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PORTRÄTS

Spaemann, Robert

 

Spaemann, Robert

aus Information Philosophie 1/2014, S. 54-58

Ein religiös geprägter Philosoph. Robert Spaemanns Autobiographie in Gesprächen

Robert Spaemanns Elternhaus war religiös geprägt, Philosophie spielte keine Rolle. Seine früheste Kindheitserinnerung ist die, wie er als Dreijähriger, auf dem Schoß seiner Mutter liegend, beim Psalmodieren der Mönche in der Benediktinerabtei St. Josef im Münsterland aufwacht – ein Erlebnis, das ihn so geprägt hat, dass er später als Studierender an die Klosterpforte anklopfte, um aufgenommen zu werden (der Abt schickte ihn jedoch seines jugendlichen Alters wegen zurück).
Spaemann erzählt dies in Gesprächen mit Stephan Sattler, der daraus eine „Autobiographie in Gesprächen“ gemacht hat:

Spaemann, Robert: Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen. 350 S., Ln., € 24.95, 2012, Klett-Cotta, Stuttgart

Als Jugendlicher liebte er es, Indianer zu spielen und wollte sich dabei wie ein richtiger Indianer verhalten. Er schlug sich in die Büsche, je unwegsamer, je besser. Doch plötzlich erwachte der Philosoph in ihm: Wo würden richtige Indianer durchgehen, wenn sie hier wären? Sie würden natürlich auf dem breiten Weg gehen und sich nicht durch das Unterholz quälen. Also ging Spaemann von nun an auf dem breiten Weg. Damit war aber der Reiz des Indianerspielens dahin: Das Bemühen um Authentizität zerstört sich selbst. Nun hatte er sein Lebensthema gefunden: Unmittelbarkeit und das vergebliche Bemühen um Unmittelbarkeit und Authentizität. Gewollte Unmittelbarkeit ist eben nicht mehr Unmittelbarkeit.

Spaemann war seit seiner Jugend religiös geprägt. Der von seinem Elternhaus überlieferte Glaube, dass das Gotteserlebnis das Wichtigste ist, gab ihm einen tiefen Halt. Der Nationalsozialismus stieß ihn deshalb ab. Das Verhalten gegenüber den Juden war ihm der augenfälligste Beweis für deren Barbarei. Es fiel jedem auf, dass die Leute mit dem Stern plötzlich verschwunden waren. Das Gerücht wurde gestreut, sie machten einen Arbeitseinsatz für die Kriegsindustrie. Die Leute ohne Stern glaubten dieses Gerücht nur zu gerne. Spaemann wollte es aber genauer wissen und fragte Soldaten, die aus dem Osten zum Heimaturlaub kamen. Nach einem halben Jahr wusste er Bescheid. Er wusste, dass die Juden vergast wurden. Wenn die Leute nach dem Krieg sagten, sie hätten es nicht gewusst, so ist das Spaemann zufolge die Wahrheit. Aber warum wussten sie es nicht? Sie wollten es nicht wissen.

Sollte das Reich des Bösen die Zukunft bestimmen, wollte Spaemann Gärtner werden: an der vegetativen Natur endet der politische Totalitarismus. Einmal allerdings geriet er in Gefahr. An einem Vormittag, als der Zeichensaal leer war, zeichnete er an die Tafel eine Hitlerkarikatur und schrieb darunter: „Achtung! Totengräber Deutschlands!“. Die Zeichenlehrerin, eine echte Nationalsozialistin, zitierte den Direktor hierbei und verlangte umgehend, die geheime Staatspolizei kommen zu lassen, um den Täter ausfindig zu machen. Der Direktor nahm darauf einen Schwamm und ehe sich’s die Dame versah und empört von Strafvereitelung sprach, war das Corpus delicti ausgewischt. Der Direktor rechtfertigte sich: „Frau Kollegin, ich kann nicht zulassen, dass unsere Schüler dieses bösartige Produkt der Feindpropaganda zu Gesicht bekommen. Sofort weg damit!“. Nach dem Krieg sprach der Direktor Spaemann an: „Sagen Sie mal, das waren doch Sie, damals im Zeichensaal?“. Der Direktor hatte während des Unterrichts ähnliche, aber unverfängliche Karikaturen bei Spaemann entdeckt und ihm mit seiner Handlung das Leben gerettet. Er verlor später durch die Entnazifizierung sein Amt, nicht dagegen die Zeichenlehrerin: Sie machte Karriere und bekam staatliche und kirchliche Orden.

Zur Philosophie kam Robert Spaemann durch Hans-Eduard von Hengstenberg, der mit seinem Vater befreundet war und im Elternhaus verkehrte. Hengstenberg war für Spaemann der Inbegriff eines von der Leidenschaft des Erkennens ergriffenen Mannes, und er führte mit ihm lange Gespräche. Er war der Antipode von Spaemanns späterem Lehrer Joachim Ritter mit dessen ständiger Frage: „Was bedeutet das?“. Für Hengstenberg bedeutete ein philosophischer Satz genau das, was er sagt und nichts sonst. Spaemann wollte nicht Philosophie, sondern Theologie studieren. Für künftige Theologen war jedoch das Philosophiestudium dem Theologiestudium vorgeschaltet. Die vorgeschriebene Neuscholastik langweilte Spaemann aber bald. Er besuchte deshalb Vorlesungen außerhalb der Theologischen Fakultät, erst bei Gerhard Krüger, dann bei seinem Nachfolger Joachim Ritter über das Thema Tradition und Moderne. Spaemann fing nun Feuer für die Philosophie und gab die Theologie auf. Und das Thema „Moderne und Modernitätskritik“ ließ ihn seither nicht mehr los.


Spaemann engagierte sich bei der katholisch und gleichzeitig sozialistisch orientierten Zeitschrift „Ende und Anfang“, die von jungen Leuten herausgegeben wurde, und nahm an den Redaktionskonferenzen teil. Die Zeitschrift sandte ihn als Delegierten an den 1947 in Ostberlin tagenden Deutschen Volkskongress. An dessen Schluss wurde eine Resolution vorgelesen, die sich an die in London tagenden Außenminister wandte und die Einheit Deutschlands verlangte. Aus dem Kreis der 800 Delegierten gab es zwar zwei Abänderungsvorschläge, aber die wurden nicht diskutiert, geschweige denn darüber abgestimmt. Bei der Schlussabstimmung erhoben sich alle Hände der Delegierten. Bei der formalen Zusatzfrage: Wer ist dagegen?, hob Spaemann schüchtern und etwas ängstlich als einziger seinen Arm. Wilhelm Pieck, einer der damaligen SED-Führer, raunzte ihn an: „Der Genosse soll doch seinen Namen nennen, wenn er dagegenstimmt.“ Und ein Gewerkschafter neben Spaemann fuhr ihn an: „Wozu bist du überhaupt hergekommen, wenn du dagegen stimmst?“. Am nächsten Tag wurde in den Zeitungen die Gegenstimme nicht erwähnt. Die Resolution war einstimmig verabschiedet worden. Und Spaemann wusste, wo er nicht hingehörte. Er fuhr nach Hause und hängte dort das Leninbild von der Wand ab.

Spaemann gehörte bald zum Kreis der engeren Ritter-Schüler, der als „Collegium Philosophicum“ berühmt wurde – nicht zuletzt, weil diese Schüler das akademische Fach Philosophie in der Bundesrepublik später prägten. Dazu gehörten Odo Marquard, Hermann Lübbe, Günter Rohrmoser, Ludger Oeing-Hanhoff und Hans Schrimpf. Spaemann genoss in diesem Kreis die Narrenfreiheit, Fragen zu stellen, die ansonsten nicht gefragt wurden. Diese Offenheit kannte nur eine Einschränkung: Man durfte nichts Freundliches über Fichte sagen. Als der junge Hermann Lübbe einmal fragte, warum Hegel neben Fichte auf dem Dorothenstädtischen Friedhof in Berlin begraben sein wollte, fiel er bei Ritter eine Zeit lang in Ungnade. Für Ritter war die Art charakteristisch, wie er Fragen stellte. Bei philosophischen Positionen fragte er nicht: Ist das wahr oder falsch, sondern: Was bedeutet das? Damit war man aufgefordert, die Relevanz eines Gedankens im Kontext der Geschichte und Entwicklung des menschlichen Geistes zu erörtern.

1948 studierte Spaemann ein Jahr lang in Fribourg. Dort war die Philosophie des Thomas von Aquin obligatorisch und wurde nicht nur aus philosophiehistorischem Interesse behandelt. Auch wurden die Vorlesungen auf Latein gehalten.

Zurück in Deutschland beschloss Spaemann, bei Ritter über de Bonald zu promovieren, ein Name, mit dem dieser wenig anzufangen wusste. Spaemann war über Carl Schmitt auf de Bonald gestoßen, der nicht nur die Idee der Volkssouveränität ablehnte, sondern die Idee der Souveränität als solche. Souverän war für ihn die „volonté générale“, und diese war nichts anderes als der Wille des Schöpfers, also das Naturrecht. Spaemann wurde klar, dass de Bonald damit eine Theorie der Gesellschaft entwickelte, die beanspruchte, als prima philosophia anerkannt zu werden. De Bonald begreift die Präsenz Gottes in der Gesellschaft als geistige Macht, und die Metaphysik hat sich deren Wahrheit zu vergewissern. Die Erste Philosophie muss eine Theorie sein, die die gesellschaftliche Wirklichkeit der Metaphysik als Funktion gesellschaftlicher Selbsterhaltung reflektiert. Die Theorie der Gesellschaft rückt damit an die Stelle der Metaphysik und wird prima philosophia. Auguste Comte machte aus den Gedanken de Bonalds eine wissenschaftliche Disziplin, die er schon 1838 „Soziologie“ nannte. Diese Angaben genügten, um Ritter von Spaemanns Vorhaben zu überzeugen.

Spaemann schrieb die Arbeit über den „Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Reaktion“ in einem Zug innert drei Monaten. Das Buch fand in Deutschland zunächst nur geringe Resonanz. Die These, nicht Karl Marx sei der eigentliche Theoretiker der modernen Gesellschaft, sondern Auguste Comte und de Bonald, regte niemanden auf. Das änderte sich; in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen sich politische Philosophen in Bologna und Turin für das Buch zu interessieren, es wurde darauf sowohl ins Italienische und Spanische wie auch ins Französische übersetzt.

Spaemann, 24jährig, beschloss, nicht das ganze Leben an der Universität zu verbringen und wurde für vier Jahre Lektor im Kohlhammer-Verlag. 1956 erhielt er durch die Vermittlung von Joachim Ritter eine Assistentenstelle bei Ernst Liechtenstein, einem neu berufenen Lehrstuhlinhaber für Pädagogik in Münster – obwohl Spaemann nie Pädagogik studiert hatte. Er begann sich intensiv mit Rousseau zu beschäftigen, und in dieser Zeit entstanden seine Rousseau-Aufsätze, die unter dem Titel Rousseau – Bürger ohne Vaterland erschienen sind und im Jahr 2008 neu aufgelegt wurden. Da Kant Pflichtlektüre für die Studierenden war, setzte sich Spaemann intensiv mit dessen Werk auseinander: Die Kritik der Urteilskraft mit seiner Durcharbeitung des Teleologieproblems wurde in der Folge eines der für ihn wichtigsten Bücher.

Als Habilitationsthema wählte Spaemann die Kontroverse, die die beiden französischen Bischöfe Fénelon und Bossuet gegen Ende des 17. Jahrhunderts führten. Dabei ging es um die Frage, ob der Mensch Gott als Garanten seiner Erhaltung oder um seiner selbst willen lieben soll. Es war dies der letzte theologische Streit, der das ganze gebildete Europa beschäftigte und auch Leibniz zu einem Lösungsvorschlag veranlasste. Was Spaemann dabei interessierte: Wie konnte es dazu kommen, dass zwei bedeutende Geister der Gegenwart, die beide in derselben Tradition, der der christlichen Überlieferung, stehen, sich in einen so existentiellen Streit verwickelten? Beide Kontrahenten beziehen sich zwar auf Thomas von Aquin, aber warum versteht ihn keiner von beiden? Spaemanns Antwort in seinem Buch Fénélon – Reflexion und Spontaneität: Weil beide Cartesianer sind und von einem nicht-theologischen Naturbegriff ausgehen, einem Naturbegriff, für den alles Lebendige nur um seine Selbsterhaltung kreist, auch der Mensch. Spaemann schuf den Begriff der „bürgerlichen Ontologie“, der den rechnenden Sinn des Bürgertums, der sich vor allem um die eigene Erhaltung dreht, bezeichnet und der auch im Mittelpunkt des Denkens von Hobbes und Spinoza steht und der die Interessenslage des aufkommenden Bürgertums widerspiegelt. Damit entfiel die Voraussetzung der Tradition, die menschliche Natur ziele über sich hinaus.

Kurz nach seiner Habilitation wurde Spaemann zum Ordinarius für Philosophie an der Technischen Hochschule Stuttgart berufen, eine Professur, die er fünf Jahre lang innehatte. Diese Technische Hochschule hatte bereits eine Professur für Philosophie, die von Max Bense wahrgenommen wurde. Dieser beschäftigte sich mit Logik und Wissenschaftstheorie und vertrat zudem eine Ästhetik, die versuchte, das, was Kant „begriffloses Wohlgefallen“ nennt, zu mathematisieren. Zudem vertrat er einen offensiven Atheismus, was zu Debatten im baden-württembergischen Landtag führte. Man beschloss, einen ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie (im Unterschied zur Professur von Bense) einzurichten, auf den nun zum Entsetzen Benses Spaemann berufen wurde. Spaemann hielt seine Antrittsvorlesung über „Die zwei Grundbegriffe der Moral“ vor überfülltem Audimax, aber Bense hatte seinen Mitarbeitern verboten, dorthin zu gehen. Um das Verhältnis mit Bense zu normalisieren, wartete Spaemann nach einer Vorlesung Benses vor dem Institutsgebäude auf diesen und sprach ihn an: „Herr Bense, man sagt mir, Sie wollten mich nicht sprechen, aber ich möchte das doch gerne von ihnen selbst hören.“ Damit war das Eis gebrochen. Bense klagte, er habe nur eine außerordentliche Professur, während Spaemann ordentlicher Professor sei. Spaemann setzte sich nun mit Erfolg dafür ein, das zu ändern, was in der Folge zu einem guten Verhältnis mit Bense führte. Eines Tages rief Bense Spaemann an. Der Landtag hatte sich erneut mit ihm beschäftigt. Bense hatte in einer Vorlesung das gescheiterte Attentat auf Papst Paul VI. verteidigt: Der Papst sei ein geistiger Tyrann, und Tyrannenmord sei zu rechtfertigen. Nun wollte der Landtag Bense entlassen. „Spaemann, wat soll ich machen? Ich brauch doch dat Geld“. Spaemann empfahl ihm, an den Landtag zu schreiben, er habe den Tyrannenmord verteidigen wollen, sich aber „leider am Beispiel vergriffen.“ Bense behielt seine Professur.

1969 wurde Spaemann auf den Lehrstuhl von Gadamer in Heidelberg berufen. Er hatte sich nicht darum beworben. Vielmehr war eines Tages Dieter Henrich nach Stuttgart gekommen und fragte Spaemann, ob er daran interessiert sei, nach der Emeritierung Gadamers dessen Lehrstuhl zu übernehmen.

An die Zeit der Studentenbewegung hat Spaemann schlechte Erinnerungen. Jan van der Meulen, Honorarprofessor für Philosophie, hielt damals eine Vorlesung über Marx. Schon in der ersten Vorlesungsstunde verlangten die Wortführer der Studenten Diskussion. Van der Meulen erwiderte: „Wir können nicht jetzt schon diskutieren, nachdem ich ja noch gar nichts vorgetragen habe, was sinnvollerweise Gegenstand einer Diskussion sein könnte.“ Die Vorlesung platzte. Der damalige Institutsvorstand verlangte in einem unfreundlich verfassten Schreiben von van der Meulen, er habe den Studierenden nachzugeben. Dieser beklagte sich darauf bitter über diese ostentative Desolidarisierung durch den Institutsvorstand. Wenige Tage darauf beging er Selbstmord. Gadamer, Henrich und Spaemann waren auf seinem Begräbnis, der Institutsvorstand taktvollerweise nicht.
Die Studenten hatten auch beschlossen, die Vorlesung der Lehrbeauftragten von Beyer zu boykottieren. Darauf stellte das Institut den Antrag, den Lehrauftrag zu streichen, da das Budget zu knapp sei. Spaemann wagte es, die Aufrichtigkeit dieser Begründung in Frage zu stellen. Ein Kollege fuhr ihm darauf über den Mund: So etwas sei eine Unverschämtheit. Spaemann entschuldigte sich darauf und bot an, den Lehrauftrag aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Dieser musste nun wohl oder übel verlängert werden, wurde aber im darauffolgenden Semester gestrichen. Spaemann hatte nun genug von Heidelberg. Die Desolidarisierung mit Kollegen, die bedrängt wurden, war unerträglich geworden.

Da sein Lehrstuhl in Stuttgart noch nicht neu besetzt war, fragte er Bense, wie er darüber denke, wenn Spaemann bereit wäre, zurückzukehren. Bense antwortete: „Wir machen das sofort“, und so kehrte Spaemann von Heidelberg nach Stuttgart zurück – allerdings nur für kurze Zeit. Bereits im Jahr 1972 erhielt er einen Ruf nach München, wiederum ohne sich beworben zu haben (in München blieb er dann bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1992). Im selben Jahr wurde Spaemann mit zwei Texten einem breiten Publikum bekannt. Im Merkur erschien „Utopie der Herrschaftsfreiheit“, einer Kritik des herrschaftsfreien Diskurses, wie ihn Habermas vertrat. Spaemann gab zu bedenken, dass der rationale Diskurs Vernunft immer schon voraussetzt und nicht umgekehrt. Der Diskurs hat die Funktion der „gesetzprüfenden Vernunft“ (Hegel), nicht aber die einer Norm kreierenden Instanz. Zudem sind reale Diskurse durch Bedingungen eingeschränkt, ihre Freiheit muss durch herrschaftliche Sicherungen abgesichert werden (etwa durch Polizei). Ein herrschaftsfreier Diskurs kann immer nur dann stattfinden, wenn ein Mächtiger ihn möglich macht und den Raum der Freiheit des Diskurses absichert. Die Idee des „herrschaftsfreien Diskurses“ scheint damit das eigentlich Politische zu eliminieren: Man kann das Politische nicht im Diskurs auflösen. In einem zweiten Aufsatz „Moral und Gewalt“ entwickelte Spaemann Kriterien, aufgrund deren Erfüllung ein Staat Loyalität und Gesetzesgehorsam verlangen kann: 1. Freiheit für Kritik am staatlichen Handeln. 2. Möglichkeit legaler Verfassungsänderung. 3. Auswanderungsfreiheit.

Ein Schwerpunkt der Münchner Zeit galt der Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. Dazu erschien 1981 das Buch „Die Frage Wozu“. Spaemann stellte darin die in der Wissenschaft vertretene Ansicht, man müsse auf teleologische Interpretationen der Wissenschaft verzichten, in Frage. Von Nicolai Hartmann bis Wolfgang Stegmüller war zu lesen: Nur menschliches Handeln ist zielgerichtet, denn nur der Mensch setzt sich Zwecke. Für Spaemann stimmt das nicht: Wir können uns Zwecke nur setzen, weil wir Ziele bereits in uns vorfinden. Wenn die ganze Welt entteleologisiert wird, dann sieht sich der Mensch als einsamer Vagabund in einem sinnlosen Universum. Dem steht ein anderes Interesse entgegen, das Interesse an Heimat, an Beheimatung. Leben kann nicht aufgeteilt werden in Subjektivität und Objektivität: Leben ist die Verbindung von beiden. Das Thema Leben trat deshalb immer mehr ins Zentrum von Spaemanns philosophischen Bemühungen. Er sieht eine Art „innere Zweckmäßigkeit“ von Lebendigem, ein Streben von Lebewesen nach Vollendung, nach Entfaltung der jedem Lebewesen eigenen Gestalt und Natur. Innere Zielgerichtet ist für ihn geradezu die Definition von Lebendigkeit. Spaemann betont aber, er vertrete eine Teleologie nur bei lebenden Einzelorganismen. Den Geschichtsprozess teleologisch zu verstehen, liege ihm fern. Akzeptieren würde er nur, dass das, was innerweltlich Zufall ist, im Dienste einer göttlichen Absicht steht.

Spaemann bezeichnet sich als „metaphysischen Realisten“. Das bedeutet, dass er eine Wirklichkeit annimmt, die nicht nur Wirklichkeit für ihn ist. Der andere ist, jenseits alles dessen, was ich von ihm weiß, genauso real, wie ich selbst bin.

Nach Spaemanns Emeritierung begannen sich immer mehr Menschen mit seiner Philosophie zu beschäftigen. Die „Moralischen Grundbegriffe“, Rundfunkvorträge, wurden in 14 Sprachen übersetzt. Bereits unter Johannes Paul II. wurde er als Mitglied in die Päpstliche Akademie für das Leben berufen. Kardinal Ratzinger widmete eines seiner Bücher Spaemann „in Freundschaft“ und lud ihn zu den Tagungen in Castel Gandolfo ein. Damals kursierte in der evangelischen Kirche die Idee eines interkonfessionellen Konzils zum Thema Friede und Bewahrung der Schöpfung. Ihr Hauptsprecher war Carl Friedrich von Weizsäcker. Dieser nutzte eine Kaffeepause in Castel Gandolfo dazu, den Papst zum Mitwirken zu bewegen: Vom Mitwirken der katholischen Kirche hänge das Gelingen des ganzen Projektes ab. Der Papst drehte sich um und bat Spaemann zu dem Gespräch hinzu. Dieser gab zu bedenken, dass damit Hoffnungen geweckt werden würden, die nicht erfüllt werden könnten und dass ein solches Konzil deshalb weder der Menschheit noch der Kirche dienlich wäre. Damit war das Gespräch beendet. Weizsäcker fuhr Spaemann später an: „Herr Spaemann, haben Sie bedacht, dass vielleicht der dritte Weltkrieg ausbricht, weil Herr Spaemann dem Papst die Teilnahme an diesem Weltkonzil ausgeredet hat?“

Nach seiner Emeritierung nahm Spaemann vermehrt zu Themen der katholischen Kirche Stellung. Er wehrt sich aber dagegen, dass man seine Philosophie auf die Religion zurückführt, wie es etwa Norbert Hoerster macht, der argumentiert: „Spaemann ist ein katholischer Philosoph. Darum muss er dies oder das so sagen, wie er es sagt, also zum Beispiel für Embryonenschutz sein.“