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Carl Friedrich Gethmann:
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aus: Heft 1/2021, S. 87-94
„Gibt es“ Werte?
Die skeptische Frage, ob Werte existieren, provoziert. Wer die Existenz von Werten in Frage stellt, scheint einen moralischen Skeptizismus zu vertreten, d.h. zu bezweifeln, dass Menschen in ihren Handlungen an moralische Orientierungen gebunden sind. Ein solcher moralischer Skeptizismus wurde in der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte immer wieder vertreten und ist in einigen Spielarten auch gegenwärtig durchaus aktuell. Wer beispielsweise die Meinung vertritt, menschliche Handlungen seien nichts anderes als Wirkungen physikalischer Ursachen (Physikalismus), oder wer der Überzeugung ist, menschliche Akteure seien ausschließlich von biotischen Agentien wie Hormonen, Genen, neuronalen Prozessen getrieben (Biologismus), oder wer der Meinung ist, alle Moral entstehe aus einer Gefühlsduselei wie beispielsweise aus Mitleid (Emotivismus), oder bestehe nur aus Angst vor Strafe (Behaviorismus) bzw. einer mehr oder weniger verkappten Selbstsucht (Egoismus), vertritt in der Tat einen moralischen Skeptizismus. Damit ist die alles andere als triviale Frage aufgeworfen, was Moral überhaupt ist bzw. worin sie besteht, ferner was die Aufgabe der mit dem Phänomen der Moral befassten Wissenschaft (Moralphilosophie, Ethik) ist und schließlich, ob man zur Erklärung des Phänomens der Moral solche Entitäten wie „Werte“ überhaupt braucht.
Sprachkritische Beobachtungen
Das Substantiv „Wert“ wie auch Ausdrücke mit der Wortpartikel „---wert---“ verwenden wir in vielen Kontexten, ohne dass dabei besondere Probleme der Bedeutungsklärung aufgeworfen würden. So können wir sagen „Mein Auto ist noch 5000€ wert“ und dieser Verwendung ähnlich ergibt sich zwanglos auch eine substantivische Verwendung „Der Wert meines Autos ist 5000 €“.
Gegenüber solchen harmlosen Wortverwendungen ist der Satz „Zu meinem Auto gehört nicht nur sein Motor, seine Räder usw., sondern auch sein Wert“ leicht als problematisch einzusehen. Er scheint sich auf etwas zu beziehen, das es im Unterschied zu dem, was er mit den Ausdrücken „Motor“, „Räder“ aussagen will, in geheimnisvoller Weise auch noch gibt, wenn es auch nicht sinnlich erfassbar ist.
Viele Sprachverwender unterstellen unausdrücklich, was manche Sprachwissenschaftler und Sprachphilosophen seit Platon explizit vertreten, dass nämlich ein Ausdruck dadurch eine Bedeutung hat, dass er sich auf einen „Gegenstand“ bezieht („Referenztheorie der Bedeutung“). Wäre das eine angemessene Bedeutungserklärung, dann läge es in der Tat nahe, dass man von der erfolgreichen Verwendung eines Ausdrucks auf die Existenz eines entsprechenden Referenzobjekts schließen könnte. Blicken wir jedoch über die Typen von Ausdrücken, die in unserer Umgangssprache vorkommen, verliert eine solche Referenztheorie der Bedeutung sehr schnell ihre Plausibilität. Am plausibelsten erscheint sie noch, wenn wir uns die Bedeutung von Eigennamen von noch lebenden Personen vornehmen. Der Ausdruck „Franz Beckenbauer“ scheint dadurch seine Bedeutung zu haben, dass wir ja jederzeit auf Franz Beckenbauer zeigen können und durch diese Geste zu verstehen geben, dass dieses Referenzobjekt dem Ausdruck die Bedeutung gibt. Auch hier ist allerdings schon skeptisch zu fragen, ob wir wirklich auf Franz Beckenbauer zeigen, wenn wir glauben, ihn vor uns zu haben.
Erscheint er zum Beispiel auf dem Display des Fernsehapparates, dann kann man zweifeln, ob wir auf Franz Beckenbauer oder nicht eher auf etwas anderes zeigen, allgemein gesagt, auf eine Repräsentation von ihm. Dann müsste die Referenztheorie also dahingehend verfeinert werden, dass die Bedeutung eines Ausdrucks durch den Repräsentanten des Referenzobjektes gebildet wird. Aber auch durch diese Variante ergeben sich sofort einige Probleme. Was ist, wenn Franz Beckenbauer durch einen genialen Comedian perfekt simuliert wird? Würde dann der Ausdruck „Franz Beckenbauer“ seine Bedeutung verlieren?
Noch schwieriger werden die Verhältnisse, wenn wir uns klarzumachen versuchen, wodurch wir den Ausdruck „Sokrates“ verstehen. Jedenfalls werden wir nicht auf ihn zu zeigen versuchen, sondern eher die Geschichte erzählen, in deren Rahmen er vorkommt. Im Falle von „Schneewittchen“ wäre es dann eine fiktive Geschichte, nämlich das bekannte Märchen. Noch einmal anders sind die semantischen Verhältnisse, wenn man sich nicht auf individuelle Gegenstände wie Personen, sondern auf kollektive Zustände bezieht. Ein Ausdruck wie „klassenlose Gesellschaft“ bekommt seine Bedeutung nicht durch eine Erzählung, sondern durch eine umfangreiche Beschreibung sozialer Zustände. Ausdrücke wie „und“, „Hilfe“, „Aua“, „poh ey“ können dagegen nur durch Beispiele und Gegenbeispiele in ihrer Bedeutung geklärt werden. Damit führt die Inspektion verschiedener Typen von Wörtern fast zwangsläufig auf die von Wittgenstein vorgeschlagene „Gebrauchstheorie der Bedeutung“. Nach ihr ergibt sich die Bedeutung eines Ausdrucks aus seinem sprachlichen Gebrauch. Für den Kandidaten „Wert“ macht es einen großen Unterschied, ob man seine Bedeutung gemäß der Referenztheorie oder gemäß der Gebrauchstheorie zu explizieren versucht. Wer der Referenztheorie anhängt, muss einen Gegenstand(sbereich) angeben, auf den der Ausdruck „Wert“ referiert. Ein solches Objekt ist aber nicht ausfindig zu machen, und in diesem Sinne „gibt es“ Werte „nicht“. Betrachtet man demgegenüber den Gebrauch des Ausdrucks „Wert“, dann muss man feststellen, dass der Ausdruck „Wert“ in normativen (moralischen und juridischen) Kontexten für ganz unterschiedliche Phänomene verwendet wird („Tugenden“ wie Gerechtigkeit; „Maximen“ wie das Hilfegebot; „individuelle Motive“ wie das Geldverdienen; kollektive „Kriterien“ wie die Glückmaximierungsregel; „Zwecke“ wie friedliche soziale Verhältnisse; „moralische Attribute“ wie Würde u. v. m), so dass daher der substantivische Gebrauch von „Wert“ äußerst vieldeutig ist und sich für jede Verwendung ein anderer (vermutlich besserer) Terminus angeben lässt.
Wert-Ethik?
Ein Blick auf die Begriffsgeschichte zeigt, dass die prominente Verwendung des Ausdrucks „Wert“ in Ethik und Jurisprudenz auf Entwicklungen sehr jungen Datums zurückgeht. Als Klassiker der Wertethik gelten Max Scheler mit Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913), und Nicolai Hartmann mit seinem Werk Ethik (1926).
Die Argumentationslage, die beide Philosophen zum Konzept der Wertethik geführt hat, ist die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geführte breite Diskussion um die Frage, wie man die (allgemeine) Geltung des (wissenschaftlichen) Urteils (Behauptung) zu verstehen hat. Hermann Lotze hat diese Frage auf die Interpretation moralischer und juridischer Äußerungen ausgedehnt. Er geht davon aus, dass deskriptive wissenschaftliche Aussagen dadurch ihre Geltung haben, dass sie sich auf Tatsachen beziehen, genauer diese repräsentieren. Unter einer Tatsache sind jedoch nicht einfach empirische Daten zu verstehen, denn diese verändern sich ständig und entsprechend müssten sich wissenschaftliche Geltungsansprüche ständig verändern. Naturgesetze, die einmal erkannt seien, verändern sich jedoch (so wurde unterstellt) nicht mehr, also müssen wir als Repräsentanten wissenschaftlicher Aussagen ideale Sachverhalte unterstellen. Diesen Platonismus überträgt Lotze nun auf Imperative (Aufforderungen), denn moralische und rechtliche Urteile haben imperativen Charakter. Sie repräsentieren entsprechend ideale Sollgrößen. Für diese sieht Lotze den Begriff des „Wertes“ vor. Werte sind demgemäß als ideale normative Tatsachen verstanden. Während die idealen deskriptiven Tatsachen, auf die sich wissenschaftliche Aussagen beziehen, durch das Erkenntnisvermögen des Menschen wahrgenommen werden, werden Werte durch Akte des Wert-Fühlens erfasst.
So wie die Wissenschaften letztlich auf allgemein geltende Gesetze aus sind, soll es Aufgabe der Ethik sein, allgemeine Wertgesetze aufzufinden. Dieser Aufgabenstellung gehen Scheler und Nicolai Hartmann nach. Sie gelangen zu einer allgemein geltenden Wert-rangordnung (-hierarchie), für die eine axiologische Grund-Norm gilt, die lautet: „Realisiere stets den höheren Wert.“ Welcher harte Geltungsanspruch damit für moralische Regeln aufgestellt ist, bemerkt man, wenn man sich die Wertordnung nach Scheler vor Augen hält:
Wertordnung subjektive Rezeption
heilige (Un-) Werte Liebe / Haß
(heilig / unheilig
selig / unselig)
geistige (Un-)Werte geistiges Fühlen
(geistig / ungeistig
rein wahr / rein unwahr
recht / unrecht
schön / häßlich)
vitale (Un-) Werte vitales Fühlen
(edel / gemein
wohl / unwohl)
sinnliche (Un-) Werte sinnliches Fühlen
(angenehm / unangenehm
schädlich / unschädlich)
Die philosophische Diskussion der Wertethik hat erhebliche Probleme dieses Ansatzes herausgearbeitet, die dazu geführt haben, dass die Wert-Ethik (im Unterschied zur Tugend-Ethik, Verpflichtungs-Ethik oder Nutzen-Ethik) im 20. Jahrhundert nicht zu den grundlegenden Paradigmen der Ethik gerechnet wird. Dass die öffentliche Moraldebatte unserer Tage in so auffälliger Weise durch den Wertjargon geprägt ist, geht daher auch nicht auf die Diskussionsgeschichte der philosophischen Ethik zurück, sondern auf die Gründungsgeschichte der Soziologie im Anschluss an Max Weber.
Die wichtigsten Schwierigkeiten, die mit der Wertethik verbunden sind, aus der Sicht der Philosophie:
Methodologische Defizite der Wertethik
● Kritik des Platonismus: Die Annahme idealer Tatsachen (seien sie deskriptiver oder normativer Natur) stellt eine Erweiterung unseres gewöhnlichen Erfahrungsraumes dar. Ihre Annahme erscheint notwendig, um die Möglichkeit allgemein geltender Behauptungen und Aufforderungen zu erklären. Demgegenüber lassen sich ohne weiteres Erklärungen für das Phänomen der Geltung finden, die auch mit schwächeren „ontologischen commitments“ auskommen. Ihr Ansatz liegt in den lebensweltlichen sozialen Interaktionsformen des Begründens und Rechtfertigens, d. h. in sozialen Handlungsmustern, die sich in Diskursen als invariant gegenüber allen teilnehmenden Parteien dartun lassen.
● Ockhams Rasiermesser: Für die Annahme von Entitäten gilt in der Philosophie grundsätzlich „Ockhams Rasiermesser“, d.h. grob gesagt, dass wir für die Erklärung wissenschaftlicher Geltung nur so viele Entitäten annehmen sollen, wie gerade notwendig. Der platonische Ansatz führt zu einer unendlichen Anreicherung der Welt. Nicht nur, dass man für jede allgemein gültige Behauptung oder Aufforderung neben der „wirklichen“ Welt ideale Tatsachen annehmen muss, gemäß dem methodischen Grundansatz muss man ja auch für die Behauptung dieser idealen Tatsachen wiederum ideale Tatsachen zweiter Stufe usw. unterstellen; es gibt somit nicht nur Werte, die allgemeine Geltung von Aufforderungen erklären, sondern auch Werte von Werten usw. („Tritos-Anthropos-Argument“).
● Regelverstöße als Irrtümer: Gegen moralische und rechtliche Regeln wird bekanntlich hin und wieder verstoßen. Ein solcher Verstoß gegen einen Geltungsanspruch müsste die Wertethik grundsätzlich als Irrtum über einen moralischen Sachverhalt, das heißt als einen Erkenntnisdefekt, interpretieren. Moralische Kollisionen, Konflikte und Dilemmata kann es aufgrund der kohärenten Wertordnung nicht geben. Dementsprechend wäre die richtige Reaktion auf einen Handlungskonflikt zwischen Akteuren der Appell, die Akteure mögen ihr Erkenntnisvermögen doch anstrengen. Die Einstufung von Kollisionen, Konflikten und Dilemmata als Irrtümern ist jedoch grob gegenintuitiv. Regelverletzungen beruhen oft nicht einfach auf Erkenntnisdefekten, sondern beispielsweise auf Interessengegensätzen, so genannter Willensschwäche oder einfach auf normativen Dissonanzen.
Ethische Defizite der Wertethik
● Rigorismus: Die axiologische Grund-Norm lässt keine Abwägung von Verbindlichkeiten zu. Da das Besuchen kranker Anverwandter immer ein edler Wert ist, das Aufsuchen eines Fußballplatzes demgegenüber immer ein (bloß) angenehmer Wert, muss man im Falle einer Handlungskollision immer die Kranken besuchen, statt auf den Fußballplatz zu gehen. Eine Abwägung mit dem Ergebnis, manchmal die Kranken zu besuchen, gelegentlich aber auf den Fußballplatz zu gehen, wäre aus wertethischer Sicht unmoralisch. Eine Ethik, die moralische Abwägungen grundsätzlich nicht zulässt, ist jedoch offenkundig mit der lebensweltlichen Moral-Erfahrung unvereinbar.
● Wertfühlen: Das subjektive Organ für die Aufnahme von Werten ist gemäß der Wertethik das Wertfühlen. Gefühle sind jedoch in der Regel nicht auf Dauer zu stellen und noch weniger für andere verbindlich zu machen. Durch die Unterstellung eines Rezeptionsorgans des Wertfühlens wird somit gerade nicht dem Anspruch auf allgemeine Geltung Rechnung getragen. Dementsprechend wird in der Bildungssprache wie auch in der politischen Rhetorik mit dem Ausdruck „Wert“ meistens eine völlige Subjektivierung moralischer und rechtlicher Geltungsansprüche verbunden. Demzufolge sprechen die Soziologen vom Wertwandel und suchen nach Gesetzen des Wertewandels. Somit schlägt die Wert-Ethik vom Projekt der Erklärung allgemein geltender normativer Geltungsansprüche in einen Subjektivismus solcher Ansprüche um. Vor allem durch die Soziologie ist die Wert-Rede im Sinne des moralischen Subjektivismus in die Gemeinsprache abgesunken.
● Gesinnungs- vs. Verantwortungsethik: Jemand, für den sich die verbindlichen Handlungsorientierungen aus seinem individuellen Wertfühlen ergeben, handelt gemäß diesen und kümmert sich beispielsweise nicht um die Folgen seiner Handlungen. Damit legt sich auf dem Hintergrund der Wertethik die von Max Weber populär gemachte Unterscheidung von Gesinnungs- versus Verantwortungsethik nahe. Auf dem Hintergrund der Wertethik entsteht der Eindruck, die Akteure zerfielen in zwei Gruppen, nämlich diejenigen, die sich an die Werte halten, und diejenigen, die Handlungsfolgen optimieren. Tatsächlich dürfte nur eine ethische Konzeption plausibel sein, durch die Handlungsgründe und Handlungsfolgen in das moralische Räsonnement einfließen.
● Soziale Spaltung: Die Gesellschaft zerfällt bivalent in diejenigen, die die Werte richtig fühlen, und diejenigen, die vom Irrtum fehlgeleitet sind. Soziale Phänomene wie Abwägen, Verhandeln, Ausgleichen, Dulden sind faule Zugeständnisse an die Irrenden. Die Wertethik hat somit deutliche Affinitäten zu einem autoritären Gesellschaftsbild.
Fazit
Mehrdeutigkeit und platonistische Wortgebrauchstradition lassen es als empfehlenswert erscheinen, den Ausdruck „Wert“ im Kontext der Ethik nicht zu verwenden (oder ihn zu definieren und dadurch seine Eliminierbarkeit anzugeben). Die Schwierigkeiten, die der wert-ethische Ansatz mit sich bringt, laufen im Prinzip auf die Kritik hinaus, die bereits Aristoteles gegenüber Platon als Verfehlung des Praktischen vorgebracht hat, dass nämlich die Ethik es nicht mit der Erkenntnis (des Guten), sondern mit den Kriterien des richtigen Handelns im sozialen Kontext zu tun hat. Das Ethos einer Gruppe ist demnach das Ensemble der Üblichkeiten des Handelns, deren Einhaltung die Mitglieder wechselseitig von sich erwarten.
Worum es in der Ethik geht
Im Interesse der Verständigung über Ethos-Systeme (Moralen) hat sich die methodische Konstruktion bewährt, Handlungen als (meistens implizite) Regelbefolgungen aufzufassen. Regeln sind bedingte generelle Aufforderungen auffassen, die der direkten Handlungsanleitung dienen. Beispielsweise könnte ein Satz einer Familienmoral lauten: „Bei uns soll es eine gemeinsame Mahlzeit pro Tag geben!“.
Im Gegensatz zu den Sätzen der Moral dienen die Prinzipien der Ethik (ars ethica) nicht der Handlungsanleitung, sondern der Handlungsbeurteilung. Ein bekannter ethischer Satz ist die Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andren zu!“ Diese Aufforderung sagt nicht, was zu tun ist, sondern wie (vergangene oder zukünftige) Handlungen zu beurteilen sind: Man soll nur solche Handlungen mit Folgen für andere ausführen, die man sich auch von anderen gefallen lassen würde. In der philosophischen Disziplin Ethik geht es somit grundsätzlich darum, verallgemeinerbare Handlungsorientierungen zu finden. Zwar könnte man es jedem überlassen, nach seinen eigenen Maximen zu handeln, doch dies würde in vielen Fällen zu Konflikten mit anderen Akteuren führen. Die Erfahrung des Handlungskonflikts ist neben anderen moralischen Dissonanzen daher der lebensweltliche Ansatzpunkt für die Notwendigkeit ethischer Reflexion.
Eine entscheidende Voraussetzung zur Durchführung eines ethischen Prüfverfahrens ist die Verständigung über menschliches Handeln in einem sehr elementaren Sinn. Handlungen lassen sich beispielsweise als Wirkungen von Ursachen deuten (Kausalismus). Dieses Handlungsverständnis wird relevant, wenn man nach den Ursachen von Handlungsstörungen sucht, z. B. wenn ein Arzt Schizophrenie als Ursache für paradoxes Handeln diagnostiziert. Andererseits lassen sich Handlungen als Ursachen von Wirkungen deuten (Finalismus). Diese Deutung ist dort relevant, wo wir nach der Zurechenbarkeit von Folgen fragen, z. B. im Kontext richterlicher Handlungsbeurteilung. Für die Ethik ist grundsätzlich nur eine finalistische Handlungsdeutung adäquat. Aufforderungen werden nämlich sinnvoll nur dann an Adressaten gerichtet, wenn es diesen grundsätzlich möglich ist, Aufforderungen zu folgen oder nicht zu folgen.
Wir verständigen uns über Deutungen, indem wir die zu deutende Wirklichkeit (das Aufeinanderfolgen von Ereignissen) gliedern, d.h. mit Wörtern unterscheiden. Ausgehend von diesem Grundgedanken kann man eine genauere Handlungsdeutung vornehmen, wenn man über eine entsprechende pragmatische Terminologie verfügt. In dieser spielen fünf Begriffe eine besondere Rolle: Mit Handlungen versuchen Menschen Zustände zu verwirklichen, die als (vermeintliche) Folgen (von Folgen) des Handelns eintreten. Derartige Zustände nennt man Zwecke. Die Realisierung von Zwecken wird angestrebt, weil in ihnen (vermeintlich) bestimmte Attribute verwirklicht sind, an deren Zustandekommen dem Akteur bei der Handlungsplanung liegt; diese Attribute sollen Ziele heißen. Mittel sind diejenigen Handlungen, die der Akteur (vermeintlich) ausführen muss, um bestimmte Handlungsfolgen zu erreichen. Güter sind Gegenstände, die wiederum vom Akteur (vermeintlich) gebraucht werden, um über geeignete Mittel zu verfügen.
Menschen können erfahrungsgemäß verschiedene Zwecke anstreben. In manchen Fällen versuchen Akteure Zwecke zu verwirklichen, die untereinander unvereinbar sind, d.h. sich nicht zugleich verwirklichen lassen; dies ist die Situation des Konflikts. Konflikte können auf vielerlei Weise bewältigt (d.h. vermieden, beseitigt oder ausgeglichen) werden. Grundsätzlich lassen sich dabei non-diskursive von diskursiven Strategien unterscheiden. Non-diskursive Strategien reichen vom einfachen Überreden, von seinen Zwecken abzulassen, bis zur Liquidation des opponierenden Akteurs; grundsätzlich stellen sie also mehr oder weniger subtile Einsätze von Gewalt dar. Diskursive Strategien zielen auf die gewaltfreie Überzeugung der Akteure, von ihren Zwecken abzulassen oder sie in konfliktvermeidende Zielausprägungen zu überführen. Die Unterscheidung von Zwecken und Zielen erlaubt, in eine Argumentation darüber einzutreten, ob sich die gewünschten Ziele nicht durch andere oder veränderte Zwecksetzungen erreichen lassen. Haben die Akteure ein Interesse an diskursiver Konfliktbewältigung (wozu sie freilich nicht wiederum diskursiv „gezwungen“ werden können), dann wird es wichtig, Regeln derartiger argumentativer Rede um Zwecke und Ziele zu rekonstruieren.
Die Rekonstruktion von Handlungen als Befolgungen von Aufforderungen dient auch dem Zweck, Handlungen diskurszugänglich zu machen, denn Aufforderungen können als Konklusionen von Argumentationen rekonstruiert werden. Die Aufgabe der Ethik ist es, die Regeln diskursiver Konfliktbewältigung zu rekonstruieren. Sie gibt die Geschäftsordnung des moralischen Diskurses vor.
Das Gelingen von Rechtfertigungsdiskursen
In Diskursen um Ziele und Zwecke (Rechtfertigungsdiskursen) streben die Diskursparteien diskursive Verständigung über Zwecke an. Gelingt eine solche Verständigung, dann ist sie für die Parteien gültig, d.h. die Akteure beziehen aus dem Diskursergebnis ihre Berechtigung, aber auch ihre Verpflichtung, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Berechtigungen und Verpflichtungen sind also an die grundsätzliche Möglichkeit diskursiver Konfliktbewältigung gebunden.
Das Gelingen von Rechtfertigungsdiskursen hängt von einer Reihe von Voraussetzungen ab. Besonders wichtig ist die Vor-Entscheidung, welchen Akteuren überhaupt das Recht zur Diskursteilnahme zugestanden wird. Grundsätzlich sind hierzu drei Antworttypen denkbar. Man könnte der Überzeugung sein, Berechtigung zur Diskursteilnahme sowie die Übernahme entsprechender Verpflichtungen nur sich selbst zuzugestehen (Egoismus). Diese Position führt höchstens dann zu einer Konfliktbewältigung, wenn der Akteur einen Konflikt mit sich selbst austrägt. Obwohl der ethische Egoismus die Position vieler Menschen darzustellen scheint, scheidet er aus der ethischen Reflexion als ernstzunehmende Position aus. Wichtiger ist dagegen die Auffassung, dass an Rechtfertigungsdiskursen nur die Angehörigen einer bestimmten Gruppe teilnehmen können (Partikularismus). Alle bekannten faktischen Moralen sind partikularistisch orientiert, weil sie die Diskursteilnahme auf Menschen beschränken, die nach bestimmten Gesichtspunkten charakterisiert sind. Partikularistische Moralen können die gruppeninterne Konfliktbewältigung durchaus zufriedenstellend regeln, sie finden jedoch immer dann ihre Grenzen, wenn es zu Konflikten zwischen solchen Gruppen kommt. Legt man daher vorsorglich Wert darauf, Konfliktlösungsmöglichkeiten im Vorhinein maximal auszuschöpfen, muss man jedermann als Diskursteilnehmer zulassen (Universalismus).
Werden Moralen einer ethischen Kritik unterzogen, so ist daher zu prüfen, ob die Maximen, die diese Moral ausmachen, verallgemeinerbar sind. Beurteilt die Ethik Moralen als nicht-universalisierbar, ist zu klären, wie die inhärenten Maximen verändert werden müssen, damit sie universalisierbar und damit konfliktfrei werden. Am moralischen Diskurs soll jeder teilnehmen können, der durch das Äußern einer Aufforderung einen Anspruch geltend machen kann - und damit potentiell Konflikte erzeugt. Die Universalität der ethischen Imperative umfasst alle, die sich auf das Auffordern verstehen.
Gelingt es, verallgemeinerbare Maximen auszumachen, gewinnen diese den Charakter von allgemeinverbindlichen „Normen“. Die Beurteilung von Normen nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit ist die Aufgabe der Ethik, und nicht das Aufsuchen von Werten.
UNSER AUTOR:
Carl Friedrich Gethmann war bis 2012 Professor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2012 ist er Seniorprofessor für Wissenschaftsethik/Medizinethik an der Universität Siegen. Er ist seit 2013 auch Mitglied des Deutschen Ethikrates.
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