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Jule Govrin:
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aus: Heft 2/2021, S. 110-114
Seit einigen Jahren ist der Begriff der Verwundbarkeit immer öfters zu hören, in philosophischen ebenso wie in politischen Diskursen. Beispielsweise plädierte Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn der Corona-Krise an das gesellschaftliche Bewusstsein von Verwundbarkeit. Während der Begriff der Vulnerabilität seit langem zum medizinischen, ökologischen und geografischen Vokabular gehört, ist seine geisteswissenschaftliche Geschichte überschaubar. Als philosophischen Begriff machte ihn Judith Butler bekannt, die ihn als ethisches Konzept ausarbeitet. Inzwischen bildet der Begriff in der Feministischen Philosophie, insbesondere der Feministischen Politischen Philosophie und der Feministischen Ethik, ein Schlüsselelement, und zwar innerhalb einer Sorge-Ethik, welche die geteilten Bedürfnisse nach Schutz und Sorge in den Vordergrund spielt.
Butlers Konzept beruht auf der anthropologischen Annahme, dass Menschen in ganz grundlegender Weise der Fürsorge und Ansprache bedürfen. Menschen kommen hilflos zur Welt, sie sind anderen ausgeliefert und brauchen deren Zuwendung, um zu leben. Diese tiefverankerte Abhängigkeit ist eine Grundbedingung des menschlichen Daseins, die zeitlebens fortwährt, ob in Phasen der Krankheit, im Alter oder in Gefährdungsmomenten. Damit steht das Denken der Verwundbarkeit im Zeichen einer relationalen Ontologie, die das Dazwischen der sozialen Beziehungen hervorhebt. Anstatt Subjekte als solipsistisch eingekapselt zu erachten, erscheinen sie in ihrer körperlichen Abhängigkeit unauflöslich miteinander verbunden. So schreibt Butler: Da „wir voneinander abhängig sind und dies zeitlebens bleiben“, wird „die Zerstörung des anderen die Zerstörung dessen, was für mich lebensnotwendig ist“ (4, S. 50). Die Beobachtung, dass Menschen einander brauchen und sich mitfühlend verhalten sollten, mag in ethischer Hinsicht augenscheinlich sein. Allerdings reicht Butlers Ethik der Verwundbarkeit weit über Empathieerfahrungen hinaus, vielmehr bildet sie einen radikalen Vorschlag, der sich philosophischen Gegenüberstellungen von Individuum und Gesellschaft sowie Identität und Alterität verwehrt. Damit verlagert sich die Aufmerksamkeit von der Innerlichkeit des Individuums auf das soziale Dazwischen.
Im Blick auf Butlers Werk deutet sich ihre Hinwendung zur Verwundbarkeit bereits in ihrer 1987 veröffentlichten Dissertationsschrift an. Vordergründig befasst sie sich mit der französischen Hegel-Rezeption, indessen entwirft sie in Grundzügen ihr Begehrensmodell, das als Vorbedingung für ihr späteres Denken der Verwundbarkeit dient. Ihr Lektürefokus liegt auf einem Unterkapitel der Phänomenologie des Geistes, und zwar auf Hegels prominenter Denkfigur von Herr und Knecht. Diese ringen um die Anerkennung des anderen, während sie sich zugleich verweigern, ihrem Gegenüber Anerkennung zu zollen. Butlers Augenmerk wendet sich von den antagonistischen, aggressiven Affekten ab, die sich im Streben nach Autonomie äußern. Stattdessen betont sie die unausweichliche Bindung der Kontrahenten: Indem beide die Anerkennung des anderen begehren, sind sie unauflöslich voneinander abhängig. Begehren bildet also keine dem Individuum innewohnende Kraft, vielmehr bewegt es sich außerhalb des Selbst, da es unweigerlich auf Andere ausgerichtet ist. Deshalb bezeichnet Butler Begehren als ek-statisch (1, S. 39). Es bildet die primäre Bande und Bezugnahme, durch die Menschen zu sozialen Wesen werden. Butlers frühe Betrachtungsweise des Begehrens als relationale Kraft eröffnet bereits Ausblicke auf affektive Relationalität und geteilte Verwundbarkeit.
In ihrer erstmals 2004 erschienenen Essaysammlung Gefährdetes Leben befasst sich Butler mit den US-amerikanischen Diskursen, die im Schatten von 9/11 die Vernichtungskriege gegen den Irak und Afghanistan als Mittel der nationalen Selbstverteidigung anpreisen. Angesichts dessen wirft Butler eine Frage auf, die zur Kernfrage ihren nachfolgenden Arbeiten wird: Welche Leben werden betrauert? Welche Leben zählen als betrauerbar? Um die ethische Kategorie der Betrauerbarkeit zu umreißen sind für sie sowohl die jüdische Ethik der Gewaltlosigkeit, insbesondere die Schriften von Emmanuel Lévinas, als auch Sigmund Freuds Überlegungen zu Trauer und Melancholie wegweisend. Im Trauern erscheint es, als wäre ein Teil des eigenen Selbst verlustig gegangen, wodurch geteilte Verwundbarkeit erfahren wird. Das trauernde Subjekt spürt, wie es von anderen konstituiert ist, wie es von ihnen bedingt ist (2, S. 39). Insofern macht Trauer die soziale Verfasstheit des Selbst erfahrbar.
Allerdings werden nicht alle Leben gleichermaßen betrauert, wodurch man denen, deren Leben nicht als betrauernswert gilt, das Menschsein aberkennt. Solche politischen Verwerfungen zeigten sich beispielsweise in der Aids-Krise der 1980er Jahren, in denen HIV homofeindlich als ‚schwule Seuche‘ stigmatisiert wurde. Öffentlich verweigerte man der Trauer der Verbliebenden und ihrer Liebe zu den Verstorbenen die Anerkennung. Derartige Anerkennungsverweigerungen, die in Aushandlungen über öffentliche Trauer auftauchen, rühren aus Verwerfungslogiken, die danach trachten, Identität von Alterität abzugrenzen. Diesbezüglich tritt die psychoanalytische Dimension von Verwundbarkeit deutlich zutage. Butler beschreibt den Prozess, eine Identität anzunehmen, als gewaltvollen Ausschluss, der sich an gesellschaftlichen Normen ausrichtet und tief in Affektstrukturen eingelassen ist. Die Erfahrung, beständig verwundbar durch Andere zu sein, wird als bedrohlich empfunden, deshalb geht Verwundbarkeit mit Verwerfungen einher. Um sich der Verwundbarkeitserfahrung zu verwehren, fungiert das Identitätsphantasma eines intakten, autonomen Selbst als Schutzillusion, die allerdings beständig bedroht ist. Um sie aufrechtzuerhalten muss das Subjekt den Anteil seiner selbst abspalten, der ihm aufgrund von Normvorstellungen als andersartig anmutet. Solch ein aggressiver Abwehrmechanismus vollzieht eine Verwerfung, eine Abjektion.
Die fortwährende Anstrengung, den abjektiven Anteil auszuschließen, ist indessen von ängstlichen und aggressiven Affektzuständen geprägt. Beispielsweise erfordert hypermaskulines Auftreten jeglichen feminin anmutenden Zug und jegliche geschlechtlichen Ambivalenz auszuschließen. Solch ein Ausschluss bildet zunächst eine Aggression gegen das eigene Selbst, da es sich spalten muss, um die Maßvorgaben von Männlichkeitsidealen zu erfüllen. Doch da auch diese Abspaltung selbst verdrängt werden muss, kehrt sich diese Aggression nach außen und wendet sich als homo- und transfeindliche Wut gegen Menschen, die nicht den gängigen Geschlechternormen entsprechen. Solche Verwerfungslogiken vollziehen sich durch verschiedentliche Machtverhältnisse.
In Raster des Krieges führt Butler aus, wie Formen der Verwerfungen anhand von nationaler Identität entstehen (3, S. 52-60). Im den US-amerikanischen Angriffskriegen, u.a. auf den Irak und auf Afghanistan, werden muslimische Menschen zu verworfenen Anderen, die als Bedrohung einer christlichen, weißen Identität angesehen werden. Man nimmt ihr Sterben nicht als betrauernswert wahr, wodurch man sie entmenschlicht. Derartigen Politiken des Angriffs und der Zerstörung setzt Butler die Ethik der Verwundbarkeit entgegen, die Menschen als affektive und körperliche Wesen betrachtet, die voneinander abhängig sind, da sie der wechselseitigen Sorge und des Schutzes bedürfen. Politisch ergibt sich daraus der Anspruch, alle Leben gleichermaßen zu schützen. Butler betrachtet Körperlichkeit keineswegs als natürlich gegeben, sondern in ihrer sozialen Eingebundenheit:
„Das bedeutet, daß jede (jeder) einzelne von uns zum Teil aufgrund der sozialen Ver-wundbarkeit unserer Körper politisch verfaßt ist – als ein Ort des Begehrens und der physischen Verwundbarkeit, als Ort einer öffentlichen Aufmerksamkeit, der durch Selbstbehauptung und Ungeschütztheit zugleich charakterisiert ist. Verlust und Verletzbarkeit ergeben sich offenbar darauf, daß wir sozial verfaßte Körper sind: an andere gebunden und gefährdet […].“ (2, S. 37)
Dadurch wohnt dem Körper eine politische Dimension inne. Ebenso wie der Körper in seiner sozialen Verfasstheit aufscheint, sind die verschiedenen Formen von Verwundbarkeit politisch bedingt. Somit versperrt sich Butlers Ethik dagegen, Verwundbarkeit gewissen Gruppen wie beispielsweise Frauen als quasi-natürliche Eigenschaft zuzuweisen und deren Rolle als Unterlegene festzuschreiben. Alle Menschen sind von Geburt an verwundbar – an dieser anthropologischen Ausgangsthese hält sie fest. Doch wer wie sehr verwundbar ist, das ist keine Frage der Natur, sondern der Politik. Verwundbarkeit ist ungleich verteilt, schließlich wird das staatliche Versprechen, Leben zu schützen, nicht gegenüber allen gleichermaßen eingehalten. Gemeinsam mit der Philosophin Athena Athanasiou stellt Butler fest:
„Da […] die vorherrschenden Normen darüber entscheiden, wer als Mensch oder Rechtssubjekt zählt, bleiben jene, denen keine Anerkennung zuteilwird, an den Rand gedrängt und ohne Sicherheit.“ (5, S. 126)
Das zeigt sich beispielsweise im Blick auf Migrationspolitiken der EU: Man verweigert Flüchtenden den durch die Menschenrechte versprochenen Schutz, überlässt sie dem Sterben im Mittelmeer oder dem Lagerzustand der humanitären Katastrophe. Dadurch werden ihre Körper systematisch verwundbar gemacht, ihren Leben wird aberkannt, schützenswert zu sein, ihrem Tod wird aberkannt, betrauernswert zu sein. Solch eine kritische Perspektive auf Ungleichheit, die sich aus Butlers Ethik der Verwundbarkeit erschließt, macht diese so anschlussfähig für aktuelle Aushandlungen.
Butlers Ethik der Verwundbarkeit ermöglicht ein radikales Umdenken des modernen Individuums, das seit der Aufklärungsphilosophie durch Selbstgenügsamkeit und Autonomiebestreben bestimmt ist. In ihrem neuesten Buch über die Macht der Gewaltlosigkeit zeigt sie anhand von Jean-Jacques Rousseaus Idee des Naturzustands auf, wie das Sorgebedürfnis von Menschen zugunsten der machtvollen Illusion eines selbstgenügsamen Individuums verdrängt wird (6, S. 54-65). Die Idee des liberalen Subjekts, die bis in die Gegenwart wirkmächtig ist, beruht auf den Normvorstellungen weißer, heterosexueller, bürgerlicher Männlichkeit, ferner ist sie durch das Recht auf privates Eigentum und individuelle Freiheit bestimmt. Bereits in diesen Grundzügen deuten sich die Ausschlussmechanismen an, die denen, die nicht diesen Normen entsprechen, die Anerkennung als vollwertige politische Subjekte verwehren. Sie werden ontologisch enteignet, zugleich sind sie verstärkt der ökonomischen Enteignung und Verwundbarmachung ausgesetzt. Die neoliberale Rationalität folgt indessen dem Prinzip der individualisierten Verantwortung, in ihren Privatisierungsbestrebungen zerstören neoliberale Wirtschaftspolitiken soziale Räume und geteilte Lebensgrundlagen (5, S. 148). Anstatt Kooperation gilt Konkurrenz, anstelle von kollektiver Verantwortlichkeit wird diese individualisiert, so dass das Soziale zum Kampf aller gegen alle umgestaltet wird. Dagegen betont Butlers Ethik der Verwundbarkeit die globale Abhängigkeit, die in Zeiten der Covid19-Krise so schmerzhaft spürbar wird. Im Gewahrwerden, dass wir einander schützen müssen, um uns selbst zu schützen, tritt zutage, wie wir körperlich verbunden sind. Dadurch eröffnen sich Aussichten auf solidarische Sorgepraktiken, welche die geteilten Bedürfnisse nach Schutz und Fürsprache ins Zentrum setzen.
Insofern entwirft Butler eine egalitäre Ethik, die sich aus der geteilten Verwundbarkeit ergibt. Indem sie den Blick auf die verschiedenen Machtformen der Verwundbarmachung richtet, etwa anhand von vergeschlechtlichenden oder rassifizierenden Zuschreibungen, bietet sie einen Ausgangspunkt für intersektionale Politiken. Die Frage, welche Leben betrauert werden, verbindet verschiedenste soziale Kämpfe, sei es die Black Lives Matter-Bewegung, die Proteste von Geflüchteten in europäischen Lagern oder die Ni Una Menos-Proteste, die auf Feminizide aufmerksam machen. Dergestalt ist Butlers Ethik der Verwundbarkeit in philosophischer wie in politischer Hinsicht impulsgebend. In der diskursiven Verschiebung weg vom Vokabular des unabhängigen Individuums hin zu den Begrifflichkeiten von Verwundbarkeit und Betrauerbarkeit entfaltet sich eine Idee von Menschen als affektive und körperliche Wesen, die einander bedürfen. Aus dieser philosophischen Betrachtungsweise ergeben sich Perspektiven der Sorge und Solidarität, die wegweisend für gegenwärtige wie zukünftige Krisen der globalen Gesellschaft sind – seien es ökonomische, pandemische, ökologische oder soziale Krisen. Schließlich bildet die „unausweichliche wechselseitige Abhängigkeit“ die „Basis für die politische Weltgesellschaft“ (2, S. 8).
Literatur
1. Butler, Judith (2012): Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth-Century France. New York: Columbia University Press.
2. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
3. Butler, Judit: (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt/Main: Campus.
4. Butler, Judith (2014): Politik des Todestriebes. Der Fall Todesstrafe. Sigmund Freud Vorlesung 2014. Wien/Berlin: Turia+Kant.
5. Athanasiou, Athena; Butler, Judith (2014): Die Macht der Enteigneten. Zürich/Berlin: diaphanes.
6. Butler, Judith (2020): Die Macht der Gewaltlosigkeit – Über das Ethische im Politischen. Berlin: Suhrkamp.
UNSERE AUTORIN:
Jule Govrin ist promovierte Philosophin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Europa-Universität Flensburg.
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