, dass die meisten zeitgenössischen Ansätze zur Tugendethik vor allem die metaphysischen Implikationen der aristotelischen Biologie nicht mehr zu teilen bereit sind (13, 200). Zudem gibt es heute kaum noch Vertreterinnen und Vertreter einer Tugendethik, die an der antiken These von der Einheit der Tugenden fest-halten (13, 240). Aus diesen und anderen Gründen bemüht sich MacIntyre um eine Neubegründung der Tugendethik auf genuin kommunitaristischer Grundlage, wobei er vor allem auf Aristoteles zurückgreift, um die soziale Natur des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Zentral für MacIntyre ist dabei auch der Begriff der Praxis, der sich nur innerhalb von Sozietäten sinnvoll begründen und anwenden lässt. Einen gänzlich anderen Weg, um klassische Überlegungen zur Tugend in die Moderne zu übersetzen, wählt Martha Nussbaum. Zunächst sind Tugenden für sie diejenigen Befähigungen, die aus menschlichen Grunderfahrungen abgeleitet und daher als universal angesehen werden können. Aristoteles wird von Nussbaum wie folgt gelesen: „So arbeitet der aristotelische Ansatz: Er ist einem allgemeinen (und offenen) Bild vom menschlichen Leben, seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten verpflichtet, läßt sich aber in jeder Phase auf die konkreten historischen und kulturellen Bedingungen ein. [...] Schließlich sollten wir noch darauf hinweisen, daß die aristotelischen Tugenden und die Überlegungen, denen sie zugrunde liegen, im Gegensatz zu manchen Moralsystemen immer offen für Veränderung bleiben und so neuen Umständen und Tatsachen Rechnung tragen." (15, 144) Mithilfe der klassischen Tugendethik kann es Nussbaum zufolge gelingen, universalistische Ansprüche mit partikularen Gewohnheiten zu verbinden und auf diese Weise beide Sphären miteinander zu versöhnen. Damit wird die Tugendethik auch für die Begründung und Rechtfertigung bestimmter ökonomischer Ansätze und globaler Gerechtigkeitstheorien interessant. Als wohl hervorragendste Vertreterin eines AN im engen Sinne, der das Gute (des Menschen) gerade nicht aus einer platonischen Idee (des Guten) oder aus göttlichen Weisungen, sondern aus der verallgemeinerbaren Bewertung der natürlichen Gutheit von Pflanzen und Tieren ableitet, ist Philippa Foot zu nennen. In ihrem letzten epochemachenden Werk Natural Goodness (dt. Die Natur des Guten) hat sie den teilweise provokanten Vorschlag unterbreitet, die Ethik einem grundlegenden Neuanfang zu unterziehen: „Man mag es gerne – oder wie es vielen ergehen wird – weniger gern hören: In diesem Buch habe ich das erklärte Ziel, eine Auffassung moralischen Urteilens vorzustellen, die sich erheblich von der Auffassung der meisten heute schreibenden Moralphilosophen unterscheidet." (8, 19) Dieser Neuanfang stellt nicht mehr länger die anti-naturalistische Deutung und normative Vermittlung subjektiver Präferenzen und Einstellungen in den Mittelpunkt der Analyse, sondern das, was wir – ganz allgemein gesprochen – ‚Leben' nennen. Damit ist zunächst nicht irgendeine absolute Metapher oder ontologisch fundamentale Kategorie gemeint, sondern es handelt sich um „die Tatsache, dass eine menschliche Handlung oder Disposition gut ist", wenn sie „ein bestimmtes Merkmal einer bestimmten Art von Lebewesen betrifft." (Ebd.) Eines der zentralen Anliegen von Philippa Foots langjähriger Freundin Elisabeth Anscombe war es auch, die verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Adjektivs „gut" herauszuarbeiten und dabei nach einer gemeinsamen Bewertungsstruktur zu suchen, die es ermöglicht, normative Urteile zu begründen und zu rechtfertigen. Dieser Fährte folgend versucht Foot als gute Wittgensteinianerin zu zeigen, dass eine substantielle Theorie des Guten auf einer speziellen Grammatik beruht, die mehrere Bedeutungsdimensionen des Adjektivs „gut" umfasst („gut von", „gut für", „gut als", „das Gute/die Güter/gute Dinge") und dabei zu verdeutlichen vermag, dass es eine gemeinsame Bewertungsstruktur gibt, die sich aus der Bezugnahme auf speziestypische Eigenschaften von menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen gewinnen lässt. Foots moralphilosophischer Ansatz besteht dabei vornehmlich aus zwei Teilen: Einmal aus der an Peter Geachs Überlegungen anschließenden Idee, „gut" attributiv zu bestimmen (10), d. h. als eine Eigenschaft zu verstehen, die in funktionaler Abhängigkeit zu dem Substantiv steht, das qualifiziert werden soll („der/die/das gute X"); und einmal aus dem Versuch, die Objektivität der Moral über den teleologisch-normativen Bezug zu nicht-menschlichen Lebensformen zu gewinnen und abzusichern. Bereits in ihren frühen Arbeiten hat sich Foot mit einer spezifischen Grammatik des Guten ausführlich auseinandergesetzt und nachgewiesen, dass sich der Gebrauch von „gut" gegen relativistische und nonkognitivistische Begriffsengführungen verteidigen lässt (z. B. 9). Nach einer humeanischen Zwischenphase, in der Foot hypothetische Imperative als Bezugsquelle für moralische Handlungsgründe identifizieren wollte, fand sie ihren Weg zurück zu einer nicht-subjektivistischen Begründung der Moral, indem sie auf die von Anscombe entdeckte und von Michael Thompson weiterentwickelte Idee der Aristotelischen Notwendigkeiten zurückgreift: „Diese ‚aristotelischen Notwendigkeiten' beruhen auf den Bedürfnissen der jeweiligen Pflanzen- oder Tierspezies, auf ihren natürlichen Lebensbedingungen und Möglichkeiten zu agieren, die in ihrem Verhaltensrepertoire festgelegt ist. Das alles legt fest, wie die Vertreter einer bestimmten Art sein und was sie tun sollten." Schon einige Zeit zuvor hatte Peter Geach – in weniger elaborierter Form – denselben Gedanken auf folgende Formel gebracht: „Menschen brauchen Tugenden wie Bienen ihren Stachel. [...] Eine einzelne Biene kann durch den Gebrauch ihres Stachels zugrunde gehen, gleichwohl benötigen Bienen Stachel; ein einzelner Mensch kann sterben, indem er mutig oder gerecht ist, nichtsdestoweniger benötigen Menschen Mut und Gerechtigkeit." (11, 16) Als kategoriale Ausdrücke beschreiben die Aristotelischen Notwendigkeiten in verallgemeinerter Form dasjenige, ‚wovon das Gute abhängt'. Wählte Anscombe zur Veranschaulichung dieser Form noch das bereits angeführte Beispiel des Menschen, der 32 Zähne hat, so umfassen Aristotelische Notwendigkeiten alle Merkmale, die für ein bestimmtes Ding, insofern es einer Art angehört, anzeigen, was notwendig ist, um ein gutes Exemplar eben dieser Art zu sein. Damit präfigurieren diese Merkmale bestimmte Kategorialaussagen, die für die Bildung sogenannter Lebensformurteile der Art 'Zu einer Löwenmutter gehört es, ihren Jungen das Jagen beizubringen' konstitutiv sind. Aristotelische Notwendigkeiten bzw. deren logische Repräsentationen, die sogenannten Aristotelian categoricals, weisen die allgemeine Form 'S ist (besitzt oder tut) F' auf und können sogar um eine teleologische Komponente zu Urteilen der Form 'S ist, besitzt oder tut F, um zu [...]' erweitert werden (17). Im Unterschied zu anderen Vertreterinnen und Vertretern eines AN im weiten Sinne bindet Foot Normen wieder zurück an ein nicht-statistisches Verständnis der menschlichen Natur, allerdings nicht mit dem Ziel, klassische theonome Ethiken wie das Naturrecht zu restituieren, sondern um der Verbindlichkeit guten Handelns einen natürlichen Ort zu geben. Im vorhergehenden Abschnitt war insbesondere von der neoaristotelischen Gestalt eines ethischen Naturalismus die Rede. Doch welche Funktionen übernehmen Tugenden in einem aristotelischen Ethikmodell naturalistischer Prägung? Philippa Foot zufolge sind Tugenden genau jene Charakterexzellenzen, die ein Handeln beschreiben, das Gründen folgt und auf diese Weise mit einer bestimmten Form von praktischer Rationalität verknüpft ist. Grundsätzlich fungieren Tugenden als Korrektive, insofern sie schädlichen Versuchungen (z. B. Standhaftbleiben gegenüber übermäßigem Alkoholkonsum) oder ungewollten Widerfahrnissen (z.B. präventiver Schutz vor Fahrradunfällen durch das Einhalten der Vorsichtsmaßnahme, einen Helm zu tragen) entgegenwirken. Zugleich sind Tugenden aber auch dazu da, Motivationsdefizite auszugleichen (z. B. hält jemand ein Versprechen ein, obwohl es gegen sein aktuelles und zukünftiges Eigeninteresse spricht), oder werden zu Kompensationszwecken gebraucht, wenn jemand die naturgemäß an einen selbst gerichteten Ansprüche Dritter ignoriert oder ausblendet (hier wäre beispielsweise an die soziale Tugend der Gerechtigkeit zu denken). Es fällt insbesondere auf, dass alle Vertreter des AN die metaethischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert (vor allem die Idee von G.E. Moore, dass „gut" eine einfache, nicht-natürliche und nicht-definierbare Eigenschaft sei) sehr ernst nehmen. Dagegen blieb die vor allem von Kant geprägte deutsche Tradition der Moralphilosophie hinsichtlich einer produktiven Aufnahme dieser Gedanken stets zurückhaltend – vermutlich auch deswegen, weil sie es nicht gewohnt war, einen Unterschied zwischen moralischen Inhalten und moralischen Aussagen bzw. zwischen ethischen Motiven und praktischen Gründen zu machen (eine Differenz, die das Projekt einer analytischen [Meta-] Ethik erst formuliert hat und dann für sich zu nutzen wusste). Die formalistische Ethik Kants bleibt aber, obwohl Moore sie diesbezüglich nicht davor verschonen wollte, weitestgehend von den Folgen und Implikationen des naturalistischen Fehlschlusses unberührt, da sie moralische Urteile allein auf einer autonomen Vernunft, die Urteile einem Test auf Widerspruchsfreiheit unterzieht, gründen lässt. Allerdings fällt die damit postulierte Autonomie der Ethik letztlich ihrer fehlenden materialen Basis zum Opfer, da nicht klar ist, welchen Inhalt die von der autonomen Vernunft vorgestellten moralischen Urteile haben und wie sich diese Urteile zu Urteilen verhalten, die sich aus der jeweiligen (nicht-menschlichen oder menschlichen) Spezies oder Lebensform ableiten lassen. (vgl. die Gegenüberstellung der Kantischen mit aristotelischen Normativitätskonzeptionen in 27) Der AN, vor allem der AN in einem engen Sinne, versucht jedoch gerade den letztgenannten Weg zu gehen und die Objektivität moralischer Urteile dadurch zu begründen und zu rechtfertigen, indem er auf natürliche Normen Bezug nimmt, die er aus der Bewertung eben dieser Lebensformen gewinnt. Der AN ist dabei grundsätzlich auch durch Aspekte charakterisiert, die hier (in Anlehnung an 23) nur genannt werden sollen, in den im Literaturverzeichnis erwähnten Schriften aber weitaus ausführlicher diskutiert werden: ● Der AN qualifiziert ‚gut' als ein attributives Adjektiv. ● Der AN gewinnt praktische Relevanz durch den ausdrücklichen Bezug auf die Tugenden. ● Der AN betont die transformative Kraft der Rationalität. ● Der AN geht von einer Beziehung zwischen natürlicher Teleologie und normativer Geltung aus. ● Durch die Abhängigkeit moralischer Urteile von Speziesbewertungen stellt der AN die Autonomie der Ethik in Frage. Ausblick Welche Zukunft ist dem Neoaristotelismus in der Ethik beschieden? Das wird sich unter anderem daran zeigen, ob Tugendethiken aristotelischer Provenienz der situationistischen Herausforderung, die die Existenz von Tugenden als robuste, situationsübergreifende Charaktermerkmale bestreitet, Stand halten können und ob sich – hinsichtlich des AN – ein normativer Bezug zur menschlichen Natur in einem in sich differenzierten Modell der „ersten Natur" (18) erschöpft oder auf eine „zweite Natur" (14) erweitert werden muss, um einem wissenschaftlich-empirisch verengten Verständnis von dem, was wir als Menschen sind und tun, entgehen zu können. Allerdings gilt es hier wie dort zu bedenken, dass wir es bei neoaristotelischen Ansätzen in der Ethik mit einem Amalgam verschiedener Einflüsse und Deutungsweisen zu tun haben. Dies führt auch dazu, dass eine präzise Rückführung einzelner Überlegungen auf spezifische historische Quellen und Kontexte weiterhin schwierig ist. Was jedoch mit aller Deutlichkeit in diesen Bericht veranschaulicht werden sollte, ist die Tatsache, dass wir es hier mit Ansätzen zu tun haben, die das menschliche Leben in all seinen Facetten und ethischen Implikationen ernst nimmt. Der Neoaristotelismus in der Ethik stellt dabei mit Sicherheit kein homogenes Modell dar, mit dessen Hilfe wir ethische Probleme voraussehen, evaluieren und lösen können; er ist vielmehr selbst die Quelle, aus der sich unser theoretisches und praktisches Wissen über das, was wir sind und was wir tun sollen, speist. In dieser Hinsicht bietet er auch die Möglichkeit, sich Fragen anzunähern, die hauptsächlich in der kontinentalen Philosophietradition diskutiert worden sind. Nicht nur im Deutschen Idealismus (25) lassen sich hierfür wichtige Anknüpfungspunkte finden, sondern auch in den Philosophien von Ludwig Wittgenstein (31), Friedrich Nietzsche (24) und Thomas von Aquin (19; 31). Am Ende ihres akademischen Schaffens war es Philippa Foot übrigens ein großes Anliegen gewesen, wieder stärker mit der kontinental-philosophischen Philosophietradition, vor allem der deutschen, in einen ernsthaften intellektuellen Austausch zu treten, der sich nicht in „höflichem Tourismus" (8, 11) erschöpft. Aus diesem höflichen Tourismus ist inzwischen ein reger und vor allem zukunftsträchtiger Diskurs geworden. UNSER AUTOR: Martin Hähnel ist promovierter Philosoph und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Bioethik der KU Eichstätt-Ingolstadt. Von ihm zum Thema sind bereits erschienen: (als Autor) Theorien des Guten. Zur Einführung (mit Maria Schwartz), Junius: Hamburg 2018; (als Herausgeber) Aristotelischer Naturalismus, Metzler: Stuttgart 2017; Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft?, De Gruyter: Berlin 2015. Literatur zum Thema:
Sammelbände, Übersichtswerke und Referenzaufsätze zum Neoaristotelismus:
allgemein: [2] Buchheim, T. u.a. (Hg.), 2003, Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg: Meiner. Metaphysik: Wissenschaftstheorie: Ethik: Politische Philosophie: [6] Schnädelbach, H., 1986, „Was ist Neoaristotelismus?" In: W. Kuhlmann (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 38-63. Wichtige Werke des ethischen Neoaristotelismus: [8] Foot, P., 2004, Die Natur des Guten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [9] Foot, P., 2009, "Moral Arguments", In: Dies., Virtues and Vices, Oxford: Clarendon, 96-109. [10] Geach, P., 1956, "Good and Evil", In: Analysis 17, 35-42. [11] Geach, P., 1977, The Virtues, Cambridge: Cambridge University Press. [12] Hursthouse, R., 1999, On Virtue Ethics, Oxford: Oxford University Press. [13] MacIntyre, A., 1987, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus. [14] McDowell, J., 1998, "Two Sorts of Naturalism", In: Ders., Mind, Value and Reality, Cambridge: Cambridge University Press, 167-197. [15] Nussbaum, M., 1998, „Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz", In: Rippe, H.P. / Schaber, P. (Hg.), Tugendethik, Reclam: Stuttgart, 114-165. [16] Russell, D., 2012, Practical Intelligence and the Virtues, Oxford: Oxford University Press. [17] Thompson, M., 2010, Life and Action, Cambridge/Mass.: Harvard University Press. [18] Thompson, M., 2013, "Forms of nature", In: Hindrichs, G. / Axel, H. (Hg.), Freiheit, Frankfurt a. M.: Klostermann, 701-735. Weiterführende Sekundärliteratur zum Thema: [20] Buchheim, T./Noller, J., 2016, „Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen? Zu Robert Spaemanns philosophischer Bestimmung der Person" In: Kreiml, J./ Stickelbroeck, M. (Hg.), Die Person – ihr Selbstsein und Handeln, Regensburg: Pustet, 145-179. [21] Gardiner, S. M., 2005, "Virtue Ethics Here and Now", In: Ders., Virtue Ethics Old and New, Ithaca: Cornell University Press, 1-8. [22] Halbig, C., 2013, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. [23] Halbig, C., 2015, „Ein Neustart der Ethik? Zur Kritik des aristotelischen Naturalismus". In: Markus Rothhaar / Martin Hähnel (Hg.), Normativität des Lebens – Normativität .der Vernunft? Berlin/Boston: De Gruyter, 175-197. [24] Harcourt, E., 2007, „Nietzsche and Eudaemonism", In: Gudrun von Tenevar (Hg.), Nietzsche and Ethics, Bern: Peter Lang, 89-118. [25] Kern, A./ Kietzmann, C. (Hg.), 2017, Selbstbewusstes Leben. Texte zu einer transformativen Theorie der menschlichen Subjektivität. Berlin: Suhrkamp. [26] Monk, R., 1991, The Duty of a Genius, London: Vintage. [27] Rothhaar, M. / Hähnel, M. (Hg.), 2015, Normativität des Lebens – Normativität der Vernunft? Berlin/Boston: De Gruyter. [28] Seel, M., 2011, 111 Tugenden, 111 Laster: Eine philosophische Revue, Fischer: Frankfurt a. M. [29] Spaemann, R., 2004. „Wenn ein schlimmer Zufall des Lebens uns das Glück raubt". In: FAZ vom 26.11. 2004. [30] Sturma, D., 2000, „Universalismus und Neoaristotelismus: Amartya Sen und Martha C. Nussbaum über Ethik und soziale Gerechtigkeit". In: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Philosophie des Sozialstaates. Weilerwist: Velbrück, 257-292. [31] Teichmann, R., 2011. Nature, Reason, and the Good Life: Ethics for Human Beings. Oxford: Oxford University Press. [32] Vogler, C., 2013, „Aristotle, Aquinas, Anscombe and the new virtue ethics". In: T. Hoffmann/Jörn Müller/Matthias Perkams (Hg.): Aquinas and the Nicomachean Ethics. Cambridge: Cambridge University Press. [33] Zagzebski, L., 2017, Exemplarist Moral Theory, Oxford: Oxford University Press. |
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