Je länger die COVID-19 Pandemie andauert, desto mehr Soziologen, Psychologen und Philosophen melden sich zu Wort und äußern ihre Besorgnis über die Auswirkungen des Lockdowns zusätzlich zu denen des Corona-Virus.
Die Philosophie bietet keine Werkzeuge zur Lösung praktischer Probleme an, sondern sucht nach einem Sinn für konkrete Situationen durch eine rationale Reflexion. Im vorliegenden Fall konzentriert sich dieser Sinn auf:
- die Zerbrechlichkeit des Menschen (das Virus kann jeden Menschen töten)
- die Ohnmacht des Menschen (unsere Situation ist im Wesentlichen identisch mit derjenigen antiker Epidemien: unsere Abwehr reduziert uns auf die Isolation)
- die begrenzte Effizienz der Technologie & Wissenschaft (die entscheidende Therapie für diese Krankheit wurde noch nicht gefunden, trotz der Bemühungen von Hunderten von Labors und Pharmaunternehmen)
- die Wiederentdeckung des Gemeinwohls und der menschlichen Solidarität (der Schutz des Einzelnen ist für den Schutz der Gesellschaft notwendig und umgekehrt)
- die unausweichliche Gegenwart des Todes (in dessen Licht die Hierarchie der Werte, an denen sich die menschliche Existenz orientiert, neu gestaltet werden kann)
Die Ergebnisse dieser Überlegungen können die Verantwortung der politischen Macht aufzeigen und zu Anfeindungen gegen die Philosophen und zu dem Versuch führen, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen, was uns an das Beispiel von Sokrates erinnert.
Medien
Die COVID-19-Pandemie erfasste die Welt in den ersten Monaten des Jahres 2020 und verursachte massive wirtschaftliche und soziale Verwerfungen. Neben der Krankheit selbst hatten die Bevölkerungen häufig mit Abriegelungen, Engpässen und Pandemiemüdigkeit sowie politischen und kulturellen Unruhen zu kämpfen. Dies hat die Pandemiezeit zu einer Zeit außergewöhnlichen Stresses gemacht. Die Pandemie hat einige Menschen dazu veranlasst, in den Medien nach einer friedlichen Fluchtmöglichkeit zu suchen, während andere in fiktiven Pandemien (z. B. Zombie-Apokalypsen) eine alternative Form der Flucht suchen. Zu den Themen gehören Ansteckung, Isolation und Kontrollverlust.
Die Pandemie wurde in die Erzählungen laufender Fernsehserien aus der Zeit vor der Pandemie aufgenommen und zu einer zentralen Erzählung in neuen Serien, mit gemischten Ergebnissen. David Segal schrieb am 16. Dezember 2020 in der New York Times über die kommende BBC-Sitcom Pandemonium und fragte: „Sind wir bereit, über Covid-19 zu lachen? Oder besser gesagt, gibt es irgendetwas Amüsantes oder auf humorvolle Weise Erkennbares über das Leben während einer Seuche, mit all seinen Demütigungen und Rückschlägen, ganz zu schweigen von seinen Ritualen (Klatschen für das Gesundheitspersonal) und Regeln (Gesichtsmasken, bitte).“
Freiheit
In der Philosophie ist der Individualismus eng mit dem Begriff der Freiheit verbunden. Sobald in Italien restriktive Maßnahmen eingeführt wurden, fühlten sich viele Menschen in ihrer Freiheit bedroht und begannen, ihre Individualität auf verschiedene Weise zu behaupten. Einige waren nicht mit der Notwendigkeit einverstanden, Gruppentreffen aufzulösen, und organisierten selbst inoffizielle Treffen. Andere wiederum gingen aus und lebten weiter wie bisher.
Wir gehen oft davon aus, dass Freiheit bedeutet, das zu tun, was wir wollen, und das steht im Gegensatz dazu, dass uns gesagt wird, was wir tun sollen. Solange ich tue, was die Regierung mir sagt, bin ich nicht frei. Ich gehe hinaus, nicht weil ich es will, sondern weil das zeigt, dass ich frei bin.
Aber es gibt noch einen anderen Weg zur Freiheit, der auf einige von Midgleys Vorstellungen über sich selbst als Teil von etwas Größerem zurückgeht. Wenn wir uns als Teil von Gaia verstehen würden, würde es sich dann nicht eher wie Selbstverletzung anfühlen, wenn wir unserer Gemeinschaft potenziellen Schaden zufügen als wie Freiheit? Hier könnten wir Freiheit im Sinne des Philosophen Immanuel Kant verstehen - als die Entscheidung für das, was man für richtig hält. Oder, mit Platon, als Antwort auf die Anziehungskraft dessen, was gut ist. Das könnte bedeuten, dass man einige Unannehmlichkeiten und Langeweile in Kauf nimmt, um jemand anderen zu schützen.
Eine umfassendere Sichtweise ist jedoch problematisch. Eine davon ist, dass dabei der Einzelne übersehen wird. Einige Umweltschützer behaupten, dass sie den Menschen aus der Perspektive des gesamten Planeten und der Schäden, die wir der Erde zugefügt haben, nicht mögen. Vielleicht begrüßen manche Menschen aus diesem Grund Pandemien oder akzeptieren sie zumindest. Wenn wir uns jedoch näher an das individuelle Leiden heranwagen, haben wir vielleicht Schwierigkeiten, diese Sichtweise beizubehalten: Der Leiter einer Krankenhausabteilung in der Lombardei brach fast zusammen, als er in einem Fernsehinterview über die Todesfälle sprach, die er jeden Tag unerbittlich miterlebt.
Auf den Paketen aus China, die Schutzmasken enthielten, stand: „Wir sind Wellen desselben Meeres, Blätter desselben Baumes, Blumen desselben Gartens.“ Diese Worte stammen von dem römischen Philosophen Seneca, aber sie könnten auch von Midgley sein. In einem anderen Kontext würden sie sentimental klingen. Jetzt können wir sie für bare Münze nehmen. Wenn es das ist, was wir sind - wenn wir so über uns denken können - was folgt daraus? Wenn die Sperre uns hilft, über die Antwort nachzudenken, haben wir vielleicht etwas gewonnen.
Fiktion
Der Philosoph Markus Gabriel, Professor für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn, kritisiert in seinem Buch "Fiktionen" (2020) einen geradezu religiösen Glauben an die Objektivität der Naturwissenschaften (Virologie als neue Religion).
Zwar sehe es häufig so aus, als würden Naturwissenschaftler einfach nur Daten erheben und damit völlig objektive Fakten generieren. So einfach sei die Sache aber nicht:
„Man präsentiert auch naturwissenschaftliche Fakten immer nur im Kontext von Modellen. Und Modelle funktionieren so ähnlich wie Fiktionen: Wenn ich zum Beispiel Prognosen über die Zukunft mache, über eine zweite Infektionswelle, ist das ja keine Vorhersage, dass sie kommt.“
Schon die Annahmen, die naturwissenschaftlichen Modellen zu Grunde liegen, seien keine objektiven Tatsachen, so Gabriel kürzlich im Interview mit der NZZ: Zum Beispiel beriefen sich Virologen und Epidemiologen bei Aussagen über die Verbreitung von Corona vor allem auf ein Modell, das sich den Globus wie einen absoluten newtonschen Raum vorstelle.
Darin bewegten sich Menschen wie Punkte ständig und berührten einander. „Wer sagt denn, dass sich alle Menschen ständig bewegen? Was ist mit denen, die freiwillig zu Hause bleiben, den Einsamen, den traurigen Alkoholikern?“, so der Philosoph in der NZZ: „Die Vorhersage-Tools, die wir für menschliches Verhalten verwenden, sind inadäquat.“
Krise
Der Begriff Krise bezeichnete ursprünglich den entscheidenden Moment einer Krankheit, den Punkt der Besserung oder der Tragödie. Der Begriff selbst leitet sich von dem griechischen Wort „krisis“ ab, das Entscheidung oder die Wahl einer Möglichkeit gegenüber einer anderen bedeutet. Beide Bedeutungen, Entscheidung und kritischer Punkt, definieren das Wesen unserer gegenwärtigen Situation.
In diesem Zusammenhang kann die Philosophie eine zentrale Rolle spielen. Die Philosophie bietet uns die notwendigen kritischen und diskursiven Instrumente, die uns helfen, die richtigen Fragen zu stellen und den Diskurs über die aktuelle Pandemie zu bewerten. Durch die philosophische Debatte können wir uns fragen, wie es zu dieser Situation gekommen ist und, was noch wichtiger ist, was hinter den Entscheidungen der Verantwortlichen steckt. Durch ethisches Denken und politische Analyse sollten wir die schwierigeren und relevanteren Fragen stellen.
Die eigentliche Aufgabe der Philosophie in diesen schwierigen Zeiten besteht jedoch darin, die unzähligen Debatten wieder auf die Diskussion über den Wert des Lebens zu lenken. Wir müssen den Wert des Lebens wieder als Hauptpriorität auf die nationale und internationale Tagesordnung setzen. Strategien und Maßnahmen, die an verschiedenen Orten von verschiedenen Behörden ergriffen wurden, haben die Prekarität des Wertes des Lebens deutlich gemacht. Die Krise des 19. Jahrhunderts hat gezeigt, dass sich die wirtschaftliche Ungleichheit auch in der ungleichen Wertschätzung der verschiedenen Personengruppen niederschlägt.
Es ist daher die Aufgabe der Philosophie, die relevanten und schwierigen Fragen zu stellen, die sozialen Missstände zu diagnostizieren, die durch die Krise noch deutlicher zutage getreten sind, und die Möglichkeiten zu bewerten, die vor uns liegen. Die heutige Gesellschaft befindet sich an einem kritischen Punkt, und es ist unsere kollektive Pflicht, zu entscheiden, welche mögliche Zukunft wir anstreben wollen.
Demokratie
"Philosophen denken zwar über Ewigkeitsfragen nach, aber sie müssen sich von der Aktualität irritieren und anleiten lassen. Und diese ist so drängend, dass ich gegenwärtig neu über Demokratie und Macht unter den Bedingungen der Pandemie nachdenke. Denn wir erleben etwas Unerhörtes, das die konventionelle politische Vorstellungskraft übersteigt."
"Nicht nur eine einzelne Gesellschaft wirft die Gesetze, die bisher als unumstößlich galten, über den Haufen, etwa die Gesetze des ökonomischen Lebens, die Schulpflicht, die digitale Freiheit oder die Erwartung, in naher Verbindung mit den Älteren zu sein. Sondern weltweit stellen fast alle Gesellschaften ihren Normalmodus auf einen einzigen übergeordneten Zweck um, auf die Eindämmung des Virus. Bisher dachten wir, wir seien in systemische Eigenlogiken eingebunden, die unser Handeln weitgehend determinieren. Aber das gilt so offensichtlich nicht. Wenn das Denken mit dem Staunen beginnt, sollte man hier damit anfangen. Bis vor Kurzem diskutierten wir noch über schwarze Nullen und die demokratische Pflicht, sein Gesicht offen zu zeigen – alles perdu."
"Ich möchte vor einem autoritären Politikverständnis warnen. Der Staat kann (und darf) in einer Demokratie nicht Grundrechte einschränken, als gehörten sie ihm wie sein Eigentum, sondern die politische Gemeinschaft als Ganze beschließt, die Regeln einzuhalten, die sie sich gibt. Die vorübergehende Beschränkung von Grundrechten kann daher ein Akt der demokratischen Freiheit sein, wenn sie öffentlich gut begründet und akzeptiert ist und diese Rechte nicht im Kern beschädigt. Wenn wir verstehen wollen, wie Macht funktioniert, woher sie kommt und wie sie stabilisiert wird, müssen wir fragen, wer im Raum der Rechtfertigungen herrscht, und das heißt: Die gegenwärtige umfassende Umorientierung einer Gesellschaft und der Politik ist nur möglich, weil und wenn die Menschen sie für angebracht und unausweichlich halten. Eine solche Umpolung durch nur einen einzigen rechtfertigenden Grund kann nur dann gelingen, wenn alle das übergeordnete Ziel begreifen, dass eine Gefahr anders nicht abzuwenden ist. Die Menschen müssen also in der Lage sein, diese Rechtfertigung zu übernehmen und sie sich zu eigen machen, wenn auch nicht kritiklos. Denn aufgeklärte – im Unterschied zu ideologischer oder oktroyierter – Macht wird durch geprüfte Überzeugungen generiert. In einer Demokratie können Exekutiven nur innerhalb des Rechts Freiheiten beschränken, und sie tun dies legitim nur mit entsprechender öffentlicher Rechtfertigung. Alles andere ist ein Rückfall in den Absolutismus – wovor man Interpreten dessen, was gerade vor sich geht, ebenso wie handelnde Politiker warnen muss."
Quelle: Rainer Forst über den Virus und die Demokratie "Die Zeit", 27. Juni 2020; Der Philosoph und Leibniz-Preisträger Rainer Forst, 55, lehrt Politische Theorie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und leitet dort das Forschungszentrum Normative Ordnungen. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Toleration, power and the right to justification" (2020).
Notstand
Von verschiedener Seite hört man die Vermutung, dass wir gerade das Ende der Welt erleben – genauer: der Welt der bürgerlichen Demokratie, die auf den Grundrechten, den Parlamenten und der Gewaltenteilung gründet. Diese Demokratie überlässt demnach den Platz einem neuen Despotismus, der hinsichtlich der Allgegenwart seiner Kontrollen und des abrupten Endes jedweder politischer Aktivität schlimmer sein könnte oder dürfte als die totalitären Systeme, die wir bisher kannten. Ich denke, es ist an der Zeit, diese Vermutung sehr ernst zu nehmen.
Die amerikanischen Politologen sprechen vom Security-State, also von einem Staat, in dem aus Sicherheitsgründen (im vorliegenden Fall aus Gründen der öffentlichen Gesundheit, eines Begriffs, der an die berüchtigten «Comités de salut public» – die Wohlfahrtsausschüsse – während des Terrors der Französischen Revolution erinnert) die Freiheitsrechte nach Belieben eingeschränkt werden können.
Unabhängig davon haben die Ärzte und Virologen in der Regierung der Pandemie eine neue Funktion erhalten. Der griechische Begriff «epidemia» (von «demos», Volk als politische Einheit) hat eine unmittelbare politische Bedeutung. «Polemos epidemios» meint bei Homer den Bürgerkrieg. Umso gefährlicher ist es, Ärzten und Wissenschaftern Entscheidungen zu überlassen, die zuletzt ethischer und politischer Natur sind. Die Wissenschafter verfolgen in bester Absicht ihre Räson, die sie mit dem Interesse der Wissenschaft gleichsetzen und in deren Namen sie bereit sind – die Geschichte zeigt es zur Genüge –, jedweden Skrupel moralischer Art beiseitezuwischen.
Im vorliegenden Fall ist das Spektakel besonders bedenklich, weil in Wirklichkeit – und die Medien blenden dies aus – unter den Wissenschaftern gar keine Einigkeit besteht. Einige der renommiertesten unter ihnen – wie Didier Raoult, der wohl wichtigste Infektiologe Frankreichs – haben Meinungen über die Bedeutung der Pandemie und die Wirksamkeit der Isolationsmassnahmen, die vom herrschenden Dogma abweichen. Die Isolationsmassnahmen nannte Raoult in einem Interview jedenfalls einen mittelalterlichen Aberglauben.
Ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass die Wissenschaft zur Religion unserer Zeit geworden sei. Die Analogie mit der Religion muss dabei buchstäblich verstanden werden: Die Theologen erklärten einst, nicht mit Klarheit definieren zu können, was Gott ist, aber in seinem Namen diktierten sie den Menschen Verhaltensregeln und zögerten nicht, die Abtrünnigen zu verbrennen. Die Virologen geben heute zu, nicht genau zu wissen, was ein Virus ist, aber in seinem Namen erheben sie den Anspruch zu entscheiden, wie die Menschen leben sollen.
Quelle: Giorgio Agamben, Der Notstand erlaubt alles, die Ethik hingegen dankt ab. Wohin führt das? Neue Zürcher Zeitung, 5.5.2020
Pragmatismus
Mit dem Ungefähren und Vagen liegt eine oberflächliche Attribuierung der gesellschaftlichen Lebensbereiche vor, wobei das Ungefähre in philosophischer Hinsicht auf einen prekären Wirklichkeitsstatus verweist und einen entscheidenden Lebensnerv existenziell gesättigt berührt: Die Kontingenz. Dass diese elementare Kategorie die vorderste Position von Rortys programmatischen Titel «Kontingenz, Ironie und Solidarität» einnimmt, dürfte mehr als Zufall sein. In Krisenzeiten wie in der gegenwärtigen Corona-Pandemie nimmt der Mensch die Welt als besonders kontingent wahr. Das Virus ist unberechenbar und verkörpert die Kontingenz in Reinkultur bzw. als feindliche und unkontrollierbare Natur. Dies kann Sehnsucht nach klaren Parametern des Wissens wecken, um Orientierung zu schaffen. Es muss aber gleichzeitig ein – pragmatischer – Umgang mit dem Nichtwissen gefunden werden, denn die Erwartungshaltung einer souveränen Perspektive des Überblicks wäre definitiv überspannt. Nur: Was bedeutet pragmatisch in diesem Kontext genau, wenn der Ausdruck nicht vorschnell mit gesundem Menschenverstand verwechselt werden, sondern in Nähe einer ironischen Spannkraft gerückt werden sollte?
Als alltägliche Philosophie oder als Philosophie des Alltäglichen schafft dieses Denken einen einzigartigen Zugang zur Lebenswirklichkeit, als lebendige Wirklichkeit des Menschen verstanden. Und ist viel mehr als gesunder Menschenverstand. Klar ist dies schon viel in Bezug auf die erfragte Normalität. Aber es gilt, den Mehrwert gegenüber jenem Allgemeinplatz zu zeigen, der den Pragmatismus mit den Schlagworten «praktisch», «lösungsorientiert» oder «handlungsfähig» zurechtstutzt: Auf das Pragmatische als utilitaristisch gefärbte Nutzenorientierung. Es spiegelt sich darin zwar akut und aktuell ein berechtigter Imperativ politischen Handelns, um Extrempositionen zu vermeiden und um vor allem einen Modus Vivendi im Sinne gesellschaftlicher Funktionalität zu ermöglichen. Bei dieser Art der Funktionalität besteht jedoch selbst die Gefahr der Instrumentalisierung, um das Programm «Neue Normalität» hochzufahren, wobei dem Wirtschaftsleben eine besondere Bedeutung zukommt.
Bei den epistemologischen Verrückungen und den dadurch verursachten lebensweltlichen Einbruchstellen ist eine Portion gesunder Menschenverstand gewiss nicht fehl am Platz, bekämpft aber eher das Symptom als die Ursache. Im Sinn und Geiste des vorangestellten Epitaphs gilt es deshalb, eine untergründigere Ebene der Ironie zu erschliessen, welche dem gesunden Menschenverstand vielleicht nicht so scharf entgegengesetzt ist, wie es Rortys polemische Zuspitzung suggeriert. Aber die Ironie steht gewiss in einem spezifischen Spannungsverhältnis zum gesunden Menschenverstand, woraus sich eine Grundhaltung des Menschen gegenüber der Welt eröffnet, die eben insofern in einer provisorischen Bestimmung als pragmatisch exponiert werden kann, als sich mithin ein adäquates Mittel im Umgang mit Kontingenz zeigt. Dem Pragmatismus wohnt ein Potenzial zur philosophischen Neuorientierung inne, was sich symptomatisch an einer Kontroverse in der Neuen Zürcher Zeitung zwischen Slavoj Žižek und Giorgio Agamben ablesen lässt, mit Konsequenzen für das private wie politische Leben. Die Debatte geht zwar auf den Frühling zurück, hat aber nichts an Aktualität eingebüsst, da sich die schwelende Wirklichkeit fast schon konstant zwischen neuer Normalität und Ausnahmezustand paradoxal schwebt:
"Dinge, die wir gewöhnlich als Teil unseres Alltags erlebt haben, werden nicht mehr als normal gelten; wir werden gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Wir werden unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – gegenüber unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen. Anders gesagt: Wenn wir Philosophie als Bezeichnung für unsere Grundorientierung im Leben verstehen, werden wir eine echte philosophische Revolution erfahren. Wir werden nach Corona anders über uns denken als zuvor. Nur wie?" (Žižek 2020)
Dabei gilt es, unterschiedliche Wissenskulturen und Weltzugänge nicht nur auszuhalten, sondern auch auszubalancieren. Dass dieser Balanceakt an eine Zumutung grenzen kann, aber zumutbar ist, davon zeugt auch Nietzsches Lektion im Umgang mit Wissenschaft – aus einer nun neopragmatisch postmodernen Perspektive verstanden, so wie Rorty Nietzsche vergegenwärtigt, um mit der Kunst ein spannungsvolles Gegengewicht zur Wissenschaft zu erzeugen:
"Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.' (Nietzsche 1988, 101)
In solch einem Kreis zu agieren, bedeutet in einem existenziellen und pluralistischen Sinne, sich zu engagieren und sich im Netz kontingenter Beziehungen zu verstricken. Der Verstrickung haftet indes nicht notwendig etwas Tragisches an. Sie zeugt bloss von einem Souveränitätsverlust allzu szientistisch geprägter Wissenschaft, wodurch ein kulturelles Grundverständnis gewonnen werden, das auf Kunst angewiesen ist:
"Eine ästhetisierte Kultur wäre eine, die nicht darauf beharrt, daß wir die echte Wand hinter den gemalten Wänden finden, die echten Prüfsteine der Wahrheit im Gegensatz zu Prüfsteinen, die nur kulturelle Artefakte sind. Sie wäre eine Kultur, die gerade dadurch, daß sie zu schätzen weiß, daß alle Prüfsteine solche Artefakte sind, sich die Erschaffung immer vielfältigerer und vielfarbigerer Artefakte zum Ziel setzte." (Rorty 1992, 99)
Gegenwärtig lässt sich die Tendenz beobachten, dass die Wissenschaften als Prüfstein der Wahrheit gelten, was sich in der Ausbildung von Task Forces zeigt. Die Politik stützt sich in der besonderen Lage neuer Normalität auf die wissenschaftliche Expertise, was an und für sich positiv zu bewerten ist, da sich das Image des Elfenbeinturms zugunsten gesellschaftlicher Relevanz verschiebt. Das Problematische besteht jedoch in jener Verinnerlichung unterschiedlicher Wertigkeiten, welche die echten Prüfsteine von nur kulturellen Erzeugnissen unterscheidet.
Quelle: Richard Blättel: Der Pragmatismus ist ein Humanismus. Ein Orientierungsversuch in der Corona-Krise