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Vorträge

13.11.2020 Druckversion  |  Schrift: vergrößern verkleinern 

John-Stewart Gordon: Bemerkungen zum Verhältnis von Corona und Fake News

Gordon, John-Stewart

Bemerkungen zum Verhältnis von Fake News und Corona

 

  1. 1.      Einleitung

Als der Schwarze Tod im Mittelalter wütete, tötete er ca. 75-200 Millionen Menschen und löschte über 60% der europäischen Bevölkerung aus, und als die Spanische Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Drittel der Weltbevölkerung infizierte, starben dabei bis zu 50 Millionen Menschen weltweit. Diese Ereignisse sind dem kollektiven Gedächtnis der im Hier und Jetzt lebenden Menschen nicht mehr wirklich präsent, gleichwohl die Todeszahlen im Vergleich zum Coronavirus erheblich grösser waren. Beide Pandemien stürzten die bekannte Welt in eine sozio-politische und wirtschaftliche Krise, die das Schicksal der Menschen nachhaltig verändert hat (Spinney 2018, Vögele et al. 2016).

Auf Grund der globalen wirtschaftlichen Vernetzung in der Gegenwart stellt die Coronakrise wegen ihrer umfassenden negativen Folgen für den weltweiten Finanz- und Wirtschaftsbereich nicht nur für ganze Ökonomien, sondern auch für alle privaten Haushalte ein grundlegender Einschnitt in der Weltgeschichte dar. Die Verletzlichkeit unserer Conditio Humana wird durch die Coronakrise clare et distincte offengelegt. Gleichzeitig werden die existentiellen Urängste der Menschen wie Krankheit, Sterblichkeit oder Verdienstausfall durch Arbeitslosigkeit zu Tage gefördert. Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Krise ist es dann wenig verwunderlich, dass die demokratischen Grundfesten der modernen Gesellschaft in Gefahr sind. Fake News und Verschwörungstheorien haben gerade in diesen unsäglichen Zeiten Hochkonjunktur und greifen zusätzlich das Fundament unserer demokratischen Gesellschaft und den sozialen Frieden an. Dies ist eine überaus gefährliche Situation (Levy 2016).

Der vorliegende Beitrag versucht, das Problem von Fake News am Beispiel der Coronakrise zu kontextualisieren und nimmt dabei insbesondere auf das demokratiegefährdende Potential ihres Zusammenspiels Bezug. Darüber hinaus wird in Anlehnung an die Überlegungen von Mill, Kant und Aristoteles ein Lösungsversuch skizziert, der einen möglichen Ausweg mit Blick auf die Bewältigung der Krise aufzeigt. Der entscheidende Punkt besteht darin, unsere Einstellung zur Krise zu verändern, damit wir diese besser bewältigen können. Menschen, die auf Grund von Fake News und Verschwörungstheorien – ob gewollt oder ungewollt - nachhaltig in ihren Meinungen negativ beeinflusst werden, sind mit Blick auf den Umgang mit der Krise weniger gut gewappnet, als Menschen, die sich nicht oder weniger schnell verführen lassen. Diesbezüglich, so die These des Beitrags, kann die Philosophie und das philosophische Denken weiterhelfen. Eine aufgeklärte Gesellschaft lässt sich weniger stark von zweifelhaften Behauptungen korrumpieren und dient insgesamt als ein verlässlicher moralisch-politischer Schild gegen extremistische Tendenzen in Krisenzeiten.     

 

  1. 2.      Fake News im Kontext der Coronakrise

Der zeitgenössische Philosoph Rafael Capurro, der ebenfalls ein anerkannter Experte für Informationswissenschaften einschließlich der ethischen Aspekte ist, hat in seinem lesenswerten Beitrag Digital Ethics (2009) mit Recht darauf hingewiesen, dass sich die digitale Ethik – ein neuer Zweig der Angewandten Ethik - mit den sozio-politischen und moralischen Auswirkungen von digitalen Informationen und Kommunikationstechnologien auf unsere Gesellschaft befasst. Gemäss der Standarddefinition versteht man unter Digitalisierung im Allgemeinen einen Transformationsprozess von Informationen. Was früher in physischer Form vorlag, liegt nach dem Prozess in einem digitalen – d.h. von einem Computer lesbaren – Format vor. Zum Beispiel: Vormals das gedruckte Buch und der auf Papier geschriebene Brief, nunmehr das E-Book und die E-Mail. Die Digitalisierung der Gesellschaft erfolgt nicht nur im Kontext der Internet of Things (IoT) und der digitalen Plattformen wie Facebook, Instagram, Airbnb, Uber und Co, sondern auch vor dem Hintergrund von Künstlicher Intelligenz mit Blick auf autonomes Fahren, biometrischer Daten zur Identifikation von Personen und der sogenannten virtuellen Realität (Google Glass, Second Life etc.). Darüber hinaus gibt es bereits Transformationsprozesse auf staatlicher Ebene, die den E-Staat vorbereiten sollen, wie man am besten am Beispiel von Estland erkennen kann. Hier ist die Digitalisierung der staatlichen Institutionen, Abläufe und Partizipation der Bürger am meisten fortgeschritten. Dies alles hat nicht nur positive Folgen, sondern birgt ebenfalls erhebliche Gefahren, die das reibungslose Funktionieren einer Gesellschaft gefährden kann.

Ein nicht unerheblicher Teil der neuen Technologien basiert auf einer fünfteiligen Stufenfolge: (1.) Das Verhalten der Menschen wird möglichst umfänglich beobachtet, was (2.) dazu führt, dass eine beträchtliche Datenmenge gesammelt wird. Im (3.) Schritt werden die gesammelten Daten entweder selbst genutzt oder gewinnbringend an andere Unternehmen verkauft. Die Daten werden im (4.) Schritt so aufbereitet, dass man das Verhalten der Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit vorherbestimmen kann, um im (5.) Schritt in der Lage zu sein, ihr Verhalten zu beeinflussen und zu steuern. Der letzte Schritt beinhaltet zum einen die Programmierung von individualisierter Werbung[i] und zum anderen bietet es den staatlichen Institutionen und kommerzielle Unternehmen die Möglichkeit, Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren.[ii] Am Anfang einer jeden Technologie steht vermutlich das Ziel, die individuelle Autonomie des Menschen positiv zu erweitern, wobei sich unsere Gesellschaft nunmehr dahingehend entwickelt hat, dass der Nutzer entweder durch einen staatlichen oder kommerziellen Paternalismus bestimmt wird. 

Das Problem von Fake News und Verschwörungstheorien im Kontext der Coronakrise entfaltet sich genau vor diesem Hintergrund wie man unter anderem am Beispiel von Brasilien[iii] deutlich erkennen kann. Fake News – verstanden als die absichtliche Verbreitung von Desinformationen und Falschmeldungen - sind keine moderne Erfindung, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Auf Grund der globalen Vernetzung und Digitalisierung im Rahmen der neuen Medien sind die negativen Auswirkungen von Fake News, die sich extrem schnell via Facebook, Twitter und YouTube über das Internet verbreiten und viele Millionen – teils Milliarden – Menschen erreichen, jedoch viel wirkmächtiger als zuvor und können damit einen echten demokratiegefährdenden Charakter annehmen. Diese Situation können wir derzeit mit Blick auf die Coronakrise deutlich erkennen. Es gibt zumindest zwei substantielle Berührungspunkte zwischen der Coronapandemie und Fake News, die wir im Folgenden etwas genauer in den Blick nehmen wollen: Zum einen geht es um die individuelle Ebene und zum anderen um die gesellschaftliche Ebene.

Ohne Zweifel stellen die schwierigen Abläufe, die Komplexität mit Blick auf die Koordinierung internationaler Partner und Programme, die Zeitnot (insbesondere wenn es sich um eine schwere Krankheit handelt), der Mangel an Kompetenz auf allen Ebenen, aufkeimender Nationalismus in der Krise (wer bekommt, was zuerst) sowie die Furcht vor den enormen finanziellen und wirtschaftlichen Folgen für die Staaten und Individuen im Kontext einer Pandemie eine existentielle Herausforderung dar. So etwas erfolgreich und ohne anfängliche Rückschläge zu meistern, ist unmöglich. Wenn allerdings die Maßnahmen, die notwendig sind, um sich um jene Herausforderungen zu kümmern, zusätzlich noch durch Fake News und Verschwörungstheorien unterwandert werden, dann kommt es zu einem echten Problem. In der Regel sind Fake News nicht sofort als solche zu erkennen und es braucht Zeit, um die Behauptungen zu prüfen. Nicht jede Person hat immer die Zeit oder Lust dies zu tun, vor allem wenn es sich dabei um Menschen handelt, denen man im Allgemeinen vertraut oder die eine Vorbildfunktion inne haben etc. Hinzu kommen individuelle Leichtgläubigkeit und Inkompetenz.

Vor diesem Hintergrund kann man auf der individuellen Ebene zweierlei Entwicklungen feststellen: Zum einen kann man im Kontext der Coronakrise konstatieren, dass Fake News und Verschwörungstheorien dafür verantwortlich sind, dass gesundheitsgefährdende Ratschläge, wie man sich gegen das Virus schützen sollte, dazu geführt haben, dass bereits viele Tausend Menschen daran gestorben sind. Dies ist nicht nur eine sehr traurige und verstörende Sache, sondern sie offenbart auch ein hohes Maß an Unmenschlichkeit in Krisenzeiten. Ungeprüfte und nicht fundierte Ratschläge in einer existentiellen Situation zu äußern, insbesondere wenn man eine Vorbildfunktion innehat, sind nicht nur leichtsinnig, sondern auch grob fahrlässig. Jene Menschen sollten entsprechend bestraft werden, wenn andere Menschen dabei zu Schaden gekommen sind. Zum anderen kommt es in Krisenzeiten, so auch in der Coronakrise, zur Ausbeutung von Menschen, wenn ihnen zum Beispiel nutzlose Masken, defekte Schutzkleidung oder vermeintliche Heilmittel für viel Geld verkauft werden. Doch auch staatliche Hilfsprogramme werden von skrupellosen Menschen ausgenutzt, um möglichst viel Geld zum Nachteil anderer abzugreifen (vgl. die Clans in Berlin). Gibt es etwas Abscheulicheres?

 

  1. 3.      Ist die Demokratie in Gefahr?

Eine Pandemie, die unabsehbare negative Folgen für die Menschen birgt, macht es erforderlich, dass der Staat – zumindest zeitweise – in die Grundrechte seiner Bürger eingreifen kann. Dies ist vernünftig, da Schlimmeres in einem bestimmten Augenblick verhütet werden soll. Diesbezüglich kommt es dann zu einer Güterabwägung zwischen der Gesundheit der Bürger, ihrer Freiheit (zum Beispiel bei Ausgeh- und Kontaktbeschränkungen) und dem individuellen und gesellschaftlichen Wohlstand. Eine Pandemie mit Ausgehbeschränkungen hat das Potential, die Leistungsfähigkeit ganzer Volkswirtschaften auszubremsen und die Menschen um ihre wirtschaftliche Existenz zu bringen. Umso problematischer ist es, wenn nicht nur staatliche Grenzen geschlossen werden, sondern die Bürger ebenfalls für längere Zeit nicht mehr das eigene Heim verlassen dürfen. Ein solcher Lock down ist nicht nur positiv zu bewerten, sondern er evoziert erhebliche Probleme wie zum Beispiel: Der Verlust von Jobs und die damit verbundene Gefahr eines sozialen Abstiegs, Unternehmen gehen Pleite, Gewalt in den Familien gegenüber Frauen und Kindern sowie das Aufkommen einer Sündenbockmentalität und eine Radikalisierung politischer Meinungen (vgl. den aktuellen Rassismus mit Blick auf Chinesen in den USA und Deutschland)[iv].     

Staatliche Maßnahmen, die letztendlich dazu führen, dass man dazu aufgefordert wird, sich zu impfen, sobald ein verlässliches Mittel vorliegt, stoßen auf erhebliche Kritik seitens der radikalen Impfgegner, die es auf der ganzen Welt gibt. Viele von ihnen glauben, angestachelt von Verschwörungstheorien, dass ihnen beim Impfen zum Beispiel Mikrochips eingepflanzt werden, mit deren Hilfe dann entweder die Regierung oder irgendwelche „dunklen Mächte“ sie beobachten und kontrollieren könnten. Doch auch andere radikale Gegner staatlicher Eingriffe haben sich bereits formiert und spielen entweder die gesamte Coronakrise herunter oder nutzen diese, um ihre eigene politische Agenda zu verfolgen. Die Neuen Rechten in Deutschland haben das Potential der Coronakrise erkannt und infiltrieren regelmäßig Demonstrationen, um die Regierung als inkompetent zu brandmarken, Chaos zu verbreiten sowie Fake News und rechte Verschwörungstheorien unter die Leute zu bringen (vor allem wird gegen die Juden und Flüchtlinge gehetzt)[v].

Ohne Zweifel kann man davon ausgehen, dass solche Radikalisierungstendenzen ein erhebliches Potential freisetzen, die demokratische Grundordnung liberaler Staaten zu gefährden. Es wird dabei Öl ins Feuer gegossen und billigend in Kauf genommen, dass der soziale Unfrieden genährt und schlussendlich die soziale Eintracht in der Gemeinschaft dauerhaft beschädigt wird. Wenn dies der Fall ist, dann schlägt die Stunde der radikalen Gegner der Demokratie. Das besondere Zusammenspiel von Fake News, Verschwörungstheorien und der Coronapandemie kostet uns dann nicht nur das Leben, sondern kann unsere gesamte politische Lebensweise nachhaltig zum Schlechten hin verändern. Die nachfolgenden Generationen werden dann nicht mehr in liberalen Staaten aufwachsen können, sondern in antiliberalen und teils faschistischen Nationalstaaten leben müssen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Gefahr einer solchen Entwicklung nicht unterschätzt wird und alles dafür getan werden sollte, um solche Tendenzen bereits im Keim zu ersticken.

Im Folgenden sollen einige Überlegungen unter anderem in Anlehnung an Mill, Kant und Aristoteles skizziert werden, die helfen sollen, die oben genannte demokratiegefährdende Entwicklung zu vermeiden. Diesbezüglich wird insbesondere auf die Rolle der Philosophie und das philosophische Denken mit Bezug auf die Bewältigung der Krise eingegangen. Es braucht, wie bereits am Anfang angedeutet worden ist, einen Wandel der inneren Einstellung der Menschen mit Blick auf die Bewältigung der Krise, um das Problem von Fake News und Verschwörungstheorien besser in den Griff zu bekommen. Denn nur eine aufgeklärte Gesellschaft ist in der Lage, sich auch in Krisenzeiten erfolgreich gegen extremistische Tendenzen zu behaupten.              

 

  1. 4.      Lösung aus der Krise

Fake News und Verschwörungstheorien sind auf Grund der schnellen und weiten Verbreitung im Zeitalter des Internets das bevorzugte Medium der Neuen Rechten. Als unschuldige Meinungsäußerungen getarnt, werden absichtlich Falsch-informationen, mit dem Ziel Chaos zu verbreiten, veröffentlicht und damit der soziale Frieden in der Gesellschaft gestört. Die allgemeine Verwirrung der Menschen, die sich in einer existentiellen Krise befinden, wird ausgenutzt. Den Menschen werden teils obskure Einfachlösungen präsentiert, die in der Regel die Handlungskompetenz und Expertise des Staates und ihrer Fachleute in Frage stellen sollen, um die eigene Position als die einzig richtige auszuweisen. Die Menschen verlieren dann allmählich das Vertrauen in den Staat, die Probleme angemessen lösen zu können.

Der englische Philosoph John Stuart Mill hat in seinem Buch Über die Freiheit (1859) deutlich betont, dass die Freiheit des einzelnen nicht dazu führen darf, dass die Existenz des Staates bzw. der Gemeinschaft (oder die von Privatpersonen) bedroht wird und betont diesbezüglich:

„[...] dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumischen befugt ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“ (Mill 1998: 16)

Mit anderen Worten: Fake News und Verschwörungstheorien stellen, wenn sie ein bestimmtes Potential erreicht haben, eine große Gefahr für die Gemeinschaft im Allgemeinen und Privatpersonen im Besonderen dar (vgl. die aktuelle Situation von Chinesen und Juden in der Coronakrise). Vor diesem Hintergrund ist es richtig und angemessen, wenn diejenigen, die ihre Falschinformationen als bloße Meinungsäußerungen tarnen mit Nachdruck rechtlich verfolgt und mit aller Härte des Gesetzes sanktioniert werden. Dies ist keine politische Zensur, sondern Ausdruck einer wehrhaften Demokratie. Das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung deckt in keiner Weise eine bestimmte Form von Fake News und Verschwörungstheorien ab, wenn es um die Existenz einer Gesellschaft sowie Gewalt gegen Menschen geht. Der Staat hat also die notwendige Aufgabe, eine bestimmte Form von Fake News und Verschwörungstheorien zu sanktionieren.

            Neben einer unnachgiebigen Strafverfolgung von bestimmten Fake News und Verschwörungstheorien ist es notwendig, dass man ebenfalls mit Nachdruck an die Vernunftfähigkeit der Menschen appelliert. Nur eine aufgeklärte Bürgerschaft ist in der Lage, sich gegen die Dynamik einer Spirale von Falschmeldungen zu stellen und des Pudels Kern zu erkennen. Diesbezüglich hat Immanuel Kant ganz recht, wenn er folgendes in seiner Schrift Was ist Aufklärung? (1784) schreibt:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Kant 1784: 481)

Die Mündigkeit des Menschen, so Kant, zeichnet sich unter anderem darin aus, dass er selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelt, indem er sich von der Meinung anderer unabhängig macht. Das gedankenlose Übernehmen anderer Positionen ist moralisch gesehen nicht nur im hohen Maße problematisch, sondern widerspricht dem Wesen der Aufklärung. Fake News und Verschwörungstheorien greifen vor allem dort am besten, wo Menschen aufgegeben haben, sich ihres „eigenen Verstandes zu bedienen“. Damit ist nicht gesagt, dass wir Menschen immer und alles in Frage stellen sollen. Diese extreme solipsistische Position wäre aus pragmatischer Sicht weder zu empfehlen noch umsetzbar. Mein Vorschlag ist lediglich ein Aufruf dazu, dass wir als Mitglieder einer aufgeklärten modernen Gesellschaft die Kompetenz haben müssen, wann wir mit Blick auf welche Inhalte vorsichtig sein sollten. Ohne Zweifel bietet hier die Philosophie mit Blick auf das kritische Denken die beste Möglichkeit dazu. Die staatliche Erziehung des Menschen sollte sich also ebenfalls daran orientieren und Raum für das Fach Philosophie im Bildungskanon fest - und für alle verbindlich - verankern. Eine aufgeklärte Gemeinschaft ist nur so aufgeklärt, wie ihre Mitglieder es sind. Der beste Schutz gegen Vorurteile, Fake News und Verschwörungstheorien bietet das aufgeklärte Denken.    

Bekanntlich unterscheidet Aristoteles in der Nikomachischen Ethik zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Glückseligkeit: Zum einen geht er davon aus, dass das glückselige Leben darin besteht, Philosophie zu betreiben, und zum anderen glaubt er, dass man ebenfalls – jedoch in einem sekundären Sinn – glückselig werden kann, indem man sich an den ethisch-politischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Besonnenheit und praktische Klugheit etc. orientiert. Wenn man sich also eine Gemeinschaft vorstellt, dessen Mitglieder zumindest im Großen und Ganzen versuchen, sich an jenen sozialen Tugenden (bzw. ihrer modernen Varianten) zu orientieren, dann ist bereits viel mit Blick auf die soziale Eintracht im Staat gewonnen. Auch wenn es praktisch gesehen sehr unwahrscheinlich ist, dass alle Menschen im Staat wirklich glückselig werden und sich moralisch verhalten (die Anforderungen dafür sind einfachhin zu hoch), so könnte man jedoch dafür argumentieren, dass allein der Versuch, jenes anzustreben, bereits erhebliche positive soziale Auswirkungen hat.

Eine typisch moralische Gemeinschaft lässt sich nicht so leicht mit Blick auf Fake News und Verschwörungstheorien korrumpieren. Gewiss, die Aristotelische Polis ist kein großer Flächenstaat, sondern – nach heutigen Maßstäben – eher eine überschaubare Kleinstadt, in der sich die Menschen, so Aristoteles, kennen. Dies macht es für uns in der Moderne im Kontext von sozialer Anonymität von Großstädten auch schwerer, ein echtes Interesse am Gelingen des guten Lebens mit Blick auf unsere Mitbürger aufzubringen. Es gibt einfach zu viele Menschen. Dieses soziale Mindestmaß ist jedoch insgesamt moralisch bedeutsam, wenn es darum geht, auf welche Weise wir uns gegenüber unseren Mitmenschen im Kontext von Anonymität verhalten. Diesbezüglich bleibt die Goldene Regel moralisch relevant und eine Gesellschaft, die sich gegen Falschinformationen und extremistischen Tendenzen wappnen will, sollte ihre Mitglieder dazu einladen, sich entsprechend zu verhalten: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.“.          

Die obigen Überlegungen stellen einen Ausgangspunkt für eine pluralistische Lösungsstrategie dar. Mill, Kant und Aristoteles geben uns erste wichtige Impulse, die wir mit Blick auf die Bewältigung der Coronakrise im Zusammenhang mit Fake News und Verschwörungstheorien in Anschlag bringen können. Sie bilden den Ausgangspunkt und dienen als Bezugsrahmen für einen Humanismus der Lebenswelt. Was kann man darunter genau verstehen? Seit der Renaissance am Ende der frühen Neuzeit hat sich die Philosophie im Rahmen des Humanismus im 18. Jahrhundert wieder verstärkt dem Topos des guten Lebens und der Erziehung des Menschen gewidmet. Wie kann man die persönliche Entfaltung des Menschen am besten realisieren? Welches Bildungsideal und welche Erziehungsmaßstäbe sind die geeigneten und welche sozial-politischen Grundvoraussetzungen sind notwendig, um jene umzusetzen?

Der Humanismus der Lebenswelt in der Gegenwart, so meine These, orientiert sich an der Idee der Menschenrechte und der Menschenwürde. Der Respekt vor dem Anderen ist hier ein zentrales Anliegen, das bereits vom französisch-litauischen Philosophen Emmanuel Levinas mit seinem Konzept das Antlitz des Anderen deutlich erkannt wurde (Levinas 1996, 2006). Die richtige Erziehung des Menschen bleibt also auch in der Gegenwart der zentrale Ansatzpunkt, um zum einen das gute Leben des einzelnen zu fördern und damit die Gesellschaft insgesamt positiv zu gestalten, und zum anderen gegen einen menschenfeindlichen Extremismus, der durch Fake News und Verschwörungstheorien vorbereitet wird, vorzugehen. Daraus folgt, dass die zwischenmenschliche Entfremdung in der Gesellschaft und die demokratiezersetzende Wirkung von Fake News und Verschwörungstheorien mittels des Humanismus der Lebenswelt überwunden werden kann.

  1. 5.      Schlussbetrachtung

Die Coronakrise hat einmal mehr deutlich gemacht, dass die Folgen von Fake News und Verschwörungstheorien einen erheblichen demokratiezersetzenden Charakter haben. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass eine angemessene Erziehung und Bildung des Menschen vermittels kritischer Philosophie helfen kann, Schlimmeres zu vermeiden. Das bildungspolitische Programm der Aufklärung und seine moderne Adaptierung im Humanismus der Lebenswelt bietet einen Ausweg aus der Krise. Orientierungslose Menschen werden allzu leicht von Heilsversprechungen verführt und Falschnachrichten korrumpiert. Der einzige Ausweg besteht darin, sie gegen solche Angriffe zu immunisieren – und dies war und bleibt die vornehmliche Aufgabe der Philosophie.        

 

Bibliographie

Aristoteles, Nikomachische Ethik (Hrsg. und übers. Ursula Wolf), Hamburg 2006

Capurro, Rafael, Digital Ethics, Online 2009 (http://www.capurro.de/korea.html)

Fischer, Norbert, Reifenberg, Peter und Sirovátka, Jakub (Hrsg.), Das Antlitz Des Anderen. Zum Denken von Emmanuel Levinas, Freiburg/München 2019

Kant, Immanuel, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Band 4, Zwölftes Stück (Dezember), 1784: 481–494.

Levinas, Emmanuel, Totality and Infinity: An Essay on Exteriority (übers. Alphonso Lingis), Pittsburgh 1969

Levinas, Emmanuel, Humanism of the Other (übers. Nidra Poller), Champaign (Illinois) 2006 (Sammlung von früheren Aufsätzen)

Levy, Neil, The Bad News About Fake News, in: Social Epistemology Review and Reply Collective,6(8), 2017: 20-36.

Mill, John Stuart, Über die Freiheit, Stuttgart 1998

Spinney, Laura, 1918 - Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte (übers. Sabine Hübner), München 2018

Vögele, Jörg, Knöll, Stefanie und Noack, Thorsten (Hrsg.), Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive: Epidemics and Pandemics in Historical Perspective, Wiesbaden 2016

 

John-Stewart Gordon, He is full professor of philosophy, senior researcher at the Faculty of Law, head of the Research Cluster for Applied Ethics (RCAE), and principal investigator of the EU-funded research project “Integration Study on Future Law, Ethics, and Smart Technologies” (2017-2021) at Vytautas Magnus University in Kaunas, Lithuania. Furthermore, he is associate editor of AI & Society (since 2020), member of the editorial boards of Bioethics (since 2007), the Baltic Journal of Law & Politics (since 2018), and he has been area-editor and board member of the Internet Encyclopedia of Philosophy (2007-2014). Furthermore, he is general editor of the new book series Philosophy and Human Rights at Brill. John spent extended research stays at the universities of Queen’s, Oxford, Toronto, Maynooth, and Tallinn. He has written and edited several books in the context of practical philosophy and published numerous peer-reviewed articles and special issues at international leading journals and encyclopaedias


[i] Ein Phänomen, das durch booking.com bekannt sein sollte.

[ii] Der Skandal mit Blick auf Facebook-Cambridge-Analytica zeigt deutlich, dass die Weitergabe von persönlichen Daten von Usern an andere Unternehmen erhebliche gesellschaftliche Konsequenzen haben kann. In 2018 kam heraus, dass die weitergegebenen Daten erfolgreich dazu benutzt worden sind, um in 2016 die Präsidentschaftswahlen in den USA zu Gunsten von Donald Trump zu beeinflussen.

[iii] vgl. den Beitrag Brazil coronavirus: 'Our biggest problem is fake news' von Pablo Uchoa vom 20. Mai 2020 (https://www.bbc.com/news/world-latin-america-52739734, angeschaut 07.11.2020).

[iv] vgl. den Beitrag Gerechtigkeit: Kampf gegen anti-asiatischen Rassismus: Wir alle haben es satt, dass Leute über uns reden und nicht mit uns von Phuong Tran in Bento vom 22.05.2020: https://www.bento.de/politik/corona-rassismus-und-was-projekte-wie-ich-bin-kein-virus-dagegen-tun-a-4470fad9-daeb-4786-8dcb-2ec8b3687691#refsponi (angeschaut am 07.11.2020).

[v] vgl. dazu den Nachrichtenbeitrag Zahl rassistischer Übergriffe in Deutschland erschreckend auf Spiegel online: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/coronavirus-und-rassismus-integrationsbeauftragte-sieht-demokratie-in-gefahr-a-2ede92fa-26ef-4e05-9bb9-f006f490db5a (angeschaut am 07.11.2020).







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