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ESSAY

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Andreas Speer:
Ein anderer Blick auf das Mittelalter

aus: Heft 2/2021, S. 8-18
 
Die Mittelalterfallen
 
Warum sollen wir uns mit der Philosophie des Mittelalters beschäftigen? Hegels Polemik ist wohlbekannt, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gegenüber der scholastischen Philosophie den Vorwurf erhebt, "leerer Verstand" zu sein, "der sich in grundlosen Verbindungen von Kategorien, Verstandesbestimmungen herumtreibt", so dass die höchste Idee und die höchste Bildung in den Gedanken "strohener Verstandesmetaphysik" zur Barbarei geworden sei. Und Bertrand Russels Gleichsetzung der Philosophie des Mittelalters mit katholischer Apologetik in seiner weit verbreiteten History of Western Philosophy hat letztlich dazu geführt, dass im angelsächsischen Philosophie-Curricula die mittelalterliche Philosophie weitgehend abwesend ist – einmal abgesehen von den Curricula der Catholic Universities, die den apologetischen Fehdehandschuh oftmals nur zu gerne aufgreifen, auf diese Weise die von Russel intendierte Exklusion der mittelalterlichen Philosophie von den neuzeitlichen Philosophiediskursen aber letztlich in Kauf nehmen. Ich nenne dies die Mittelalterfalle. Und anders als im Fall etwa von Architektur, Malerei oder Dichtung gibt es für die Philosophie auch keine kulturellen Kompensationsmöglichkeiten in Gestalt etwa des Kölner Doms, des Walraff-Richartz-Museums oder von Ritterromantik.
 
Das andere Motiv erwuchs und erwächst aus der Herausforderung, die mit der Darstellung eines keinesfalls monolithischen, vielmehr komplexen, vielsprachigen, multikulturellen und multireligiösen Jahrtausends wie der des Mittelalters einhergeht, und aus der Unmöglichkeit einer synchronen Darstellung dieser vielfältigen Perspektiven. Leider können wir nicht wie die Sänger in einer Oper in einem Ensemble im selben Moment ganz unter-schiedliche Dinge artikulieren und das Ganze dennoch zugleich harmonisch klingen lassen, selbst dann, wenn die beteiligten Personen völlig aneinander vorbeireden. Wir Historiker des Mittelalters hingegen müssen uns in der Regel für eine Erzählperspektive entscheiden und einen Standpunkt einnehmen. Dieser ist im Fall des Mittelalternarrativs klar: Als ein Narrativ westlich-abendländischer Kulturgeschichte erzählen wir aus eben dieser Perspektive. Das wird im Fall der mittelalterlichen Philosophie (aber nicht nur dort) überdeutlich. Ja, die „Philosophie des Mittelalters“ trägt ihr Definiens gleichsam im Namen – ohne dass damit aber bereits klar wäre, was „Mittelalterliche Philosophie“ ist.
 
Die Geschichte der Erfindung des finsteren Mittelalters
 
Kein Zeitgenosse in jenem Millennium, das wir gemeinhin als „Mittelalter“ bezeichnen, hätte jemals gedacht, im Mittelalter zu leben. Das Mittelalter ist eine Erfindung. Darin unterscheidet es sich nicht von anderen Epocheneinteilungen. Doch ist die Erfindung des Mittelalters durch Petrarca und seine Humanistenfreunde von Anfang an negativ konnotiert. Dieser gestaltet seine dem eigenen Bekunden nach auf einer Bootsreise auf dem Po konzipierte Invektive ‚De sui ipsius et multorum ignorantia‘ als Auseinandersetzung mit den Anhängern des Aristoteles (und insbesondere der aristotelischen Naturphilosophie), die diesen (Aristoteles), obgleich sie ihn nicht verstünden, anbeteten, während sie Christus verlachten und die Anhänger des Glaubens (fidei sectatores) angriffen. „Jede Ansicht“ – so Petrarca –, „die von der ihren abweicht, gilt bei ihnen als Unwissenheit, während es doch die höchste Weisheit ist, mit denen, die irren, nicht einer Meinung zu sein“ Petrarcas Humanismus ist demnach keine Rückkehr zu einer paganen Antike, sondern zu einer „wahren Philosophie“ im Geiste Augustins, den Petrarca zu seinem Kronzeugen erhebt und dessen Confessiones ihm auf dem Gipfel des Mont Ventoux zum Seelenführer werden.
 
Das humanistische Schema vom mittelalterlichen Kulturleben, das nach dem sechsten Buch der Elegantiae des Humanisten Laurentius Valla eine einzige Geschichte des Niedergangs ist, wird um die Mitte des 15. Jahrhunderts ergänzt durch den Topos einer Kultur-zäsur, die sich vor allem aus dem Bewusstsein speist, den Abstand zur Antike allmählich verringert und die einstige Höhe wiedererlangt zu haben. Zugleich aber wurde die auf die Antike folgende Ära in Dunkelheit getaucht. Damit ist jenes Schlagwort vom „finsteren Mittelalter“ geschaffen, das sich – ungeachtet aller Widerlegungen durch die historische Forschung – bis heute unser Geschichtsbild nachhaltig prägt.
 
Der Hallenser Historiograph Christoph Cellarius gilt dann als derjenige, der mit seiner dreiteiligen Historia antiqua von 1685, ‚Historia medii aevi‘ von 1688 und Historia nova von 1696 die bis heute maßgebliche Einteilung der Universalgeschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit terminologisch festgeschrieben hat, der bis in die Gegenwart auch die Philosophiegeschichtsschreibung folgt.
 
 
 
Besonders problematisch und einschneidend sind die Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung. In der Einleitung zu seiner 2013 erschienenen Einführung Philosophie im Mittelalter charakterisiert Loris Sturlese die Philosophiegeschichte des Mittelalters in den letzten hundert Jahren als ein Feld leidenschaftlicher ideologischer Auseinandersetzungen. Einerseits sei das Mittelalter als Ort einer immerwährenden Philosophie und als Bollwerk gegen den neuzeitlichen Subjektivismus gefeiert worden, weitaus vorherrschender aber sei die Vorstellung von einem dunklen, gänzlich unphilosophischen Jahrtausend, das in sklavischer Abhängigkeit von religiöser Dogmatik verharrte. Im Hintergrunde dieser Stellungnahmen, so Sturlese, stand die Überzeugung, „es sei nicht nur legitim, sondern sogar philosophiehistorisch förderlich, die Philosophie des Mittelalters als das organische und systematische Ergebnis des Ringens einer ganzen Epoche mit wenigen ‚Grundproblemen‘ zu verstehen“.
 
Das westliche historiographische Narrativ
 
Die Folge dieses historiographischen Monismus ist eine doppelte Reduktion: zum einen der mittelalterlichen Philosophie auf die sog. lateinische Scholastik und die der sog. Scholastik auf die sog. scholastische Synthese, die für gewöhnlich in das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts angesetzt und in Paris lokalisiert wird. Die dortigen philosophischen und theologischen Debatten – womöglich mit einem kurzen Ausblick nach Oxford – werden gleichsam zum normativen Angelpunkt für ein Narrativ, das die mittelalterliche Philosophie auf den lateinischen Kulturkreis beschränkt und von dort aus zugleich eine bis heute gültige eurozentrische Lesart dessen begründet, was Philosophie und ihre Geschichte ist.
 
Auf diese Weise wird die mittelalterliche Philosophie sowohl von ihren antiken Wurzeln, mit denen sie sich stets verbunden fühlte, wie auch von ihren vielfältigen kulturellen und sprachlichen Traditionen abgetrennt. Denn das Mittelalternarrativ hat seine beschränkte Geltung im Grunde allein für den lateinischen Kulturkreis und begründet von dort aus eine bis heute gültige eurozentrische Lesart dessen, was Philosophie und ihre Geschichte ist, während für die übrigen großen Kultur- und Sprachkreise die Rede vom Mittelalter als historische Kategorie ohne jede Bedeutung ist – es sei denn als der Versuch, den byzantinischen, hebräischen und arabischen Kultur­kreis in dasselbe westliche historiographische Narrativ einzuordnen.
 
Auf dieses Problem hat unlängst mit Nachdruck Thomas Bauer in seinem äußerst anregenden Buch (man kann es auch eine Streitschrift nennen) Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient hingewiesen. Ich stimme mit Thomas Bauers Analyse überein, wonach die Applikation des Mittelalternarrativs auf den arabisch-islamischen Kulturkreis nicht nur nicht zutreffend ist, sondern auch die historischen und kulturellen Zusammenhänge gänzlich verstellt.
 
Gleiches gilt auch für die Versuche, den byzantinischen oder jüdischen Kulturkreis in dasselbe westliche historiographische Narrativ einzuordnen. Denn aus der Perspektive von Byzanz gibt es ebenso wenig ein Mittelalter in den Epochengrenzen, die im Gefolge Petrarcas unter Berücksichtigung der üblichen historiographischen Grenzstreitigkeiten für das lateinische Abendland gezogen werden, wie man von einem jüdischen oder arabischen bzw. islamischen Mittelalter sprechen kann – wenn nicht aus der Sicht eben jener abendländischen Geschichte und in strikter Hinordnung auf deren Teleologie.
 
Die Konsequenzen einer solchen synchronisierenden Lektüre liegen auf der Hand. Sie spiegeln sich in der Abhängigkeit unserer Wahrnehmung anderer Kulturen und Geschichtsverläufe von der abendländischen Meistererzählung wider. So ist in Russels Philosophiegeschichte „The Mohammedan Culture and Philosophy“ nichts weiter als eine Fußnote zu dieser dunklen Geschichte, die in Reformation und Aufklärung überwunden wird. Auch wenn es inzwischen ein wachsendes Interesse an den philosophischen Entwicklungen in den diversen Sprach- und Kulturräumen des „Mittelalters“ gibt, so scheinen sich insbesondere die diversen philosophischen Compendia gleichwohl an einem Philosophiemodell zu orientieren, das seinen historischen Gang im westlichen Abendland genommen und von dort aus auch seine universale Geltung behauptet hat. Die damit verbundene diachrone Fortschrittserzählung versperrt den Blick für die bestehenden Gleichzeitigkeiten etwa von Neuplatonismus und Aristotelismus oder von Renaissancehumanismus und Universitätsscholastik. Diese Periodisierung besitzt damit eine normative Kraft zum einen für den westlichen Philosophiediskurs selbst, zum anderen für die nicht-westlichen Philosophiediskurse.
 
Ein letztes Paradox: Auch der Philosophiebegriff und das Philosophieverständnis orientieren sich häufig an unseren zeitgenössischen (in der Regel westlichen) Konzeptionen und Interessen. Dabei wird die Vielfalt, der Wandel und die Differenzierung der Philosophiebegriffe und der Konzeptionen von Philosophie in aller Regel unterschätzt. Eine gelungene hermeneutische Einstellung ist aber nicht nur am eigenen Verständnis interessiert, sondern erfordert auch ein Verständnis des anderen und Andersartigen in seiner Andersheit. Darin liegt auch die Problematik von an sich lobenswerten Versuchen, die Ursprünge des Moderne im Denken des Mittelalters festzumachen (exemplarisch Ludger Honnefelder und Theo Kobusch) oder aber nach solchen Theoriestücken zu suchen, die mit Blick auf die zeitgenössische Philosophie als relevant und anknüpfungsfähig gelten können (so wie Eleonore Stump und viele andere Versuche im direkten Anschluss an Thomas von Aquin). Nicht so sehr die Antizipation heutiger Ansichten, sondern gerade auch ihre Andersartigkeit eröffnen allererst den Raum, in dem man den eigenen Fragehorizont aus kritischer Distanz betrachten und nicht einfach als gegebenen Theorieraum annehmen kann. Dominik Perler sieht denn auch gerade darin den epistemischen Mehrwert historischer Analysen für die Philosophie.
 
Wie kann man diesen historiographischen Fallstricken entkommen? Chronologie und Topologie
 
Wie kann man die Philosophiegeschichte eines langen Jahrtausends, das sich in allen Sprach- und Kulturkreisen in Kontinuität mit den antiken Traditionen sieht und diese bis weit in das 18. Jahrhundert hineinträgt, anders erzählen? Zunächst einmal – so meine These – durch den konsequenten Verzicht auf den Begriff des Mittelalters und seine Nutzung als historiographische Kategorie!
 
Wir nutzen Epochenbegriffe und ihre Erzählungen als Orientierungen im großen Fluss der Geschichte. Das tun wir, wenn wir etwa von der „Philosophie des Mittelalters“ spre-chen. Doch wie können wir die immer gleichen Pfadabhängigkeiten vermeiden? Ein Schlüssel zur Vermeidung derartiger Pfadabhängigkeiten könnte in unserem Umgang mit Chronologien und Topographien liegen.
 
Ein Beispiel hierfür ist die gängige Auffassung, dass die Renaissance auf das Mittelalter folgte und dieses abgelöst habe, während doch Renaissance und Scholastik – wenn man darunter die an den Universitäten betriebene Form der Lehre und der wissenschaftlichen Diskussion versteht – in Wahrheit gleichzeitige Phänomene sind. Denn zeitgleich mit der Gründung der Akademien treten die Universitäten ihren Siegeszug in ganz Europa an. Dieselbe Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Entwicklungen findet sich in unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen.
 
Unsere Chronologie folgt – nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen – für gewöhnlich dem eingebürgerten gregorianischen Kalender, der sich einer Reform des julianischen Kalenders am Ende des 16. Jahrhunderts verdankt und 1582 durch die päpstliche Bulle ‚Inter gravissimas‘ verkündet wurde. Doch ungeachtet der Umstellung auf den gregorianischen Kalender bleiben vor allem mit Blick auf die religiösen Festtage viele andere Kalendermodelle bis heute in Kraft und prägen unseren Alltag. Mit den verschiedenen Kalendern verbinden sich Konzepte der Zeit- und Geschichtswahrnehmung. Zeitzählungen, Kalender und Epochen sind zudem Versuche, die Ereignisstruktur der Geschichte in ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Rhythmen, Konjunkturen und Dauern abzubilden. Sie sind ein wesentlicher Teil reflexiver Vergewisserung im Hinblick darauf, was ein historischer Moment mit Bezug auf die mittel- und längerfristigen Ereignisfolgen ist.
 
Was für Chronologien und Kalender gesagt wurde, gilt auch für Topographien und Karten. Karten bilden nicht einfach ab, sie entwerfen eine Welt. Das gilt auch für die Karte, die wir für unser langes Jahrtausend zugrundelegen. Diese reicht vom äußersten Norden und Westen Europas bis hinunter nach Nordafrika, hinüber nach Osten über das byzanti-nische Reich nach Bagdad, hinunter auf die arabische Halbinsel und wieder hinauf über Persien entlang der Seidenstraße bis nach Buhara. Zum bevorzugten Ort der interkulturellen Austauschbeziehungen wird das Mittelmeer.
 
Somit erhält die Topographie weit über die unmittelbare Ordnungsfunktion hinaus Modellcharakter für die Erschließung der Wirklichkeit im Modus der verstehenden Rekonstruktion und Aneignung. Es gibt räumliche, narrative und sachliche Verzweigungen, Verbindungen ebenso wie Unterbrechungen, Wendepunkte, Teleologien und Brüche, Ausschnitte und Verkürzungen, Fokussierungen und Knotenpunkte. „Eine Karte“, so schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in Mille plateaux, „hat viele Zugangsmöglichkeiten, im Gegensatz zu einer Kopie, die immer nur ‚auf das Gleiche’ hinausläuft. Bei einer Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche ‚Kompetenz’ verweist“ (1). „Karte machen“ heißt daher nach neuen Zugängen, Zusammenhängen und Verknüpfungen zu suchen und nicht etablierte Verstehensmuster zu kopieren, und wird zum Synonym für einen ergebnisoffenen Erkenntnisprozess, der Entdeckungen zulässt und nicht nur Kopien von bereits Bekanntem erzeugt.
 
Nicht umsonst haben kartographische Modelle und Methoden in vielen Wissenschaften Einzug gehalten – etwa in Form von Geoinformationssystemen, die bei der Datenerfassung und einer Datenmodellierung eingesetzt werden, die unterschiedlichste Beziehungen und Perspektiven ermöglichen. Denn – so nochmals Deleuze und Guattari – eine Karte „ist offen, sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen und umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe oder gesellschaftlichen Formation angelegt werden“ (2).
 
Wissen über Grenzen
 
Noch 1991 konnte Alain de Libera mit Bezug auf die unterschätzte Bedeutung des arabischen Beitrages zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des Mittelalters von einem „l’héritage oublié“, einem „vergessenen Er­be“ sprechen. Gleiches trifft auf Byzanz und damit auf den Osten Europas zu. Wie kein anderer der mittelmeerischen Kulturkreise steht Byzanz für die Kontinuität mit der antiken und der spätantiken griechischen Kultur und zu einem Knotenpunkt für die mannigfachen Austauschbeziehungen zwischen den Kulturkreisen. Dies gilt insbesondere auf dem Gebiet der Literatur und auf dem weitgespannten Feld der unter dem Oberbegriff der Philosophie gefassten Wissenschaften. Auch wenn in Byzanz – im Unterschied zum lateinischen, arabischen und hebräischen Kulturraum – die Notwendigkeit einer Übersetzung im eigentlichen Wortsinn entfällt (man spricht und liest weiterhin Griechisch), so stellt sich nicht zuletzt unter dem Einfluss des Christentums gleichwohl die Frage einer translatio studiorum, einer Weitergabe und Übersetzung des Wissens in einen veränderten Kontext. Diese Weitergabe spätantiker Bildung verweist zugleich auf die vielfältigen Austauschbeziehungen mit den Syrisch, Lateinisch, Hebräisch und Arabisch sprechenden Kulturkreisen. In diesem Austausch begegnet Byzanz auch den Spuren, welche die griechische Kultur auf vielfältige Weise bei ihren eifrigen Nachahmern hinterlassen hat – man denke nur an den Hellenismus in seinen vielfältigen Gestalten. Umgekehrt wird Byzanz für die frühe islamische Kultur zu einem wichtigen Referenzpunkt. Und für das lateinische Abendland stellt der kulturelle Austausch mit Byzanz noch vor der Begegnung mit der islamischen Welt die wichtigste Brücke zu den teilweise abgerissenen antiken Wissenstraditionen dar.
 
Ein gutes Beispiel ist das sogenannte Corpus Dionysiacum eines anonymen Autors aus dem 6. Jahrhundert, der unter dem Namen eines Apostelschülers des Paulus schreibt. Im 9. Jahrhundert gelangten diese dem Dionysius Areopagita zugeschriebenen Schriften als Geschenk des byzantinischen Kaisers Michael II. an den französischen Königshof Ludwigs des Frommen und von dort an den Kultort des „dreifach heiligen Dionysius“ in der fränkischen Königsabtei Saint-Denis im Norden von Paris. Von dort findet das Corpus seinen Weg in den lateinischen gelehrten Wissensdiskurs. Das Corpus Dionysiacum ist das vielleicht prominenteste und nachhaltigste, keinesfalls aber das einzige Beispiel für eine frühe Verbindung mit dem spätantiken Neuplatonismus und gilt fortan als ein Schlüsselwerk jener Tradition, die nach einer der in diesem Corpus enthalten Schriften „Mystik“ heißt.
 
Zuvor hatte bereits Karl der Große im Jahre 798 eine Delegation nach Bagdad an den Hof Harun al-Raschids gesandt. Im Vergleich mit der damaligen Aachener Pfalzanlage muss Bagdad – das gerade zu dieser Zeit von den Abbasidenherrschern zur neuen Residenzstadt ausgebaut wurde, in deren Mittelpunkt sich die Große Moschee und die Palastanlage befanden – bei den Gesandten Karls einen überwältigenden Eindruck hinterlassen haben. Berühmt wird diese Delegation durch ein ungewöhnliches Geschenk des Kalifen Harun al-Raschid an den inzwischen zum Kaiser gekrönten Karl: einen weißen indischen Elefanten mit Namen Abul Abbas. Gerne wird in diesem Zusammenhang der Vergleich zwischen Aachen und Bagdad für die kulturelle Überlegenheit des Abbasidenreiches bemüht, dem gegenüber Karl nur dem Namen nach an den Glanz des römischen Imperiums anknüpfen konnte. Gleichsam aus der Barbarei sei Europa gekommen, so hat Rémi Brague denn auch die Identität des lateinischen Abendlandes zu bestimmen versucht. Doch gerade aus diesem Minderwertigkeitsgefühl resultiere die Dynamik der zunächst auf der Kunst der Aneignung basierenden Kulturleistung Europas. (4)
 
Arabica studia
 
Ein Wissen über Grenzen jedoch braucht Vermittler: vor allem Übersetzer, aber auch Leser und Mäzene an Fürstenhöfen und Kathedralschulen, Klöstern und Universitäten. Hierbei werden vielfältige Grenzen überschritten. Zum einen zeitliche Grenzen, denn wir bewegen uns in einem Feld mehrfach verschränkter Chronologien. Das gilt für die Zeitzählung ebenso wie für die Epochengrenzen und ihre Überschreitung. Sodann räumliche Grenzen, die durch mannigfache Faktoren konstituiert werden: durch konkrete geographische Zusammenhänge, durch sich ändernde kulturelle Topographien, durch regionale Erfahrungsräume. Ferner Verstehensgrenzen, derer wir uns immer dann bewusst werden, wenn wir nach den Bedingungen für dieses Verstehen fragen. Dies betrifft nicht nur die epistemischen Bedingungen, sondern auch die kulturellen, religiösen und institutionellen Determinanten des Verstehens. Damit eng zusammen hängt die Frage der Vermittlungsgrenzensprachlicher, institutioneller, konzeptioneller und weltanschaulicher Art. Schließlich stellt sich die Frage nach dem Grenzbewusstsein: Wie steht es um das Bewusstsein von Grenzen und Grenzüberschreitungen und damit um die Wahrnehmung von kulturellen Leitbildern und Polemiken in ihren jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und theoretischen Kontexten?
 
Ein Beispiel für ein solches Grenzbewusstsein am Beginn des 12. Jahrhunderts, das von einer besonderen kulturellen und intellektuellen Mobilität geprägt ist, nimmt seinen Ausgang in England, genauer in Bath, von wo aus sich ein gewisser Adelard auf eine große Bildungsreise begibt: zunächst zu den berühmten Kathedralschulen auf dem europäischen Fest-land, um dann eine große Reise in die mittelmeerische Region anzutreten, die ihn nach Magna Graecia im äußersten Süden Italiens und vielleicht sogar bis nach Jerusalem führt. In den nach seiner Rückkehr verfassten ‚Quaestiones naturales‘ reflektiert Adelard auf subtile Weise das Spannungsverhältnis zwischen den traditionellen Lehren und den neuen Arabica studia. Die „Lehren der Sarazenen“ (sententiae Saracenorum) sollen nun allein dem Richtmaß der Vernunft unterworfen werden. Dieser programmatischen Ankündigung folgt eine ungewöhnlich rege Übersetzertätigkeit Adelards, die so zentrale Texte wie die erstmalige Übersetzung von Euklids Elementa, der Astronomischen Tafeln (Zīj) des al-Khwārizmī sowie des Centiloquium Ptolemei umfasst, die zum damaligen Kanon der Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaften gehören.
 
Vieles ist an dieser Geschichte bemerkenswert. Sie zeigt ein hohes Maß an Reflektiertheit mit Bezug auf einen Rezeptionsvorgang an der Schwelle zur sogenannten Aristotelesrezeption: einem arabisch-griechisch-lateinischem Gemeinschaftsunternehmen mit enormen Auswirkungen vor allem auf den lateinischen Westen, auf seine Motive und Motivationen sowie auf die wechselseitigen Voraussetzungen in individueller und institutioneller Hinsicht. Auffällig ist das durchweg positive Image der Arabica studia und ihre Identifizie-rung mit jener wissenschaftlichen Rationalität, in der nicht nur die westlich-technische Zivilisation ihre Wurzeln sieht, sondern auf die sich auch die Aufklärung beruft, wenn sie gegen „das Halfter der Autorität“ – so Ade­lard – und der Unmündigkeit antritt.
 
Das 12. und das 13. Jahrhundert bieten mithin viele Beispiele dafür, wie das Wissen Grenzen überschreitet: Sprachgrenzen, Verstehensgrenzen, Disziplingrenzen. Philosophie im Mittelalter ist vielsprachig, vielgestaltig, interdisziplinär, interkulturell und international. Ein Doktorat an der Pariser Sorbonne berechtigt etwa, an allen europäischen Universitäten zu lehren. Der arabische Gelehrte Ibn Rušd (Averroes), von Hause aus Jurist und Arzt, gilt über alle Sprachgrenzen hinweg als der Kommentator des Philosophen, nämlich Aristoteles.
 
Zu diesem Grenzen überschreitenden Wissen trugen nicht zuletzt Übersetzer wie Jehuda Ibn Tibbon bei. 1120 in Granada geboren, begründete er in Lunel unweit von Montpellier eine ebenso berühmte wie einflussreiche jüdische Übersetzerdynastie. In vier Generationen über das gesamte 13. Jahrhundert hinweg schuf sie wichtige Übersetzungen aus dem Arabischen und Hebräischen für die Lateinisch sprechenden jüdischen Gemeinden, die auch von den christlichen Gelehrten gelesen und rezipiert wurden. Zugleich eroberte der philosophische Wissensdiskurs die Volkssprachen. Man denke nur an Meister Eckhart, Raimundus Lullus und Dante.
 
Diese „mittelalterliche“ Welt, die rund um das Mittelmeer ihre Austauschbeziehungen pflegt, übersteht auch die beiden Ereignisse, die gerne als tiefer Einschnitt, wenn nicht gar als Epochenbruch angesehen werden: die Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 und vier Jahrzehnte später die Eroberung Granadas am 2. Januar 1492. Das byzantinische Erbe lebt fort in den Werken eines Pico della Mirandola, Marsilio Ficino und Niklaus von Kues. Zu keiner Zeit wurden die Werke arabischer Philosophen und Wissenschaftler häufiger gedruckt – vielfach zudem neu übersetzt – und intensiver gelesen. Und auch der Humanismus hat seinen Ursprung in einem antiken Bildungsideal, das – entgegen den gängigen historiographischen Narrativen – nicht erst wiederentdeckt werden musste, sondern über die Jahrhunderte als ein alternatives Bildungsideal der studia humanitatis Bestand hatte.
 
Die Philosophie und die Wissenschaften
 
Das antike Modell der Philosophie, das vor allem von Aristoteles und der peripatetischen Tradition repräsentiert wird, versteht diese als Wissenschaft (episteme). Diese Idee von Wissenschaft lässt sich als ein Wissen aus Gründen charakterisieren, die in einer allgemein akzeptierten und gültigen Form für alle an diesem Diskurs Teilhabenden gelten und einen spezifischen Wissensmodus begründen, der streng argumentativ verfährt. Hierbei setzt Wissenschaft stets die Idee der Kommunikation in Form eines Arguments voraus. Nach diesem – im Kern aristotelischen – Modell sind unsere Wissenschaften bis heute organisiert und zwar sowohl in begründungstheoretischer als auch in pragmatischer Hinsicht, etwa wenn wir auf die gegenwärtig immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung der Wissenschaften schauen.
 
Dieses Modell – das wird oft übersehen – prägt in besonderer Weise die arabische Wissenschaftskultur seit al-Kindī und al-Fārābī. Es ist aber auch im lateinischen Westen auf vielfältige Weise, nicht zuletzt durch Boe­thius, in nuce präsent und bildet somit eine wichtige Voraussetzung für die vielfältigen Weisen der Rezeption und Integration von Wissenstatbeständen aller Art, von Methoden und Techniken. Dieses Modell, das auf der Idee der Universalität der Vernunft beruht, wird schließlich im Zuge der sogenannten Aristotelesrezeption – die neben den aristotelischen Schriften auch die Kommentare und Schriften der arabischen Peripatetiker, allen voran des Averroes und Avicennas, umfasst – seit dem 13. Jahrhundert in den wissenschaftstheoretischen Debatten an den neu gegründeten Universitäten zum wissenschaftstheoretischen Leitmodell, das in der Folge eine zunehmende Dynamik entfaltet und schließlich universale Geltung erlangt.
 
Wir sind es gewohnt, diese Geschichte als Ereignis- und als Fortschrittsgeschichte zu erzählen: als Ereignisgeschichte mit Blick auf die vermeintlichen Umbrüche und Innovationen. Doch jede Fortschrittserzählung neigt zu Einseitigkeiten. Was nicht in diese Geschich­te passt, wird ausgeschlossen. Und nicht immer ist das am fortschrittlichsten, was sich am Ende durchsetzt – mitunter auch aufgrund von durchaus kontingenten historischen Umständen. Auch die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist voll von alternativen Ideen und konzeptuellen Brüchen, die oftmals nebeneinander bestehen. Zudem finden sich die Innovationen nicht immer dort, wo wir sie vermuten: nämlich in jenen Wissenschaften, die wir heute als Leitwissenschaften betrachten, während wir andere aus nachgelagerter Perspektive eher als Pseudo-Wissenschaften aus einer seriösen wissenschaftlichen Betrachtung ausschließen. Dies gilt – durchaus zu Unrecht – etwa für Astronomie und Astrologie, für Alchemie, Mineralogie und Medizin. Gerade mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte sollte man den Vergleich nicht allein in den wandelbaren und oft von vielen Zufällen abhängigen positiven wissenschaftlichen Kenntnissen, sondern auch in den Fragestellungen und vor allem in den Intentionen der Forscher suchen.
 
Philosophie und Theologie
 
Zu diesen Wissenschaften gehört selbstverständlich auch die Theologie – ja sogar in einem ausgezeichneten Sinn. Das gilt für das Christentum, das Judentum und für den Islam und den von diesen Religionen bestimmten Kulturkreisen gleichermaßen. Denn da die Theologen über die vorzüglichsten Gegenstände nachdenken, die die menschliche Vernunft zu erfassen vermag, kommt der Theologie eine besondere, nämlich die höchste Stellung unter den Wissenschaften zu. Es macht daher wenig Sinn, die Philosophie in jenem Millennium, das wir betrachten, im Gegensatz zur Theologie zu definieren und die theologischen Diskurse als unphilosophisch auszublenden.
 
In der seit Aristoteles kanonischen Einteilung der theoretischen Wissenschaften ist die Theologie als „göttliche Wissenschaft“ die höchste der drei theoretischen Wissenschaften Physik, Mathematik und Theologie. Ihr Gegenstand sind – in den Worten des Boethius – die von der materiellen Welt abtrennbaren und unwandelbaren Substanzen. Diese Bestimmung der Theologie als erster Philosophie wird in der Spätantike und auch später zu einem wichtigen intellektuellen Begegnungsort zwischen den Religionen und der Philosophie. Dennoch ist es bemerkenswert, dass sich das junge Christentum gerade die Theologie für die Begegnung mit der damals prägenden hellenistischen Kultur wählt. Damit wird angezeigt, auf welcher Ebene der Diskurs um den Geltungsanspruch der Offenbarungswahrheit geführt werden soll. Dies können wir bei den sogenannten griechischen und lateinischen Kirchenvätern sehen, etwa bei Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz und Augustinus, die exemplarisch für das Modell eines Christentums stehen, das sich affirmativ auf die hellenistische philosophische Tradition bezieht, deren Verheißungspotential auf ein gutes und glückseliges Leben aber nur die „wahre Religion“ einzulösen vermag, die zum Maßstab einer „wahren Philosophie“ wird.
 
Dieses Konzept einer natürlichen Theologie, der zufolge die Glaubenswahrheiten als Vernunftwahrheiten aussagbar sind, wird nicht unbestritten bleiben, übt jedoch auch auf den Islam und das Judentum eine große Anziehungskraft aus. Denn auch diese Religionen knüpfen ähnlich wie das Christentum beinahe nahtlos an die hellenistische Bildungstradition an. Gleichwohl steht dieses Modell einer Harmonie von Religion und Philosophie im Spannungsfeld von Offenbarung und Vernunft immer wieder in der Kritik derjenigen, die dieser Harmonie misstrauen, sei es vonseiten der Religion, sofern diese die Grenzen der vernünftigen Erfassung der Glaubenswahrheiten betont, sei es vonseiten einer paganen Wissenschaft, die einem theologischen Primat skeptisch gegenübersteht.
Eine besondere Herausforderung stellt im lateinischen Westen die um die Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzende Aristotelesrezeption dar, die insbesondere an den Universitäten zu einer neuen und umfassenden Selbstverständigung darüber führt, was Philosophie, aber auch, was Theologie ist. Für die christliche Theologie bedeutet dies, sich als Wissenschaft nach den Prinzipien der aristotelischen Wissenschaftslehre in den Kanon der universitären Wissenschaften einzufügen. Dies ist eine keineswegs selbstverständliche Entwicklung, wie bereits die Debatten der damaligen Zeit zeigen.
 
Doch insbesondere die jungen Mendikantenorden, allen voran die Dominikaner mit ihren Leitfiguren Albertus Magnus und Thomas von Aquin, aber auch die Franziskaner wie Bonaventura und Johannes Duns Scotus haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Theologie diese Herausforderung annahm und sich dem Gespräch mit den neuen Wissenschaften stellte. Zugleich liegt in den Debatten an der Universität – einschließlich der zwischenzeitlichen Verurteilungen und wechselseitigen Irrtumslisten – ein Ausgangspunkt für den Prozess der Freisetzung der Wissenschaften gegenüber einem umfassenden theologischen Deutungsanspruch. Dieser schlägt sich in einigen Streitfeldern etwa zur Psychologie, zur Kosmologie und zur Ethik, institutionell hingegen in der klaren Trennung zwischen der philosophischen Artisten-Fakultät und der theologischen Fakultät nieder. Gleichwohl besitzt aber gerade eine als Wissenschaft auftretenden Theologie eine besondere Bedeutung, denn sie vermittelt in der kritischen Reflexion auf die epistemischen Geltungsansprüche der Theologie zwischen theologischen und wissenschaftlichen Diskursen auch über Religionsgrenzen hinweg, die heute oftmals als inkommensurabel gelten.
 
Ein langes Jahrtausend, das kein Mittelalter war
 
Wie kann man die Philosophiegeschichte eines langen Jahrtausends, das sich in allen Sprach- und Kulturkreisen in Kontinuität mit den antiken Traditionen sieht und diese bis weit in das 18. Jahrhundert hineinträgt, anders erzählen?
 
Gefragt ist eine Geschichte ohne normative Periodisierung. Das Bild des langen Jahrtausends, das sich selbst niemals in Distanz zu seinen Wurzeln in der spätantiken Kultur gesehen hat und weit in die frühe Neuzeit ausgreift, ist wesentlich geprägt von den Wechselbeziehungen über Sprach-, Kultur- und Religionsgrenzen hinweg. Damit liegt der Verzicht auf eine Epochenkategorie nahe, die zudem eine nachträgliche Erfindung darstellt und vorrangig dem Ziel diente, das medium aevum in das Dunkel des Vergessens zu tauchen, aus dem nur wenige „lichte“ Monumente herausragen.
 
Es scheint mir daher erforderlich und geboten, das lange Jahrtausend nicht länger als das zu bezeichnen, was es nicht war: ein Mittelalter zwischen Antike und Moderne. Ein solches Mittelalter hat es auch im lateinischen Abendland nicht gegeben. Im Grunde treffen die sieben Punkte, die Thomas Bauer gegen ein „islamisches Mittelalter“ anführt, auf die Verwendung eines solchen Epochenbegriffs überhaupt zu: „er ist (1) ungenau, (2) führt zu Fehlschlüssen, (3) läßt sich von seinen negativen Konnotationen nicht ablösen und wird deshalb oft diffamierend verwandt, (4) exotisiert die „mittelalterliche“ Welt und (5) nimmt sie gleichzeitig auf imperialistische Weise in Beschlag (ich möchte hinzufügen aus der Sicht des neuzeitlichen westlichen Philosophieverständnisses), (6) hat keine sachliche Grundlage, weil sich die Transformationsprozesse in der Spätantike in Europa und in Vorderasien auf ganz unterschiedliche und häufig gegensätzliche Weise vollzogen“. (5)
 
Bezüglich des siebten Punktes, nämlich dass der Mittelalterbegriff den Blick auf die wirklichen Epochengrenzen verstellt, zögere ich allerdings und möchte vielmehr kritisch nachfragen: Welche sind denn die wirklichen Epochengrenzen? Zeigt nicht der Mittelalterbegriff exemplarisch, dass die Beibehaltung des Epochenbegriffs für das Mittelalter zu kaum lösbaren Problemen führt: Was sind die generischen Distinktionskriterien, was die Einschluss- und Ausschlusskriterien, was ist die differentia specifica einer Epoche, die diese zu eben dieser und von einer anderen unterschiedenen machten? Dass diese Aufgabe einfacher wird, wenn man die Epoche ausweitet, noch größer und inklusiver macht, wage ich zu bezweifeln. Vor allem kommt man nicht ohne ein ganz bestimmtes formatives Narrativ aus.
 
An die Stelle der einen, linearen Perspektive sollte daher eine Geschichte ohne große Meistererzählung und ohne ein normatives Fortschrittsnarrativ treten. Das bedeutet, mit multiplen Temporalitäten umzugehen, einen definitorischen Exklusivismus zu vermeiden, Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen und, anstatt bestehende Karten zu kopieren, selbst Karten zu machen und auf diese Weise Pfadabhängigkeiten zu vermeiden. Ein Jahrtausend ist zu komplex und vielfältig, um es aus einer Perspektive zu erzählen, es als einen glatten, homogenen Raum zu darzustellen. Damit stellt sich für die Narrative, die wir entwerfen, indem wir uns mit den Ansichten derer auseinandersetzen, „die (so Aristoteles, der erste Philosophiehistoriker) vor uns das Seiende erforscht und über die Wahrheit philosophiert haben”, (6) eine ganze Reihe von Fragen gleichzeitig: nach dem Verhältnis von einfachen Gegensätzen und komplexen Unterschieden, von faktischen Vermischungen und Übergängen von einem zum anderen, und nach den Gründen einer solchen Vermischung, die keineswegs symmetrisch sind. Hierbei ist – ich zitiere noch einmal Thomas Bauer – der irreführende Begriff ‚Mittelalter‘ „alles andere als hilfreich. Man sollte endgültig auf ihn verzichten“ (Bauer, 158) – allerdings, so möchte ich hinzufügen, ohne ihn zu substituieren.
 
UNSER AUTOR:
 
Andreas Speer ist Professor der Philosophie an der Universität zu Köln und Direktor des Thomas-Instituts. Von ihm ist zum Thema erschienen: Andreas Speer, “qui prius philosophati sunt de veritate…” Mittelalterhistoriographie im Wandel, in: A. Speer / M. Mauriège (Hg.), Irrtum – Error – Erreur (Miscellanea Mediaevalia 40), Berlin-Boston 2018, 783-809.
Zitatnachweise
 
(1) G. Deleuze / F. Guattari, Tausend Plateaus (aus dem Französischen von G. Ricke und R. Voullié), Berlin 1997, 24 (frz. Mille plateaux, Paris 1980).
 
(2) ibid. 24
 
(3) A. de Libera, Penser au Moyen Âge (collection «Chemins de pensée»), Paris 1991, 98-142.
 
(4) R. Brague, Europe, la voie romaine, Paris ²1993 (dt.: Europa, eine exzentrische Identität, Frankfurt a.M. 1993).
 
(5) Bauer, „Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient“, 2018, S. 149
 
(6) Aristoteles Met. A 3 (983 b 1-3)
 



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